«Grindr – The Opera»: Provokatives neues Musiktheater in London
Eric Ransoms Werk übers Paarungsverhalten schwuler Männer läuft derzeit im Union Theatre
Bis Ende dieser Woche läuft im Londoner Union Theatre noch eine Neuproduktion von «Grindr – The Opera»: ein Stück übers Beziehungschaos, das die Dating-App bei vier Männern auslöst, die Sex mit Männern haben wollen. Die britische Presse überschlägt sich mit Lobeshymnen.
Der Komponist und Textautor Erik Ransom wollte ursprünglich ein Stück über die Kontaktplattform Manhunt schreiben, die Anfang des neuen Millenniums populär war. Er entwarf ein Stück, in dem vier Charaktere sich über Manhunt kennenlernen und verknüpfte dann deren Geschichten immer intensiver miteinander, bis zum emotionalen Showdown. Als vor einem Jahrzehnt dann jedoch Grindr als neue Form einer Dating-App auf den Markt kam (MANNSCHAFT berichtete), beschloss Ransom, sein zweiaktiges Stück umzuschreiben und «Grindr – The Opera» zu nennen.
Auch wenn im Titel das Wort «Oper» vorkommt, handelt es sich um ein klassisches modernes Musical, das Stationen des Sexlebens in mitreissenden Klängen einfängt zu Titeln wie «Wanderlust», «Cum Dumpster» oder «Load More Guys». Insofern kann man «Grindr» in der Tradition der Gay-Adult-Musicals der 1970er Jahre sehen, die damals am Off-Off-Broadway versuchten, das neue Lebensgefühl der Schwulencommunity nach Stonewall einzufangen, mit Werken wie «The Faggot» (1973), «Lovers» (1974) oder «Boy Meets Boys» (1975). Der Kölner Musikwissenschaftler Ulrich Linke hat viel dazu publiziert, zuletzt im Sammelband «Breaking Free: Die wunderbare Welt des LGBTQ-Musicals» (MANNSCHAFT berichtete).
Nichts an Aktualität verloren Erstmals auf die Bühne kam Ransoms Werk 2018 in London am Off-West-End, im Above the Stag Theatre, also nicht am Off-Broadway. Weswegen er die Geschichte nach London verlegte, statt sie in New York oder anderswo in den USA spielen zu lassen. Es wurde eine CD als Doppelalbum produziert, 2019 nahm man die Produktion zur Pride-Saison wieder auf. Doch bevor sich das Stück dauerhaft auf der Bühne etablieren konnte, kam 2020 Corona. Und alle weiteren Pläne bezüglich «Grindr – The Opera» wurden eingefroren.
Dass nun das renommierte kleine Union Theatre – mit 65 Plätzen – auf der Südseite der Themse das Stück in einer Neuproduktion rausbrachte, inszeniert von William Spencer, kann man als Zeichen dafür werten, dass Inhalt und Musik auch nach Corona nichts an Aktualität verloren haben. Die seit Ende Mai ständig ausverkauften sechs Vorstellungen pro Woche unterstreichen das.
Dass sämtlich in London ansässige LGBTIQ-Zeitschriften und sonstige Theaterzeitungen, von Gay Times bis Attitude, rhapsodische Rezensionen zu «Grindr – The Opera» veröffentlicht haben, hat dem Zulauf sicher geholfen. Zur Info: Das Stück wird betreut von einem der wichtigsten Presseagenten für Londons Theaterszene, eine Investition, die sich offensichtlich gelohnt hat.
Es geht um vier Männer – Tom, Devon, Jack und Don –, die jeweils auf Kontaktsuche sind, einige wollen Liebe, andere nur NSA-Sex. Der bereits etwas reifere Don ist verheiratet und konservativer Politiker, hat einen erwachsenen Sohn und lebt seine schwulen Sehnsüchte nur heimlich aus, in Hotelzimmern mit unbekannten jungen Männern. Er bietet ihnen Geld dafür, dass sie sich auch auf extremere Spielarten beim Sex einlassen. Was das bedeutet, merkt der Twink Jack, als er plötzlich fast stranguliert wird und droht, Don bei der Polizei zu melden. Womit dessen Doppelleben auffliegen würde.
High Heels und Korsett Parallel dazu sieht man, wie sich der Arzt Dr. Devon und der nach Liebe hungernde Tom begegnen und wie sich aus ihrem One-Night-Stand schnell mehr entwickelt. Beide löschen die Grindr-App und wollen fortan monogam miteinander leben, singen wunderbare Liebeslieder, verloben sich. Bis die Sirenengesänge von Grindr – dargestellt von Tenor Christian Lunn als eine Art mystisches Fantasiewesen mit High Heels und Korsett à la «Rocky Horror Show» – die Idylle durcheinanderbringen.
(Achtung: Spoiler!) Ausserdem stellt sich heraus, dass Don der Vater von Tom ist. Als dieser seinen Verlobten vorstellen will, erkennt Dr. Devon in Don jenen Mann, den er in seiner Praxis erst kürzlich wegen Hepatitis behandelt hatte. Bei dem Familientreffen im Restaurant taucht auch Jack als Kellner auf, erkennt seinerseits Don, schüttet ihm Wein ins Gesicht und sagt dann noch, dass er mit Tom eine Nacht verbracht hat, nachdem Tom sich mit Devon gestritten hatte. Womit das Chaos perfekt ist. Und sich alle fragen: Wie geht’s weiter?
