«Unzufriedenheit mit dem Körper gehört zum Geschäftsmodell von Gyms»

Roland Müller, PEP Inselspital Bern
Roland Müller, PEP Inselspital Bern (Bild: zVg)

Roland Müller ist Angebotsleiter für Muskel- und Fitnesssucht bei der Fachstelle Prävention Essstörungen Praxisnah (PEP) des Inselspitals Bern. Wir sprachen mit ihm über Dysmorphophobie.

Roland, was ist unter dem Begriff Muskel- und Fitnesssucht  zu verstehen? Betroffene sehen sich als zu wenig muskulös oder zu wenig definiert. Sie denken negativ über den eigenen Körper und fühlen sich schlecht. Dies zeigt sich in einem Vermeidungsverhalten oder mit exzessivem Sport. Der Fachbegriff lautet Dysmorphophobie oder Muskeldysmorphie.

Im Vergleich zu Essstörungen bei Frauen scheint Muskeldysmorphie bei Männern ein neueres Phänomen. Zum einen liegt es daran, dass man sich erst viel später intensiver mit dem Thema mentale Gesundheit bei Männern beschäftigt hat. Männer funktionieren psychisch grundsätzlich anders als Frauen. Es fällt ihnen tendenziell schwerer, Gefühle auszudrücken und zu benennen. Das liegt an der Sozialisation des Mannes und soll nicht etwas Negatives sein.

Zum anderen glaube ich, dass man beim Fitnesstrend erst spät realisiert hat, dass das Ganze auch Schattenseiten hat. Dieser Prozess ist aber sehr langsam. 

Kannst du sagen, wie viele Männer von Muskeldysmorphie betroffen sind? Laut einer Meta-Analyse, die 24 Studien mit insgesamt über 10'000 Teilnehmern untersuchte, liegt die Prävalenzrate bei regelmässig trainierenden Männern bei etwa neun bis zwölf Prozent. Bei der allgemeinen männlichen Bevölkerung ist die Rate niedriger, wird aber auf etwa ein bis zwei Prozent geschätzt. Natürlich sind auch Frauen von der Muskel- und Fitnesssucht betroffen.

Was sind die Anzeichen einer Muskeldysmorphie? Ich habe Vermeidungsverhalten erwähnt. Das kann beispielsweise sein, dass man sich scheut, den Körper in der Öffentlichkeit zu zeigen und sich auch im Sommer komplett bedeckt. In schwereren Fällen ziehen Betroffene im Fitnessstudio zwei oder drei Pullover übereinander an. Exzessiver Sport, der Konsum von Anabolika, eine radikale Ernährungsumstellung oder das Vermeiden anderer Aktivitäten können weitere Anzeichen sein. 

Wie weiss man, ob man betroffen ist? Ganz wichtig ist, dass wir Ernährungsumstellungen oder den Sport nicht pathologisieren. Wer fünf Mal oder sogar sieben Mal ins Fitnessstudio geht, hat noch nicht per se eine Muskel- oder Fitnesssucht. Sie beginnt dann, wenn die betroffene Person in einer ständigen Stresssituation ist und ein negatives Selbstwertgefühl besitzt. Sie geht mit Angst oder einem grossen Druck ins Fitnessstudio oder mit dem Gefühl, der eigene Körper sei nicht gut genug. Die Anzahl Trainings pro Woche reicht da als Diagnosekriterium nicht aus.

Dann ist alles im grünen Bereich, wenn man täglich ins Fitnessstudio geht und dabei Spass hat? Nicht unbedingt. Wie geht es der Person, wenn sie verletzungsbedingt nicht trainieren kann? Wenn sie in den Urlaub fährt und nicht wie gewohnt essen kann? Fährt sie dann überhaupt noch in den Urlaub? 

Im Fall von Lucien (MANNSCHAFT berichtete) war die erste Hürde, sich diese Gefühlen einzugestehen und Hilfe zu holen. Ja. Das braucht eine gehörige Portion Mut und sehr viel Selbsterkenntnis. Damit ist es leider nicht getan. Es ist sehr schwierig, sich von einem von Angst gesteuerten Essverhalten oder einer intensiven Trainingsroutine zu lösen, umso mehr, wenn auch Steroidkonsum im Spiel ist. Das erfordert sehr viel Zeit und Arbeit.  

Wie sieht die Behandlung aus? Ich arbeite mit klassischen verhaltenstherapeutischen Elementen, darunter beispielsweise mit der Konfrontation des Spiegelbilds. Es geht darum, dass Betroffene lernen ihren Körper zu beschreiben und nicht zu bewerten. 

Links und Anlaufstellen

Deutschland Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärungdrugcom.de Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen – dhs.de

Österreich Österreichische Gesellschaft für Suchtmedizin (ÖGS)oegabs.at Drug-Checking – checkit.wien 

Schweiz Arud Zentrum für Suchtmedizin – arud.ch Drug-Checking – saferparty.ch PEP Bern – pepinfo.ch

Wen siehst du in der Pflicht, wenn es um einen verantwortungsbewussten Umgang mit Sport, Körper und Ernährung geht? Influencer sollten sich über die Reichweite und somit auch über ihren Einfluss im Klaren sein. Im Prinzip sollten auch Fitnessstudios Verantwortung übernehmen, statt die Augen davor zu verschliessen.

«Influencer sollten sich über die Reichweite und somit auch über ihren Einfluss im Klaren sein.»

Roland Müller

Allerdings muss gesagt sein: Bei den Billigabos und tiefen Gehältern in der Branche kann man nicht erwarten, dass ein Coach die Trainierenden über einen längeren Zeitraum mental begleitet und bei Bedarf in Therapie schickt. Das ist schlicht unrealistisch. Nicht zu vergessen, dass es zu einem gewissen Grad zum Geschäftsmodell der Fitnessstudios gehört, dass man mit dem eigenen Körper unzufrieden ist.

Dysmorphophobie ist umgangssprachlich auch als Muskeldysmorphie bekannt
Dysmorphophobie ist umgangssprachlich auch als Muskeldysmorphie bekannt (Bild: KI Adobe Firefly)

Kann man einer Muskel- und Fitnesssucht vorbeugen? Wer Anzeichen bemerkt, sollte das Gespräch zum Beispiel mit einem Coach oder mit einer vertrauten Person suchen. Ideal wäre es, wenn diese Person eine unterstützende und kontrollierende Rolle übernimmt, damit man es nicht übertreibt.

Ein Beispiel wäre, nicht mehr als drei- bis viermal pro Woche ins Fitnessstudio zu gehen. Stattdessen könnte man sich bewusst dafür entscheiden, öfter Zeit mit Freund*innen zu verbringen und sich im Restaurant auch mal einen Teller Spaghetti zu gönnen. Solche kleinen Herausforderungen sind wichtig, um ein gesundes Verhältnis zum Sport zu bewahren.

«Ich hätte niemals transitionieren dürfen» – Als Nadia Brönimann vor bald 27 Jahren ihre Transition zur Frau durchlief, liess sie die ganze Schweiz daran teilhaben. Heute befindet sie sich in der Detransition, spricht öffentlich darüber und stösst damit einem Teil der queeren Community vor den Kopf. Eine Entdeckungsreise in drei Akten (Mannschaft berichtete).

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