«Sommermärchen ausgeträumt» – Welches Sommermärchen?
Warum der Hype um die Fussball-EM verlogen und falsch war
Die Fussball-EM ist gelaufen, wenigstens für Gastgeber Deutschland. Nun aber Tränen wegen eines geplatzten «Sommermärchens» zu vergiessen, ist albern, meint der Autor unseres Kommentars*.
Nicht nur für Deutschland ist das sogenannte «Sommermärchen 2.0» vorbei. Österreich ist schon länger raus, die Schweiz seit Samstag auch. Nur hatte man hier das Turnier nicht so hoch gehängt, das ist und war im Gastgeberland natürlich anders.
Und es titelten ja auch fast alle Zeitungen und Medien: «Spanien beendet deutsches Sommermärchen» (Deutschlandfunk), «Das deutsche Sommermärchen 2.0 endet mit einem Schock» (Berliner Zeitung), sogar die Kleine Zeitung aus Österreich schrieb: «Das ‹Sommermärchen 2.0› ist ausgeträumt» – wenigstens mit Anführungszeichen.
Denn eine Fussball-EM mit einem Märchen zu vergleichen, ist Volksverdummung allererster Kajüte. Ja, die deutsche Elf hat gekämpft, aber dafür werden die Herren schliesslich fürstlich bezahlt. Nehmen wir Joshua Kimmich von Bayern München. Von 2015 bis 2018 bekam der Mittel- und Abwehrspieler 1,49 Millionen Euro, wie RTL im Juni berichtete. Bis 2021 lag sein Jahresgehalt schon bei 7,9 Millionen. Seine dritte Vertragsverlängerung schliesslich soll ihm 19,5 Millionen Euro eingebracht haben. Und was die EM angeht: Alle 26 deutschen Spieler erhalten nach Informationen von Sport1 jeweils 100.000 Euro für das Erreichen der Runde der letzten acht Teams. Für den Turniersieg hätte es gar die Rekord-Prämie von 400.000 Euro gegeben – pro Nase, versteht sich.
Ich bin da frei von Neid, aber natürlich reibe ich mir staunend die Augen. Und würde darum auch nicht von den Spielern als «Helden» sprechen wollen. Das soll von mir aus die Boulevardpresse tun. Heldentum ist immer noch ein Ehrenamt.
Aber was nun das dumme Geschwätz vom «Märchen» angeht: Eine EM, für die sich durchaus auch viel Queers interessierten (MANNSCHAFT berichtete), bei der aber Spieler und Fans rassistisch und homofeindlich beleidigt werden, ein Geschäft – denn nichts anderes ist der Fussball auf Bundesliga- und UEFA-Ebene, von der FIFA müssen wir gar nicht sprechen (Grüsse gehen raus an Gianni Infantino) – ein Geschäft also, in dem es einem homo- oder bisexuellen Profi nicht möglich ist, sich zu outen, aus Angst, gedisst und beleidigt zu werden, in der Kabine, in der Kurve, auf dem Feld, ein Umfeld, wo man Angst um die Karriere haben muss, Angst, den eigenen Traum aufgeben zu müssen – da kann ich beim besten Willen nichts Märchenhaftes erkennen.
Der Hass findet ja auch im Netz statt. Die Europäische Fussball-Union hatte während der EM-Gruppenphase 4’656 Beiträge in den sozialen Medien mit beleidigenden, rassistischen oder homophoben Inhalten überprüfen lassen (MANNSCHAFT berichtete). Selbiges geschah schon zur letzten EM der Frauen (MANNSCHAFT berichtete).
Selbst ein Spieler wie Robert Andrich, vermutlich nicht mal queer, musste sich dumme Sprüche gefallen lassen, weil er sich zum Spiel gegen Spanien die Haare pink färbte (MANNSCHAFT berichete), sei es aus Lust an der Farbe, sei es um eine Art von Zeichen zu setzen, vielleicht aber auch, um Corporate Identity auf dem Platz zu leben, selbst wenn die vielgehassten, aber auch sehr gut verkauften pinken Deutschland-Trikots am Freitag im Schrank blieben.
Jens Lehmann, ehemaliger Nationaltorwart, hatte für die bunte Haarpracht so gar kein Verständnis. «Heutzutage muss man ja vorsichtig sein, weil vielleicht fühlt er sich ja heute auch als Frau oder so. Man muss ja sehr tolerant sein», sagte er bei Welt TV. Die neue Frisur von Andrich sei ihm «zu viel», meinte er. «Was will er uns damit zeigen? Hat er irgendwie Persönlichkeitsprobleme, dass er so auffallen muss?»
Gegen solche vorgestrigen Ansichten war das Mittelalter reinste Avantgarde. Nicht überraschend allerdings aus dem Lehmann’schen Munde, der einst über Thomas Hitzlspergers Coming-out meinte: Er hätte es «komisch» gefunden, wenn er, Lehmann, während seiner aktivien Karriere von der Homosexualität Hitzlspergers erfahren hätte. «Man duscht jeden Tag zusammen, man hat Phasen, in denen es nicht so läuft», schwurbelte Lehmann, damals einer in der Fussball-Talksendung «Sky 90».
Von dumpfbackigen Äusserungen wie diesen mal abgesehen gibt es dann auch noch Politiker, die versuchen, die EM für politische Zwecke zu nutzen. Siehe Präsident Recep Tayyip Erdogan, der für die Partie der Türken gegen die Niederlande nach Berlin gereist war. Es brachte am Ende nichts, wenigstens nicht für die Mannschaft, die aus dem Turnier flog.
Weit und breit also keine Spur von Märchen bei der Fussball-EM, auch nicht eine Woche vor ihrem Ende. Nur dass der englische Schiedsrichter Anthony Taylor nach dem für viele recht eindeutigen Handspiel durch Spaniens Verteidiger Marc Cucurella keinen Strafstoss für Deutschland geben wollte, das macht ihn schon ein bisschen zur bösen Hexe.
*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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