Sollte man eine eigentlich stabile Beziehung beenden, nur weil der Partner einen Seitensprung hatte? Lässt sich so etwas überhaupt verhindern, wenn Sexkontakte über Apps wie Grindr derart leicht verfügbar sind? Ist es besser, allein zu leben («Back to Square One»), wenn man sowieso niemandem vertrauen kann? Das sind nur einige der Grundsatzfragen, die Ransom in den 29 Musiknummern des Stücks auf freche Weise anspricht und zeigt, dass Musicals weit mehr sein können, als das familienfreundliche Tralala, als das sie im deutschsprachigen Raum weitgehend wahrgenommen werden.
Analsex auf offener Bühne «Grindr – The Opera» zeigt, dass es auch ganz anders und unterhaltend geht. Und dass man damit ein Publikum anlocken kann, das begeistert reagiert. Zumindest war das in der von mir besuchten Vorstellung Ende Juni so, mit Dereck Walker als Don, Billy J. Vale als dessen Sohn Tom, Santino Zapico als Dr. Devon und James Lowrie als Jack. Der bereits erwähnte Christian Lunn war phänomenal als Grindr, mit James Aymon und Grant Jackson als gespenstischen AssistentInnen, in einem genauso gespenstischen «sakralen» Ambiente, in das alle wie eine Art «Kultstätte» hineingezogen werden. Dieses Element ist neu in der Produktion und war nicht Teil der ersten Inszenierung 2018.
Eine der bemerkenswertesten Szenen im Stück ist ein Quartett, in dem Don und Jack auf einem Bett sowie Dr. Devon und Tom auf einem anderen Bett Analsex auf offener Bühne haben. Wobei sie jeweils über ihre unterschiedlichen Gefühle singen. Das ist wahrlich brillant komponiert von Erik Ransom, begleitet von einem kleinen Orchester, das oben rechts neben der Bühne sitzt (musikalische Leitung: Aaron Clingham).
Interessant daran ist, dass das aktuell nur eine von drei Analsexszenen auf offener Musicalbühne in London ist: in «Brokeback Mountain» im Soho-Place-Theater sieht man Lucas Hedges («Boy Erased») und Mike Faist (aus Spielbergs «West Side Story»-Verfilmung) als Schattenspiel im Zelt, und dann schmeisst sich die Hauptfigur in Michael R. Jacksons preisgekröntem Musical «A Strange Loop» im Barbican Centre vornüber auf die Knie und bittet seine Bekanntschaft – die er auf Grindr klargemacht hat –, ihn durchzuvögeln. Was dieser, wie im Ransom-Stück, mit einer Cum-Dumpster-Nummer tut.
Der Unterscheid zu «Grindr – The Opera» ist, dass «A Strange Loop» nicht in einem kleinen Off-Theater läuft vor vorwiegend schwulem Szenepublikum, sondern in einer der grössten Kultureinrichtungen Grossbritanniens, wo ein ganz anderes Klientel verkehrt. Das dem schwarzen, übergewichtigen, queeren Hauptdarsteller am Ende – Abend für Abend – stehende Ovationen spendet.
Zusammenarbeit mit Thomas Hermanns und Thomas Zaufke Von derart «gewagten» Musicals und Szenen – deren Horror Johannes Kram und Florian Ludwig in ihrer wunderbaren «Operette für zwei schwule Tenöre» besingen im Ensemble «Auf gar keinen Fall anal» – ist man in der Schweiz, Österreich und Deutschland leider Lichtjahre entfernt. Was den Besuch in London umso lohnender macht, um zu sehen, wie es anderswo geht.
Die «A Strange Loop»-Produktion ist ein Gastspiel der mit Tony Awards überhäuften Original-Broadway-Inszenierung (MANNSCHAFT berichtete). «A Strange Loop» läuft noch bis zum 9. September im Barbican Centre, «Brokeback Mountain» mit Liedern von Dan Gillespie Sells kann man bis zum 12. August im Soho Place sehen.
Auf die Frage, wie’s mit «Grindr – The Opera» weitergeht, sagte Eric Ransom zu MANNSCHAFT, die derzeitige Union-Theatre-Produktion sein eine Art Test um zu sehen, wie gross das Publikumsinteresse ist und ob es lohnt, das Stück dauerhaft in einem grösseren West-End-Theater zu installieren. Laut Ransom wäre auch eine deutschsprachige Aufführung mehr als wünschenswert. Ransom war nebenbei bemerkt gerade zu Workshops in New York, um daran zu arbeiten, ein Musical von Thomas Hermanns und Thomas Zaufke für eine US-Premiere vorzubereiten.
Ausserdem ist Ransom der Textautor des romantischen Musicals «Shooting Star» über die schwule Pornoindustrie, zusammen mit Florian Klein aka Hans Berlin und Thomas Zaufke geschrieben (MANNSCHAFT berichtete). Das lief bislang nur in Los Angeles und New York, vielleicht irgendwann auch einmal in London. Und vielleicht auch mal an einer deutschsprachigen Bühne?
Bis dahin kann man «Grindr», «Strange Loop» und «Brokeback Mountain» auf CD hören. Die CD von «Shooting Star» ist in Arbeit, heisst es.
In Berlin zeigte die Bar jeder Vernunft kürzlich eine von Rosa von Praunheim selbst inszenierte Musicalversion seines Kultfilms «Die Bettwurst» und erzielte damit einen grossen Erfolg (MANNSCHAFT berichtete).
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