Fotograf Florian Hetz: «Gänsehaut, Narben – das alles fasziniert mich»
Er arbeitete jeden Tag, hatte zwei Jobs – das zog ihm schliesslich den Boden unter den Füssen weg
Eine schwere Enzephalitis zwang Florian Hetz dazu, sein Leben grundlegend auf den Kopf zu stellen. Indem er die banalsten Tätigkeiten mit der Kamera dokumentierte, fand er zurück in den Alltag. Und einen neuen Beruf.
Wer die Bilder von Florian Hetz betrachtet, erkennt das Werk eines nachdenklichen und neugierigen Fotografen. In den Fokus rücken einzelne Körperstellen oder einschneidende Merkmale – Rötungen, Narben, hervorstehende Adern. Die Models des Berliners, fast ausschliesslich Männer, verrenken ihre Körper in dramatische Positionen und kantige Winkel. Doch Florian kann auch anders: klassische Aktfotografie mit muskulösen Körpern, Stillleben mit Blumen und Muscheln, Tiere wie Vögel oder Schnecken. Mal sind die Motive explizit und provokant, mal still und poetisch.
Die Bilder sind in Florians neuem Leben entstanden. Ins alte zurück, das will er nicht. «Ich arbeitete wahnsinnig viel», erinnert er sich. Damals dachte sich Florian nichts bei der Gürtelrose – eine nicht seltene Hauterkrankung –, die plötzlich auftauchte und dann wieder verschwand. Ob er Kopfschmerzen und einen steifen Nacken habe, wollte der Hautarzt bei der Nachkontrolle wissen. Als Florian die Frage bejahte, schickte ihn dieser umgehend ins Krankenhaus. Dort wurde eine Rückenmarkpunktion durchgeführt, die schliesslich die Diagnose lieferte: Enzephalitis, Gehirnentzündung. Florian wurde sofort eingewiesen.
Rückblickend zeigt er sich wenig überrascht. Er arbeitete zwei Jobs, unter der Woche als Produktionsleiter im Theater und nachts sowie am Wochenende im Club, um über die Runden zu kommen. Das Interview findet telefonisch statt, doch man kann sich lebhaft vorstellen, wie Florian am anderen Ende der Leitung den Kopf schüttelt: «Ich arbeitete jeden Tag. Das hat mir schliesslich den Boden unter den Füssen weggezogen.»
Die Kamera als Gedächtnisstütze Es folgten mehrere Wochen im Krankenhaus mit «heftigen Medikamenten und permanenter Infusion». Florian litt unter starken Kopfschmerzen und verlor teilweise sein Kurzzeitgedächtnis. «Freund*innen hatten mich besucht, doch ich konnte mich nicht erinnern, dass sie da waren», sagt er. Als er sich zuhause mit dem Einstieg in den Alltag konfrontiert sah, griff er zur Kamera. Er hielt die gewöhnlichsten Tätigkeiten und Haushaltspflichten fest, um sich später daran erinnern zu können.
«Das Fotografieren wurde zu meinem Tagebuch, so abgedroschen das klingen mag», sagt er. «Die Fotos waren nicht grossartig, doch sie waren eine grosse Hilfe, um wieder die Kontrolle über mein Leben zu erlangen.»
Die Kamera wurde zu Florians ständigem Begleiter. Mit der Zeit begann er, sich mehr Gedanken über die Komposition der Bilder, das Licht und die Motive zu machen. Auf der Social-Media-Plattform Tumblr hatte er einen Account, auf dem er nichts anderes tat, als interessante Bilder in seinem Feed zu teilen. Eines Tages entschloss er sich, einen Schnappschuss eines intimen Moments mit einem damaligen Liebhaber zu posten. Binnen kürzester Zeit ging das Bild viral. «Es explodierte regelrecht und ich bekam Zehntausende von Likes», erinnert sich Florian. (2020 erschienen seine Bilder im Sammelband «New Queer Photography» (MANNSCHAFT berichtete)
Ein paar Wochen später teilte er ein zweites, dann ein drittes. Alle gingen viral. «Meine Art, Dinge zu betrachten, schien einen Nerv zu treffen.»
Florian kaufte sich eine bessere Kamera und ein Set LED-Lichter. Er suchte gezielt nach Models, mit denen er bestimmte Posen realisieren wollte. «Ideen schwirrten in meinem Kopf herum, die ich unbedingt im echten Leben nachstellen wollte», sagt er. «Somit war die Kamera nicht länger nur eine Begleiterin, sondern ein Mittel zur Kreation.»
