Hauptmanns «Einsame Menschen» mit 25-minütiger schwuler Sexszene

Im Deutschen Theater Berlin kann man ein LGBTIQ-Update von Gerhart Hauptmanns 1890er-Jahre Drama sehen

«Einsame Menschen» am Deutschen Theater Berlin (Foto: Arno Declair)
«Einsame Menschen» am Deutschen Theater Berlin (Foto: Arno Declair)

Der deutsche Dramatiker und Literaturnobelträger Gerhart Hauptmann (1862-1946) ist sicher für vieles bekannt – aber nicht als Autor von queeren Klassikern. Das hat sich jetzt mit einer Neuproduktion seines frühen Dramas «Einsame Menschen» am Deutschen Theater Berlin geändert.

Die meisten werden sich an Hauptmann als Pflichtlektüre aus der Schule erinnern. Sein Sozialdrama «Die Weber» von 1892 ist ein Meilenstein der deutschen Theatergeschichte. Auch das Sozialdrama «Vor Sonnenaufgang» (1889) und die Berliner Tragikomödie «Die Ratten» (1911). Ein Jahr später gab‘s der Literaturnobelpreis für einen der bedeutendsten Vertreter des Naturalismus.

Sein Stück «Einsame Menschen» schrieb er schon um 1890 (das Programmheft des DT schreibt «1870»), darin geht es um einen jungen Intellektuellen namens Johannes Vockerat, der mit seiner Ehefrau und dem frisch geborenen Kind an den Müggelsee bei Berlin zieht, um sich auf dem Land dem Schreiben und Denken zu widmen. Das Problem: Mit seiner liebenden, aber eher einfältigen Ehefrau kann er sich nicht über die Dinge austauschen, die ihn intellektuell beschäftigen. Er fühlt sich in einem Korsett von Konventionen gefangen was Beruf, Karriere und Familie angeht. Von seiner Mutter – die in den ersten Wochen nach der Geburt des Sohnes im Haus hilft – und von seiner Ehefrau wird Johannes immer wieder ermahnt, doch endlich «was Vernünftiges» zu machen, statt als Idealist zu leben und von einer anderen freieren Welt zu träumen.

Porträt von Gerhart Hauptmann, dass 1913 in Schweden veröffentlicht wurde anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises (Foto: Wiki Commons)
Porträt von Gerhart Hauptmann, dass 1913 in Schweden veröffentlicht wurde anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises (Foto: Wiki Commons)

Im Original tritt an dieser Stelle eine freigeistige Malerin aus der Schweiz ins Geschehen und verdreht «Hannes» den Kopf. Mit ihr kann er über all das sprechen, was ihm am Herzen liegt, sie ist nicht Teil der erdrückenden Gesellschaftskonventionen, die ihn umgeben, mit ihr erlebt er eine alternative Beziehung. Die von seiner Umwelt als Skandal angesehen wird und schliesslich dazu führt, dass er sie aufgibt bzw. aufgeben muss. Aus Verzweiflung geht Johannes ins Wasser und ertränkt sich. Denn er will nicht zurückkehren in die geregelte Welt, wie sie vorher war.

Laptops, Handy und Cappuccino Die Regisseurin Daniela Löffner hat an den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin unlängst eine Neufassung von «Einsame Menschen» präsentiert, bei der die Rolle der Schweizer Malerin mit einem jungen Mann namens Arno ersetzt wurde. Dieser ist jetzt ein 26-jähriger Professor für feministische Literatur an der Stanford University in den USA und auf dem Weg zu einem Forschungssemester in Zürich. Wie im Original wird diese durchreisende Figur zu den Vockerats eingeladen, mit ihnen den Sommer am Müggelsee zu verbringen. Ein Aufenthalt, der Wochen dauert und in dessen Verlauf sich Johannes-der-verheiratete-Familienvater (gespielt von Marcel Kohler) in den coolen Literaturwissenschaftler aus den USA (kongenial dargestellt von Enno Trebs) verliebt. Das Ganze spielt nicht mehr im 19. Jahrhundert, sondern im Hier und Jetzt, mit Laptops, Handy und Cappuccino.

Die heutige Familie in Hauptmanns «Einsame Menschen»: (v.l.n.r.) Judith Hofmann als Mutter Vockerat, Franziska Machens als befreundete Malerin, Enno Trebs als durchreisender Gast Arno, Linn Reusse als Ehefrau Käthe und Marcel Kohler als ihr Mann Johannes (Foto: Arno Declair)
Die heutige Familie in Hauptmanns «Einsame Menschen»: (v.l.n.r.) Judith Hofmann als Mutter Vockerat, Franziska Machens als befreundete Malerin, Enno Trebs als durchreisender Gast Arno, Linn Reusse als Ehefrau Käthe und Marcel Kohler als ihr Mann Johannes (Foto: Arno Declair)

