Muskelsucht unter schwulen Männern: Wenn dich das Spiegelbild trügt
«Wenn ich die muskelbepackten Kerle sehe, löst das bei mir eine Unzufriedenheit aus.»
In den sozialen Medien präsentieren Männer ihre durchtrainierten Körper vor Millionen von Menschen. Um ihnen nachzueifern, greifen Follower sowohl zur Hantel als auch zu Steroiden. Mit gravierenden Konsequenzen für Körper und Psyche.
Wenn Lucien in den Spiegel schaute, dann sah er einen Schatten unter seinem Bauchnabel. Für den Bodybuilder aus der Ostschweiz war klar: Das war ein Bauchansatz. Er bemerkte, wie ihn andere im Fitnessstudio musterten. Der 49-Jährige war überzeugt: Sie hatten seinen fülligeren Bauch bemerkt.
Lucien will anonym bleiben, sein Name ist geändert. Er ist eine beeindruckende Erscheinung: Breiter Rücken, starke Schultern, praller Bizeps. Dass die Blicke im Fitnessstudio wahrscheinlich gar nicht auf seinen vermeintlichen Bauchansatz gerichtet waren, kam ihm damals jedoch nicht in den Sinn.
«Immer wenn jemand in meine Richtung schaute, hatte ich das Gefühl, dass sie auf meinen Bauch schauten»
Lucien
Stattdessen nahm die Einbildung, er sei «eine fette Sau», zu und belastete ihn zunehmend. «Immer wenn jemand in meine Richtung schaute, hatte ich das Gefühl, dass sie auf meinen Bauch schauten», sagt er. «Ich blendete alle anderen Erfolge aus und konzentrierte mich nur noch auf diesen kleinen Schatten.»
Wie andere Bodybuilder nimmt Lucien zusätzliches Testosteron ein, um seine Trainingsergebnisse zu verbessern. Darüber später mehr. Um seine «Problemzone Bauch» loszuwerden, konzentrierte er sich auf sein Training und trug gegen die vermeintlich urteilenden Blicke weite Kleidung und Hoodies.
Als er zum Joggen während eines warmen Sommerabends ein Tanktop angezogen hatte, spürte er die Blicke – gefühlt – aller Menschen, die ihm entgegenkamen. «Was ist los, stimmt etwas mit meinem Outfit nicht?», fragte er sich. Als er nach der Joggingrunde nach Hause kam und sich zufällig im Spiegel sah, blickte ihm dort ein durchtrainierter Mann entgegen. Warum fühlte er sich dann zu dick? Ihm wurde klar: Irgendetwas stimmte nicht.
Verzerrte Körperwahrnehmung Lucien holte sich Hilfe beim Psychotherapie-Angebot des Checkpoints Zürich. Die Diagnose der Psychologin lautete hochfunktionale Depression und Dysmorphophobie, umgangssprachlich auch als Muskeldysmorphie bekannt (siehe Interview). Vereinfacht formuliert handelt es sich bei Letzterem um eine Störung der Wahrnehmung des eigenen Körpers, die sich unter anderem durch Scham gegenüber Mitmenschen und durch die Einbildung eines körperlichen «Defekts» ausdrückt – im Falle von Lucien bedeutete das, «zu dick» zu sein.
Die Depression war beruflich bedingt durch Überarbeitung. Zur Belastung im Job kamen auch noch familiäre Probleme. Lucien rackerte sich ab – sowohl im Büro als auch im Fitnessstudio – und war zunehmend niedergeschlagen und antriebslos. Diese Symptome machen die hochfunktionale Depression besonders tückisch, denn sie sind nach aussen hin kaum zu erkennen. «Ich verlor die Freude und die Motivation am Job», sagt er. «Und in dieser Zeit powerte ich mich im Fitnessstudio aus. Ich dachte: Wenn dir alles wehtut, hast du wenigstens etwas richtig gemacht.»
Rückblickend weiss Lucien nicht, was zuerst kam: die Depression oder die Muskeldysmorphie. «Ich trainiere seit über 30 Jahren. Ich habe kein Sixpack, aber das ist das, was man auf Instagram zu sehen kriegt», sagt er. «Das Gefühl, dass ich zu dick bin, hatte ich daher schon immer.» Lucien weiss heute aber genau, dass seine Unzufriedenheit mit dem Spiegelbild durch den Konsum von Instagram und Pornos verstärkt wurde. Sie führten dazu, dass er seinen Körper auf den Dauerprüfstand stellte. Als Ideal galten die gestählten Männerkörper, durch die er sich im Endlosfeed swipte oder scrollte.