Florians Art des Schaffens ist stets im Wandel. Statt nach Models zu suchen, wird er heute von Männern kontaktiert, die sich gerne von ihm fotografieren lassen würden. «Ich schiesse nicht mehr ein vorgefertigtes Foto aus meinem Kopf, sondern treffe mich mit der Person und schaue, was dabei rauskommt», sagt er. Dabei ist Florian ständig in Bewegung. So wie in seinem Leben, versucht er auch in der Fotografie, seinen Blickwinkel zu ändern. Er läuft um das Model herum, geht in die Knie oder auf den Boden, fotografiert es von oben oder von unten. «Auf einmal findet man eine spannende Perspektive, die vielleicht nicht so häufig gesehen wird», sagt er.
Vielfalt dringend gesucht Florian ist überzeugt, dass jeder Körper fotografisch etwas zu bieten hat. Besonders die Haut hat es ihm angetan. «Sie reagiert ständig: auf Hitze, auf Kälte, auf Licht. Gänsehaut, Narben – das alles fasziniert mich», sagt er. «Wir haben ein sehr starres Verständnis von Hautfarbe und sprechen immer von weisser oder schwarzer Haut. Dabei steckt so viel Farbe drin! Rot, blau, grün, gelb: Alle Grundtöne sind vorhanden. Man denke nur an die Äderchen, die durch die Haut schimmern.»
Auf Florians Fotos sind auch trans Frauen, Männer mit Bauch oder solche mit asiatischer oder afrikanischer Abstammung zu sehen. Es sind jedoch vor allem gut gebaute, weisse cis Männer, die sich beim Fotografen für ein Shooting melden oder überhaupt bereit sind, sich nackt vor der Kamera zu zeigen. Die einseitigen Schönheitsideale der sozialen Medien würden diesen Teufelskreis befeuern. «Ich weiss noch nicht, wie ich das brechen soll», sagt er. «Vielleicht muss ich aktiver werden und Leute direkt ansprechen.»
Seit der Pandemie fotografiert Florian immer mehr auch Pflanzen, Früchte und Tiere. Eine besondere Faszination üben Schnecken auf ihn aus. «Ihr Zwitterdasein stellt unsere Idee von Geschlechtlichkeit auf den Kopf. Sie produzieren ein Haus, in dem sie sich zurückziehen können», sagt er. «Hinzu kommen die Eigenschaften, wovor sich viele ekeln: ihre Textur, ihre Schleimproduktion, ihre Augen. Ich finde Schnecken einfach spannend.»
Dank Auftragsarbeiten und Ausstellungen kann Florian heute von der Fotografie leben – ein Beruf, den er der Enzephalitis verdankt. «Für andere ist eine solche Krankheit furchtbar, aber mein Leben hat sie positiv verändert», sagt er. «Ich wünschte mir, dass ich es auf eine andere Weise gelernt hätte, doch ich brauchte diesen körperlichen Zusammenbruch, um mein Leben zu ändern. Für mich war das eine gute Zäsur.»
Unterstütze LGBTIQ-Journalismus
Unsere Inhalte sind für dich gemacht, aber wir sind auf deinen Support angewiesen. Mit einem Abo erhältst du Zugang zu allen Artikeln – und hilfst uns dabei, weiterhin unabhängige Berichterstattung zu liefern. Werde jetzt Teil der MANNSCHAFT!
Das könnte dich auch interessieren
Deutschland
Wer macht in Brandenburg jetzt eigentlich Queerpolitik?
Wer macht in Brandenburg jetzt eigentlich Queerpolitik? Wie muss es mit den Grünen weitergehen? MANNSCHAFT+ spricht mit einem queeren Mitglied, das Entfremdung mit der Partei spürt, aber bleiben und kämpfen will.
Von Kriss Rudolph
Schwul
Bern
Stadt Bern will Quote für FLINTA einführen
Ab 2026 sollen mindestens 50 Prozent der städtischen Führungspositionen von Frauen, inter, trans, nicht-binären und agender Personen besetzt werden.
Von Newsdesk Staff
News
Arbeitswelt
TIN
Lesbisch
Schweiz
Gesundheit
Zwei weitere Länder in Afrika melden Mpox
Der Kampf gegen die Ausbreitung der Affenpocken zeigt in Afrika noch keine grossen Erfolge. Zwei weitere Länder haben innerhalb der vergangenen 6 Wochen Mpox-Fälle gemeldet, wie die WHO berichtet.
Von Newsdesk/©DPA
News
International
Kultur
Eine Nacht mit ... Hape Kerkeling
Auch wenn Hape Kerkeling derzeit vor allem als Buchautor auftritt, lohnt es sich immer, seine Filme anzusehen.
Von Michael Freckmann
Comedy