In der beibehaltenen Grundkonstellation von Hauptmann erlebt man, wie eine durch und durch heteronormative Familie aufgebrochen wird und wie aus einer anfänglich geistigen Nähe zwischen zwei Menschen im Laufe von fünf Akten eine zunehmende körperliche Anziehung wird. Die sich im Moment der «Katastrophe» in einer 25-minütigen Sexszene auf offener Bühne – mit Regen und bei völliger Nacktheit – entlädt. Der amerikanische Theaterwissenschaftler David Savran tweetete begeistert:

Es ist sicher ein Novum in der deutschen Theatergeschichte, eine so explizite und so lange und so detailliert durchchoreografierte Sexszene auf der Bühne zu sehen. Schonungslos und scheinbar endlos. Bemerkenswert ist auch, dass in diesem Update die Tatsache nicht skandaliert wird, dass es sich um eine homosexuelle Beziehung handelt, die die Ehe von Johannes und Käthe Vockerat sprengt, sondern es darum geht, dass die Beziehung überhaupt kaputt gemacht wird und der Familienvater schlussendlich Käthe und den gemeinsamen Sohn allein zurücklässt. Weil eine offene Beziehung zu Dritt von den beteiligten Parteien abgelehnt wird, gleichwohl Johannes das Option vorschlägt.

Tradition als sichere Bank für junge Menschen «Allerdings muss man zugestehen, dass junge Menschen heutzutage viel bewusster Konzepte wie Monogamie und Treue als Bindemittel wählen», sagt Regisseurin Löffner in einem Interview im Programmheft. Auf die Frage, warum es vielen nach wie vor so schwerfalle, sich von traditionellen Denk- und Lebensmustern zu lösen, sagt sie: «Weil wir die Kinder unserer Eltern sind, die wiederum die Verhaltensweisen ihrer Eltern in sich tragen. Weil wir oft erst sehr spät begreifen, dass wir niemandem etwas schuldig sind und uns niemand etwas schuldet. Tradition ist eine sichere Bank.»

Die Sexszene zwischen Johannes und Arno in «Einsame Menschen» dauert bemerkenswerte 25 Minuten (Foto: Arno Declair)
Die Sexszene zwischen Johannes und Arno in «Einsame Menschen» dauert bemerkenswerte 25 Minuten (Foto: Arno Declair)

Vor fast zehn Jahren hatte das US-amerikanische LGBTIQ-Magazin Out eine Geschichte über junge schwule Paare, die alle darauf schworen, ausschliesslich in monogamen und auf gegenseitiger Treue basierenden Beziehungen leben zu können. (MANNSCHAFT berichtete darüber, dass immer mehr junge Schwule auf Monogamie drängen.)

Der Gründer des Leslie-Lohman Museums für LGBTIQ-Kunst in New York, Charles Leslie, sagte damals zu dieser Out-Geschichte im Buch «The Art of Looking»: «Meine Antwort an all diese modernen Monogamisten ist: Warten wir einfach mal ab! Sie werden schon früh genug feststellen, dass dieses Eins-auf-eins-Ideal nicht funktioniert, jedenfalls nicht so, wie sie es behaupten.» In seiner eigenen jahrzehntelangen Beziehung mit Fritz Lohman habe er es geschafft, eine andere Form des intensiven Zusammenlebens zu schaffen. Die aber – so die Botschaft des «Einsame Menschen»-Updates – für viele aufgeklärte moderne Menschen heute keine Option mehr zu sein scheint.

Und so endet die Neuproduktion des Hauptmann-Stücks nach wie vor mit dem Selbstmord von Johannes, nachdem Arno sich verabschiedet mit den Worten, er könne nicht die Verantwortung für die seelischen Qualen von Käthe Vockerat übernehmen. Diese Qualen würden, nach Meinung des Professors für feministische Literatur, weitergehen, wenn sie zu Dritt und mit Baby leben würden. Egal wie aufgeklärt wir heute sein mögen. (MANNSCHAFT fragte bei LGBTIQ-Paaren nach, ob monogame Beziehungen sie glücklich machen.)

Nicht Homosexualität ist der Skandal, sondern Normabweichung Als im Deutschen Theater am Ende das Licht ausgeht und das Stück vorbei ist, herrscht Schweigen. Niemand klatscht, es ist eine fast ungläubige Stille. Als würde sich das Publikum fragen: Kann das wirklich passiert sein? Ist es möglich, dass die Beziehung zwischen Johannes, Arno und Käthe (gespielt von Linn Reusse) heute noch so endet? Dass wir immer noch keinen Weg gefunden haben, jenseits von normativen Beziehungsmustern glücklich zu werden? Besonders in einem Fall wie diesem, wo nicht einmal die Mutter von Johannes (gespielt von Judith Hofmann) mit der Wimper zuckt, weil ihr Sohn sich mit einem anderen Mann einlässt. Homosexualität ist kein Skandal mehr, aber das Ausbrechen aus einer eingegangenen Verpflichtung und einer standardisierten Beziehungsform von Eltern-mit-Kind schon.