Körperliche und psychische Gefahren So wie Lucien geht es vielen. Sie wollen physische Ergebnisse sehen wie bei den Influencern, die für den perfekten Körper viel Bewunderung ernten, ausgedrückt in Herzen und Followern. Die in den letzten Jahren in vielen Städten und Dörfern aufgepoppten Fitnessstudios – von der Billigkette bis hin zum exklusiven Gym – zeugen nicht nur vom anhaltenden Gesundheitstrend, sondern von einem Körperkult, der gefährliche Folgen haben kann.
Um möglichst alles aus der eigenen Leistung und dem Körper herauszuholen, greifen nicht wenige auch zu verbotenen Substanzen, darunter anabole androgene Steroide (AAS). AAS sind synthetische Varianten des männlichen Sexualhormons Testosteron und werden verwendet, um die Muskelmasse und Kraft zu erhöhen. Sie haben sowohl anabole (muskelaufbauende) als auch androgene (maskulinisierende) Wirkungen. Die bekanntesten Substanzen sind Nandrolon, Testosteron und Dianabol.
Erstere wird oral eingenommen, die letzteren zwei werden intramuskulär gespritzt. Die Liste von Nebenwirkungen und Langzeitfolgen ist lang. Neben erhöhten Risiken für Herzinfarkt, Bluthochdruck, Leberkrebs und Leberschäden, können AAS zu hormonellen Ungleichgewichten und psychischen Folgen wie Aggression, Stimmungsstörungen und Abhängigkeit führen.
Weitere Risiken sind Akne, Haarausfall und eine veränderte Libido. Auch die Hoden können schrumpfen, wenn der Körper die eigene Testosteronproduktion herunterfährt. Unter der gesteigerten Leistungsfähigkeit kann zudem der Bewegungsapparat leiden, etwa die Gelenke und Sehnen.
Anwender*innen sind mehrheitlich Männer, bei Frauen besteht die Möglichkeit, dass sich durch den Konsum männliche Geschlechtsmerkmale bilden. Fachpersonen warnen, dass der Konsum von AAS auch tödlich enden kann. Beispielsweise wird beim 2023 verstorbenen Influencer Jo Lindner, der offen über seinen Doping-Konsum gesprochen hatte, vermutet, dass sein Tod in Zusammenhang mit AAS gestanden haben könnte.
Es wird mehr Anabolika als Kokain konsumiert Das Arud Zentrum für Suchtmedizin in Zürich geht in der Schweiz von aktuell knapp 250'000 Personen aus, die AAS konsumieren oder dies in der Vergangenheit getan haben. Das sind mehr Menschen, als regelmässig Kokain konsumieren. In Deutschland wird geschätzt, dass zwischen 400'000 und 700'000 Personen Anabolika konsumieren oder konsumiert haben, was etwa 2,6 % der männlichen Fitnessbesucher entspricht. Die Zahlen sind jedoch älter und kaum genau zu beziffern.
Auch in Österreich gibt es Schätzungen, die darauf hinweisen, dass etwa 2 % der Fitnessbesucher Anabolika verwenden. Der Konsum zu Dopingzwecken ist im ganzen deutschsprachigen Raum verboten, die Dunkelziffer hoch.
Transparenz gegenüber der Ärztin Lucien nimmt Testosteron nach eigenen Angaben in «geringen Mengen» ein. Er behauptet, wie viele andere auch, dass sein Konsum verantwortungsvoll sei und er dies auch seiner Ärztin offengelegt habe. «Ärztliche Kontrollen sind wichtig, falls etwas aus dem Ruder läuft – wenn die Leberfunktion nachlässt oder die Nieren überlastet sind», sagt er. «Es lohnt sich nicht, das den Ärzt*innen vorzuenthalten.» Seine Ärztin schickte ihn umgehend zum Kardiologen, um die Herzgesundheit zu überprüfen. Dessen Fazit: Alles im grünen Bereich.
Lucien nimmt das Steroid in Zyklen ein und passt die Dosierung an, damit sich der Körper an Zu- und Abnahme von Muskelmasse gewöhnen kann. Daher schliesse er aus, dass die Depression durch seinen Konsum ausgelöst worden sei. «Depression kann eine Folge sein, wenn man Anabolika von einem Tag auf den anderen absetzt und der physiologische Spiegel zu schnell abfällt», sagt er.
