Heimatserie «Neumatt»: Die Rückkehr des verlorenen schwulen Sohns

Bei Netflix startete im Mai die Schweizer Serie mit Julian Koechlin und Benito Bause als Liebespaar

Julian Koechlin (Mitte) in «Neumatt» (Foto: Netflix)
Julian Koechlin (Mitte) in «Neumatt» (Foto: Netflix)

Natürlich bekommt eine Schweizer LGBTIQ-Serie mehr Aufmerksamkeit, wenn sie in 30 Sprachen übersetzt bei Netflix rauskommt, als wenn SRF1 sie ausstrahlt. Und so sorgt «Neumatt» plötzlich für internationalen Wirbel, seit die acht Folgen von Staffel 1 im Mai beim Streamingdienst starteten.

Es geht um den schwulen Züricher Consultant Michi Wyss, der eigentlich ein Bauernsohn aus der Neumatt ist. Zwei vollkommen getrennte Welten werden gezeigt. Und die Probleme, sich zwischen beiden frei zu bewegen.

Denn eine offene Beziehung mit seinem aus Hamburg kommenden Kollegen Joel Bachmann (gespielt von Benito Bause aus «All You Need») kann Michi im Büro nicht führen. Das tut man scheinbar unter Consultants nicht. Und schwul auf dem Bauernhof seiner Familie und im Dorf, das ist auch problembeladen. Egal wie emanzipiert und «out & proud» Michi in der Grossstadt ist.

In Gang gesetzt wird diese «Heimat»-Saga, als Michis Vater Selbstmord begeht – und die Familie vor der Frage steht, was sie nun mit dem grossen Hof und all den Kühen machen soll.

Alle kämpfen mit Geheimnissen Michi kehrt zur Beerdigung nachhause zurück, Freund Joel im Schlepptau, und trifft auf den Rest seiner Familie: Seinen geistig beeinträchtigten jüngeren Bruder Lorenz («Lolo» genannt) und seine taffe Schwester Sarah, seine Mutter Katharina und die harsche Grossmutter Trudi. Die alle mit ihren eigenen Geheimnissen zu kämpfen haben. (MANNSCHAFT berichtete über zwei schwule Bauern in der Schweiz, die seit Jahren ein Paar sind und gemeinsam einen Hof führen.)

Erste Liebesnacht auf dem Bauernhof: Benito Bause (r.) und Julian Koechlin in «Neumatt» (Foto: Netflix)
Erste Liebesnacht auf dem Bauernhof: Benito Bause (r.) und Julian Koechlin in «Neumatt» (Foto: Netflix)

Die Schwester hat sich vom Bauernleben zurückgezogen und betreibt ein Fitnessstudio, steckt aber in enormen Finanzproblemen. Da kommt das dubiose Angebot der Gemeinderätin gerade richtig, den Hof zu verkaufen, alles platt zu machen, um ein riesiges Verteilzentrum zu errichten. Drei Millionen Franken würde das bringen.

Lolo ist entsetzt, weil er das Bauernleben liebt. Und er schafft es, seinen auf die Rettung von insolventen Unternehmen spezialisierten Bruder zu überreden, dem Hof mit allen Schulden und Problemen eine Chance zu geben. Kollege Joel nennt das eine «Kamikaze»-Aktion.

Der Veganer aus Hamburg spricht kein Schwyzerdütsch  Aus LGBTIQ-Perspektive ist besonders interessant, wie Michi sich zurück in der Neumatt behauptet zwischen all den anderen Bauern und Leuten, die er seit seiner Kindheit kennt und die ihn für einen Aussenseiter halten – weil er nach Zürich gegangen ist. Und der nun mit einem «Kollegen» zurückkommt, der nicht mal Schwyzerdütsch spricht. Und Veganer ist, was Grossmutter Trudi mächtig irritiert, als er ihr Essen nicht will.

Jérôme Humm als Lorenz Wyss konfroniert seinen Bruder in «Neumatt» (Foto: Netflix)
Jérôme Humm als Lorenz Wyss konfroniert seinen Bruder in «Neumatt» (Foto: Netflix)

Und dann läuft Michi in der Neumatt auch noch der Mann über den Weg, mit dem sein Vater ihn einst als Teenager im Heu entdeckt hatte. Er ist jetzt Tierarzt und mit einer Frau verheiratet. Und will vom Schwulsein nichts mehr wissen, obwohl klar ist, dass seine Ehe nur Fassade ist.

Während Michi in Zürich versucht, ein kompliziertes Arbeitsprojekt zu bewältigen mit Joel, nimmt er diesen mit nach Neumatt um ihn seiner Familie richtig vorzustellen. Aber als was genau? (Fragt Joel.) Michi muss sich entscheiden, wie ehrlich und offen er sein will, wenn er wieder Teile seines Lebens auf dem Dorf verbringen will. Das führt zu mehreren bemerkenswerten Coming-out-Szenen mit den verschiedenen Familienangehörigen. Bemerkenswert, weil Lolo die Homosexualität seines Bruders vollkommen gleichgültig ist, er will nur wissen, ob es was «Ernstes» ist. Während Mutter Katharina ihm vorwirft, sich nicht genug «bemüht» zu haben – heterosexuell zu werden. (MANNSCHAFT berichtete darüber, dass der Kanton Bern «Konversionstherapien» verbieten will.)

