Heinrich oder Heinrich? Darum geht der Rio-Reiser-Platz in Ordnung

Über eine «tapfere Tunte», die vor knapp 300 Jahren geboren wurde

Rio Reiser (Fotos: Kriss Rudolph & Erwin Elsner/dpa)
Rio Reiser (Fotos: Kriss Rudolph & Erwin Elsner/dpa)

Hat Rio Reiser mit der Umbenennung des Heinrichplatzes in Berlin einem «bekennenden Homosexuellen» den Platz streitig gemacht? Thomas Ott von der Stuttgarter Schwulenbewegung Erlkönig in seinem Gastbeitrag* über einen Rechenfehler und «widerlich fleischige Schultern».

«Wütend macht, dass ausgerechnet der Platz mit dem Namen eines bekennenden Homosexuellen aus dem 17. und 18. Jahrhundert für die angebliche Rehabilitierung eines Schwulen des 20. Jahrhunderts gewählt wurde.» So kommentierte der «geschichtsforschende» Verein «Historische Spandauer Stadtgarde» in einem offenen Brief vom 7. September 2022 die Umbenennung des Berliner Heinrichplatz in Rio-Reiser-Platz. «Eine Gefühlspalette, die von Überraschung und Unverständnis über Fremdschämen und Verzweiflung bis Verbitterung und Wut» reichte, habe diese Umbenennung ausgelöst.

Nun war Rio Reiser zwar bekanntlich schwul, aber der Heinrichplatz heisst seit dem 21. August 2022 nicht «Rio-Reiser-Platz», weil Rio schwul war (MANNSCHAFT berichtete). Denn schwul war Rio schon immer, aber diese Tatsache war mit der Leuchtturm- und Pionierfunktion, die Ton Steine Scherben und Rio für die linke/alternative/anarchistische politische Subkultur der BRD bedeuteten, sehr wenig kompatibel. Dessen öffentliches Coming-out erst ca. 1985 kam also mindestens zehn Jahre zu spät, wenn wir mal streng sein wollen.

Aber es geht hier nicht um Rio, sondern um Heinrich, den «bekennenden Homosexuellen aus dem 17. und 18. Jahrhundert». Gab es den? Ja: Den gab es: Gemeint war von der Spandauer Stadtgarde Prinz Friedrich Heinrich Ludwig von Preussen (1726-1802).

Dummerweise hat der geschichtsforschende Verein nicht nur die Jahrhunderte ein wenig durcheinander gebracht (das 17. Jahrhundert endete im Jahr 1700!), sondern auch die Heinriche: Der jetzt nach Rio Reiser benannte Platz hiess seit 1849 Heinrichplatz, aber nicht nach dem schwulen Heinrich, sondern nach Prinz Friedrich Heinrich Karl von Preussen (1781-1846). Der war weder homosexuell noch ansonsten besonders bedeutend. Es ist nicht ganz unsympathisch, dass er die letzten 20 Jahre seines Lebens in Rom und dort fast ausschliesslich im Bett verbracht hat, aber der Heinrichplatz» in Berlin hiess bis vor kurzem nach ihm, und nicht nach dem «schwulen Heinrich»!

Jetzt sind wir endlich bei ihm angekommen: Friedrich Heinrich Ludwig von Preussen (1726-1802), dem jüngsten Sohn (das 13. von 14 Kindern) des «Soldatenkönigs» Friedrich Wilhelm von Preussen. Geboren am 18. Januar 1726, ziemlich exakt 14 Jahre nach seinem ältesten Bruder, der als «Friedrich der Grosse» bzw. «Der Alte Fritz» ein ganz kleines bisschen bekannter ist als er. Dass der Bruder, Friedrich II., sexuell Männer Frauen vorgezogen hat, ist mittlerweile kein grosses Geheimnis mehr. Da streiten sich die Historiker darüber, ob er es «ausgelebt» habe oder nur «vorgetäuscht» wegen seiner Impotenz, oder ob die «Gerüchte» einfach nur in «denunziatorischer Absicht» erfolgt seien, es liesse sich ja auch «heterosexuelles Empfinden» nachweisen. Ziemlich klar ist Folgendes: Heinrich, vom dem wir heute reden, hat weder die traumatischen Erfahrungen seines älteren Bruders erlebt (Hinrichtung des Jugendfreundes und wahrscheinlich Liebhabers Hans Hermann von Katte u.a.), noch war er als König so dezidert im Blickwinkel der öffentlichen Aufmerksamkeit.

