«La Fracture» – Die Notaufnahme als Spiegel der Gesellschaft
Catherine Corsinis Film konnte man schon hier und da bei Französischen Filmtagen oder -wochen sehen
«La fracture» spielt in einer Notaufnahme in Paris. Es geht um ein lesbisches Paar kurz vor der Trennung, um einen verletzten LKW-Fahrer und um die Gelbwesten-Proteste. Wir sprachen mit der Regisseurin Catherine Corsini über ihren Film, der in Cannes mit der Queer Palm ausgezeichnet wurde.
Catherine, dein Film «La fracture» spielt in einer Nacht in einer Notaufnahme, wo viele Themen und Geschichten zusammenkommen. Es geht um Polizeibrutalität und den katastrophalen Zustand des französischen Gesundheitswesens. Womit nahm diese Geschichte ihren Anfang? Im Grunde schlage ich mit «La fracture» den Bogen zurück zu meinem ersten grossen Erfolg «La nouvelle Ève» Ende der 90er-Jahre. Das war damals eine Komödie über politisches Engagement mit Haltung – daran wollte ich anknüpfen. Aber auch mein eigenes Leben stand Pate, denn die von Valeria Bruni-Tedeschi gespielte Raf ist durchaus so etwas wie mein Alter Ego. Ich bin tatsächlich auch auf der Strasse gestürzt, als ich mit meiner Lebensgefährtin unterwegs war, und musste eine Nacht in der Notaufnahme verbringen. Es gibt wenige andere Orte, wo man so viele so verschiedene Menschen trifft, die sich alle mehr oder weniger auf Augenhöhe begegnen, weil sie alle im gleichen Boot sitzen und darauf warten, vom Pflegepersonal versorgt zu werden. Kein Wunder, gibt es Notaufnahmen immer wieder in Film und Fernsehen zu sehen. Ich war sehr fasziniert – und habe mich zu einer Geschichte inspirieren lassen.
Durch die Corona-Pandemie wurde zuletzt mal wieder ein wenig genauer hingesehen, wie es eigentlich um die Krankenhäuser bestellt ist . . . Fürchterlich ist es um sie bestellt, und das wird durch die Pandemie nicht besser geworden sein. Kim wird in «La fracture» ja von einer echten Pflegerin gespielt, Aïssatou Diallo Sagna. Sie hat uns viel über die Zustände berichtet und meinte, dass die schon vor Corona eine Katastrophe waren. Viele Leute glauben ja, dass wir in Frankreich ein tolles Gesundheitssystem hätten, aber ehrlich gesagt ist das schon lange kaputtgespart worden. Und so richtig interessiert sich niemand dafür. Im ersten Lockdown standen wir alle noch auf den Balkons und haben für das medizinische Personal geklatscht, im zweiten juckte das schon niemanden mehr. Das alleine spricht doch Bände. Und die Bonuszahlungen der Regierung, die es für Krankenhausangestellte geben sollte, kamen am Ende nur für die, die für lebenserhaltende Massnahmen zuständig waren. Es ist alles sehr beschämend.
Steht denn die Notaufnahme mit all diesen unterschiedlichen Figuren aus den verschiedensten Milieus in deinem Film quasi als Metapher für die französische Gesellschaft? Das ist sicherlich keine verkehrte Einschätzung. Auch unsere Gesellschaft ist erschöpft, stösst an ihre Grenzen und steht vor dem Kollaps. Aber vor allem ging es mir natürlich einfach um ein Setting, an dem eine gewisse Anspannung spürbar ist und sich die Lage zusehends zuspitzt. Und einen Ort, an dem es gelingen kann, dass Menschen mit ihren Vorurteilen konfrontiert werden – und womöglich zum Umdenken gebracht werden.
Viele Filmschaffende blicken lieber mit ein wenig zeitlicher Distanz auf gesellschaftliche Probleme. «La fracture» dagegen ist brandaktuell und erzählt von Dingen, die uns im Hier und Jetzt umtreiben. Warum war dir diese Unmittelbarkeit so wichtig? Historische Distanz hatte ich in den letzten Filmen genug. «Un amour impossible» spielte in den Fünfzigern, «La belle saison» in den Siebzigern. Dieses Mal spürte ich einfach den Drang, wirklich ins Feuer zu springen, um es mal so auszudrücken. Ich wollte nah an unsere aktuelle Realität und an die Probleme ran, die gerade drängend sind. Filmemacher*innen wird ja oft vorgeworfen, dass sie den Bezug verloren haben zu den Sorgen der «echten Leute» – und das war dieses Mal das Letzte, was ich mir anhören wollte. Das hat durchaus Menschen verschreckt; es gab einige in der Branche, die nicht an mein Drehbuch geglaubt haben. Nur meine Lebensgefährtin, die ja auch meine Produzentin ist, hatte vollstes Vertrauen in die Geschichte und hat alles dafür getan, dass ich den Film Wirklichkeit werden lassen konnte.