Bessere Sexszenen als bei der ARD Obwohl das Ganze ein Familiendrama ist, mit einer ganzen «Riege von Figuren wie aus dem Musterkatalog» (schreibt das Redaktionsnetzwerk Deutschland), steht im Zentrum der Basler Schauspieler Julian Koechlin als Bauernsohn Michael. Er schafft es, die Zerrissenheit seiner Figur perfekt darzustellen und wirkt «real» – also nicht wie ein geleckter Serienschönling, sondern jemand mit Mut, auch mal komplett «daneben» vor die Kamera zu treten. Und Benito Bause an seiner Seite sieht auch deutlich weniger nach «Abziehbild» aus, als in der ARD-Serie «All You Need». Er darf hier Ecken und Kanten zeigen. Und hat definitiv die besseren Sexszenen als bei der ARD!

Michi (r.) und Joel probieren gemeinsam das Landleben aus in «Neumatt» (Foto: Netflix)
Michi (r.) und Joel probieren gemeinsam das Landleben aus in «Neumatt» (Foto: Netflix)

«In der dritten von sechs Episoden platzt eine Wahrheit wie eine Bombe ins Dorf», schreibt RND, «und ab dann nimmt die Serie über Tradition und Aufbruch Tempo auf, um auch die zögerlichen Anhänger des Hochgeschwindigkeitsfernsehens mitzunehmen».

Die Serie wurde im September 2021 beim Zurich Film Festival uraufgeführt und dann bei Play Suisse als Stream veröffentlicht. Die reguläre Ausstrahlung im Schweizer Fernsehen auf SRF1 startete einen Tag später.

Im Writers‘ Room entwickelt Gedreht wurde von August bis Dezember 2020 in der Stadt Zürich und im Zürcher Oberland. Die Drehbücher wurden, basierend auf einer Idee von Petra Volpe («Die Göttliche Ordnung»), unter der Leitung der Showrunnerin Marianne Wendt («Eden», «Der Irland-Krimi») im Writers‘ Room mit den Autoren Christian Schiller, Dominik Locher, Ruth Rehmet und Piet Baumgartner entwickelt.

Die SRF-Serie «Neumatt» (Foto: Netflix)
Die SRF-Serie «Neumatt» (Foto: Netflix)

Die deutsche Synchronfassung ihrer Figuren haben Koechlin und Sophie Hutter als Sarah selbst eingesprochen, es lohnt allerdings die Originalfassung bei Netflix zu schauen (für alle, die kein Schwyzerdütsch können, gibt’s Untertitel), weil das der «Heimatgeschichte» eine ganz andere Glaubwürdigkeit gibt. (MANNSCHAFT berichtete über das neue Regenbogenhaus in Zürich und darüber, dass viele Queers ausblenden, dass Diskriminierung in der Schweiz immer noch existiert.)

Staffel 2 ist in Arbeit Derzeit wird Staffel 2 gedreht, zu der auf Wikipedia bereits ausführliche Informationen zu finden sind. Da heisst es: «Michi hat sich gegen ein Leben in Hamburg und für die Neumatt entschieden, jedoch ist mittlerweile viel Porzellan zerdeppert und alte sowie neue Wunden klaffen auf. Die Bauern im Dorf meiden ihn, seine Jugendliebe Döme will nicht zu ihm stehen und auf dem Hof fehlt eine offizielle Betriebsleitung. Um den Hof zu retten, bietet sich Michi als Consultant bei einem Lebensmittelgrossisten an und verspricht den Bauern einen Direktdeal für ihre Produkte.»

Einen Starttermin für Staffel 2 gibt’s noch nicht. Was mit der Figur des Joel bzw. mit Benito Bause in Staffel 2 passiert, bleibt abzuwarten.

Auf alle Fälle ist «Neumatt» bei Netflix eine interessante Ergänzung zu «God’s Own Country», wo geschildert wird, wie eine schwule Beziehung im ländlichen Nordengland inzwischen von zwei Bauern gelebt werden kann und die Familie drumherum damit keine Probleme hat (MANNSCHAFT berichtete). Während dort Josh O’Connor als Johnny und Alec Secăreanu als rumänischer Wanderarbeiter Gheorghe ihr bewegendes Happyend erleben, läuft es in «Neumatt» nicht so reibungslos mit der Paarbildung und dem Glücklichsein. Vermutlich, weil im Serienformat mehr Konfliktstoff nötig ist, um jede Folge mit Drama zu füllen.

Koechlin und dem Schauspielteam um ihn herum zuzuschauen ist allerdings spannend genug, besonders für diejenigen, die nicht nur auf «Hochgeschwindigkeitsfernsehen» fixiert sind. Sondern Freude an Differenzierung und Details haben. Denn die sind hier grossartig!

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