Der «schöne Marwitz» und die Eifersucht Ebenso klar ist: Auch Heinrich liebte Männer und war offensichtlich wenig darum besorgt, dass das jemand stören könnte. Die Zahl seiner Liebhaber war gross, und Heinrich verheimlichte seine Affären nicht, war allenfalls bemüht um ein gewisses Mass an Diskretion. Nicht immer gelang dies erfolgreich: Berühmt war insbesondere die Eifersucht, mit der der ältere Bruder Friedrich auf Heinrichs offensichtlich reges Liebesleben reagierte. 1746 (Heinrich ist 20, Friedrich 34) steigert sich diese Eifersucht um den «schönen Marwitz» (mit dem Heinrich offensichtlich etwas hat, Friedrich aber etwas haben will) zu wundervoll drastischen Briefen, in denen davon die Rede ist, eben dieser Marwitz habe ohnehin die Syphilis und im übrigen «widerlich fleischige Schultern» Tuntenstreit gab es schon, bevor es Schwule gab!

Heinrich war ohne Wenn und Aber schwul. Eine tapfere Tunte.

Die Historikerin Eva Ziebura, die 2004 eine (leider längst wieder vergriffenene) Biographie über Heinrich veröffentlicht hat, kommt zu dem umwerfend formulierten Schluss: «Bei Heinrich jedenfalls ist der Fall ganz klar und auch niemals ernsthaft bestritten worden: Er war ohne Wenn und Aber schwul. Eine tapfere Tunte».

Das «tapfer» bezieht sich nicht zuletzt darauf, dass Friedrich Heinrich Ludwig von Preussen als einer der genialsten militärischen Strategen seiner Zeit galt. Er hat für seinen «Grossen“ Bruder und für Preussen mehr Schlachten gewonnen als jeder andere, und auch als Feldherr war er «anders als die anderen“: Heinrich war der Meinung, es gäbe auch im Krieg keine andere Maxime, als den Verlust an Menschenleben auf beiden Seiten (!) so gering wie irgend möglich zu halten. Seine Lieblingsidee war, eine Schlacht ohne einen einzigen Schuss zu gewinnen, indem er seine Truppen strategisch so agieren liess, dass vor Beginn der eigentlichen Kampfhandlungen klar war, wer die Sache gewinnen würde. Heinrich wurde für diese vollkommen ausserhalb der gängigen Muster angesiedelten Überzeugungen zuerst für verrückt erklärt, dann aber zunehmend bewundert, weil seine defensive Taktik ein uns andere Mal erfolgreich war. Das zum Thema «tapfere Tunte».

Mehr Freude als seine militärischen Engagements bereitete Heinrich allerdings, Schloss Rheinsberg, das ihm sein eifersüchtiger älterer Bruder geschenkt hatte, zu einem Zentrum für Musik, Theater und andere Künste auszubauen. Mit heutigem Vokabular könnte man sagen: Rheinsberg wurde ein «Hotspot für queere Kulturschaffende». Und wenn Heinrich danach war – und das war wohl öfter der Fall – dann spielte er bei den Theateraufführungen schon mal selbst mit, und zwar bevorzugt die weibliche Hauptrolle.

Im Tuntenstreit um den «schönen Marwitz» war Heinrichs Antwort an den eifensüchtigen älteren Bruder kurz: «Ich habe sicher den Spass, den ich mir erhoffe!»

Fazit: Es wäre wirklich irgendwie schade, wenn Rio Reiser diesem Heinrich seinen Heinrichplatz weggenommen hätte.

*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar zu einem aktuellen LGBTIQ-Thema. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

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