Homosexualität ist kein Skandal mehr, aber das Ausbrechen aus einer eingegangenen Verpflichtung und einer standardisierten Beziehungsform von Eltern-mit-Kind schon

Bemerkenswert ist auch, dass die gesamte LGBTIQ-Presse über die Produktion nicht berichtet hat – obwohl 25 Minuten schwuler Sex auf offener Bühne nun wirklich keine Alltäglichkeit sind, auch nicht im Berliner Theaterleben.

Das liegt vermutlich daran, dass im Programmheft zur Produktion zwar ein XXL-Foto von Johannes und Arno – küssend und durchnässt – zu sehen ist, man also von weiss, was irgendwann im Laufe der Aufführung kommen wird. Dass aber die Worte «schwul», «bisexuell» oder «homosexuell» nirgendwo auftauchen. Weder im überarbeiteten Text des Stücks, noch in den Ankündigungen oder sonst wo. Trotzdem hat sich dieser zentrale Aspekt der Produktion inzwischen rumgesprochen, denn bei der jüngsten Vorstellung Mitte Januar war der Zuschauer*innenraum gefüllt mit Männergruppen und -paaren.

Meditatives Ritual Interessant an der Vorstellung ist auch, dass die sexuelle Anziehung zwischen Marcel Kohler und Enno Trebs mit einer fast beiläufigen Nonchalance gespielt wird. Dadurch wirkt die 25-minütige Sexszene geradezu abstrahiert – wie ein meditatives Ritual, das nur vom Geräusch des herabrieselnden Wassers begleitet. Das lädt ein, die eigenen Gedanken schweifen zu lassen. Und eigene Begegnungen dieser Art Revue passieren zu lassen.

Dadurch bekommt die Sexszene etwas extrem Erotisches und zugleich eine schockierende Sachlichkeit, bei der keinerlei «echte» Erregung mitschwingt. Das zu sehen ist verblüffend.

Es gibt in Berlin derzeit andere neuere Stücke, die sich mit dem aktuellen LGBTIQ-Leben beschäftigen, etwa Falk Richters Werke am Gorki Theater (MANNSCHAFT berichtete über Richters letztes LGBTIQ-Theaterstück am Gorki: «In My Room»).

„Small Town Boy“ am Maxim Gorki Theater (Foto: Gorki-Theater)
Falk Richters «Small Town Boy» am Maxim Gorki Theater (Foto: Gorki-Theater)

Der grosse Unterschied zwischen Richters improvisatorischem Stil und Gerhart Hauptmann ist, dass der Literaturnobelpreisträger das klassische Handwerk des Stückaufbaus perfekt beherrscht und diese Tragödie-am-Müggelsee wie ein Schweizer Uhrwerk ablaufen lässt. Alles ist genau vorhersehbar, jeder hat seinen exakten Platz im Geschehen. Es gibt kein Entkommen. Und trotzdem haut es den Zuschauenden am Ende um, wegen der Ausweglosigkeit der Situationen, die gnadenlos aufeinanderfolgen.

Warnung und Zensur «Einsame Menschen» läuft in den Kammerspielen des Deutschen Theaters noch bis Ende Februar, im eleganten Bühnenbild von Wolfgang Menardi und mit Kostümen von Carolin Schogs. Auf der Website werden Besucher*innen gewarnt: «In der Inszenierung gibt es explizit sexuelle Szenen.»

In der Tat verliessen bei der von MANNSCHAFT besuchten Vorstellung diese Woche mehrere Leute den Saal nach der Sexszene. Als wären 25 Minuten Männersex-im-Regen unerträglich und eine Zumutung. Wären diese Leute auch gegangen, wenn man ebenso lange ein Mann-Frau-Paar nackt gesehen hätte? Eine Frage, die sich auch stellt angesichts der Zensur von jeglichen homosexuellen Bebilderungen auf Facebook und Instagram, die als «anstössig» eingestuft werden, nur weil sich zwei Männer intensiv küssen (wie diese Woche passiert im Kontext eines MANNSCHAFT-Artikels über eine LGBTIQ-Protestaktion auf der Akropolis).

Das von Meta beanstandete Vorschaubild zum Akoropols-Artikel (Foto: Leo und Lance aus dem gleichnamigen Film von William Higgins von 1983, Laguna Pacific/Catalina; aus dem Buch «Porn: From Andy Warhol to X-Tube» / Bruno Gmünder Verlag)
Das von Meta beanstandete Vorschaubild zum Akoropols-Artikel (Foto: Leo und Lance aus dem gleichnamigen Film von William Higgins von 1983, Laguna Pacific/Catalina; aus dem Buch «Porn: From Andy Warhol to X-Tube» / Bruno Gmünder Verlag)

Wird die Rückkehr zu «traditionellen Werten» – die von Out im Zusammenhang mit Monogamie zelebriert wurde und die Löffner als Suche nach einer «sicheren Bank» beschreibt – von Mark Zuckerbergs Meta-Plattformen befördert?

Darüber lohnt es nachzudenken. Genauso wie es lohnt, sich «Einsame Menschen» in der brillanten Aktualisierung von Daniela Löffner (und von den Dramaturg*innen Sima Djabar Zadegan und Juliane Koepp) anzuschauen.

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