Wovon waren andere denn abgeschreckt? Von drängenden gesellschaftlichen Problemen und Debatten zu erzählen, ist natürlich immer ein Minenfeld – und das schreckt nicht zuletzt Geldgeber ab. Mir war immer klar, dass ich mit «La fracture» ein Risiko eingehen und es Leute geben würde, die sich auf den Schlips getreten fühlen oder mich kritisieren würden. Was dann ja auch prompt zur Weltpremiere beim Festival in Cannes der Fall war. Da gab es Vorwürfe aus allen möglichen Ecken, von Gegner*innen der Gelbwesten-Bewegung genauso wie von einigen dieser Aktivist*innen selbst. Das habe ich in Kauf genommen; ich war mir immer sicher, dass meine Ehrlichkeit und mein Humor mich dagegen einigermassen gut wappnen. Ausserdem stärkten mir tatsächlich die Pfleger*innen den Rücken, die sich und ihren Alltag im Film korrekt repräsentiert sehen. Aber so oder so hätte ich mich nicht beirren lassen. Das Wichtigste für uns alle sollte dieser Tage sein, dass wir keine Angst haben sollten, unsere Meinung zu sagen und auf Missstände hinzuweisen. Wenn wir immer nur alles schweigend hinnehmen, um nicht anzuecken, werden wir nichts verändern.
«Frankreich ist ein Land der Rebellion.»
Wie intensiv hast du dich eigentlich mit der Gelbwesten-Bewegung auseinandergesetzt? Ich habe alle Bücher und Reportagen gelesen, die ich finden konnte. Und natürlich habe ich auch mit vielen Menschen gesprochen, die sich bei den Gelbwesten engagieren. Einige der Dinge, die sie zu mir gesagt haben, habe ich – mit ihrem Einverständnis– genau so als Dialoge in mein Drehbuch übernommen. Das ist ohne Frage eine seltsame Bewegung, nicht zuletzt weil sie ja eigentlich keine Führungspersonen hat. Oder zumindest nicht mehr. Ganz unabhängig von konkreten Inhalten finde ich es erst einmal klasse, dass es die Gelbwesten gibt. Frankreich ist ein Land der Rebellion, wir haben eine lange Tradition des Aufbegehrens, und ich finde es enorm wichtig, auf die Strasse zu gehen und sich Gehör zu verschaffen. Das Problem ist natürlich, dass diesen Menschen letztlich kaum jemand zuhört. Die einzigen, die das im Moment tun, sind die Rechten, was nicht nur bedauerlich ist, sondern dann auch wieder Konsequenzen hat.
Kurz noch einmal zum Pflegepersonal und der Figur der Kim in «La fracture». Sie ist die eigentliche Heldin des Films, oder? Genau so würde ich das sagen. Im Grunde ist der ganze Film Menschen wie ihr gewidmet. Sie sind echte Held*innen, und doch sind sie letztlich machtlos und werden eigentlich links liegen gelassen. Die meisten von ihnen machen ihren Job mit Leidenschaft, sie wollen wirklich anderen Menschen helfen. Aber sie verdienen damit kaum genug zum Leben und müssen unter Bedingungen schuften, die echte Pflege kaum noch möglich macht.
Haben Sie deswegen auch die Entscheidung gefällt, die Rolle mit einer realen Pflegerin zu besetzen? Das war nicht der ursprüngliche Plan. Zunächst wollte ich die Rolle ganz herkömmlich mit einer Schauspielerin besetzen. Aber während der Vorbereitung und meinen Gesprächen im Krankenhaus lernte ich Aïssatou kennen und merkte, dass sie alles hat, was diese Figur für mich ausmachte. Und letztlich ist es natürlich nun irgendwie sehr stimmig, dass diesem Film, den ich nicht zuletzt als Hommage an diesen Berufsstand gedreht, habe, durch eine echte Pflegerin besondere Glaubwürdigkeit verliehen wird.
«La Fracture» konnte man schon hier und da bei Französischen Filmtagen oder -wochen sehen. In der Romandie läuft der Film in einigen ausgewählten Kinos.
Catherine Corsini
Sie mag nicht so berühmt sein wie François Ozon, doch auch Catherine Corsini, geboren 1965 in Dreux, gehört zu den wichtigsten Vertreter*innen des queeren Kinos in Frankreich. Mit 18 Jahren zog sie nach Paris, um Schauspielerin zu werden, konzentrierte sich in den Achtzigern aber bald aufs Schreiben und Inszenieren. 1987 brachte sie mit «Poker» ihren ersten Spielfilm in die Kinos. Im Laufe der Jahre drehte sie – für die Leinwand genauso wie für den Bildschirm – mit Schauspielerinnen wie Karin Viard, Jane Birkin, Emmanuelle Béart und Kristin Scott-Thomas. Zu ihren meistbeachteten Filmen gehört «La Belle Saison», eine autobiografisch angehauchte lesbische Liebesgeschichte mit Cécile de France in der Hauptrolle.
Mit «La fracture» war Corsini, die seit vielen Jahren mit der Produzentin Elisabeth Perez liiert ist, 2021 zum zweiten Mal zu Gast im Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes. Dort wurde der Film mit der Queer Palm, dem inoffiziellen LGBTIQ-Preis des Festivals, ausgezeichnet.
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