Der Versuchung, mehr oder andere Anabolika zu konsumieren, um den vermeintlichen Bauchansatz loszuwerden, konnte Lucien während seiner Depression widerstehen. Dies schreibt er seinem Verantwortungsbewusstsein sich selbst gegenüber zu. «Es gibt natürlich noch andere Substanzen, aber ich wusste genau, dass ich diese nicht vertrage. Da bekomme ich Herzstolpern und andere Probleme. Das war es mir dann doch nicht wert», sagt er.
«Insbesondere homosexuelle Männer scheinen besonders durch diese Konsumform betroffen zu sein»
Raphael Magnolini, Arud Zentrum für Suchtmedizin
Gemäss Raphael Magnolini, Assistenzarzt Innere Medizin bei Arud, haben Popularität und Verbreitung des Anabolikakonsums in den letzten Jahren wahrscheinlich erheblich zugenommen. «Insbesondere homosexuelle Männer scheinen besonders durch diese Konsumform betroffen zu sein», sagt er gegenüber MANNSCHAFT. Gefährdet seien auch junge Männer. «Eine grössere Umfrage unter Schweizer Jugendlichen hat gezeigt, dass rund 75 % der männlichen Befragten mit ihrem Körper unzufrieden sind», sagt er.
Bei Anabolika sei die Entwicklung einer Abhängigkeit häufig, bei Konsumstopp können Entzugssymptome und Absetzerscheinungen auftreten. «Nicht selten findet neben dem Konsum von Anabolika ein Mischkonsum mit anderen illegalen Substanzen statt, bei welchem Gesundheitsrisiken kumulieren können», so Magnolini. «Ein weiteres Risiko sind gefälschte Schwarzmarktpräparate, da diese Substanzen meist aus dem Internet oder von anderen Konsumierenden bezogen werden und nicht aus der Apotheke.»
In Zusammenarbeit mit dem Drogeninformationszentrum der Stadt Zürich (DIZ) lancierte Arud ein Drug-Checking-Angebot, bei dem Konsumierende ihre Anabolika einmal im Monat gratis und anonym testen lassen können. Beim Pilotversuch im Herbst 2023 stellte sich heraus: Drei Viertel der getesteten anabolen Steroide enthielten falsch deklarierte Wirkstoffe oder eine falsche Konzentration.
Das Arud Zentrum bietet zudem Unterstützung beim Konsumstopp an. Dazu gehören das kontrollierte Absetzen von Anabolika mittels der nötigen medikamentösen Unterstützung, die Behandlung der körperlichen und psychischen Folgen durch den Konsum sowie die Beratung und Aufklärung.
«Im Vordergrund unserer Behandlung steht immer die Verbesserung der Lebensqualität und die Verminderung von gesundheitlichen Schädigungen, die durch den Substanzkonsum entstehen können», sagt Magnolini. Seit der Eröffnung im Sommer letzten Jahres konnte das Arud Zentrum rund 100 Menschen behandeln. «Die Zahlen variieren jedoch teilweise stark, da es sich auch häufig um ein saisonales Phänomen handelt», sagt er. «Menschen wollen insbesondere im Sommer ihre Speedo-Figur erreichen.»
Schaulaufen in der Gay-Szene Thomas Ramseier nimmt auch Testosteron ein, allerdings in Form einer individuellen Behandlung des Guillaume-Barré-Syndroms (GBS). Die Autoimmunerkrankung löst beim Pflegefachmann und medizinischen Massagetherapeuten eine Muskelschwäche in den Armen aus, sein Arzt verschrieb ihm eine niedrige Dosis Testosteron im Rahmen einer Hormonersatztherapie. Dies ist jedoch keine standardisierte Behandlung von GBS. Thomas bat darum, da er in Studien von möglichen positiven Effekten von Testosteron auf das Nervensystem gelesen hatte. Diese sind jedoch nicht allgemein anerkannt.
Als Kraftsportler fiel Thomas die Wirkung des Steroids im Fitnessstudio auf: mehr Leistung, mehr Muskelmasse. Er ertappt sich manchmal dabei, darüber nachzudenken, welche Ergebnisse eine höhere Dosis Testosteron bei ihm hätten. Solche Gedanken kommen ihm, wenn er sich durch Apps wischt oder im Strandbad Tiefenbrunnen in Zürich – ein beliebter Treffpunkt der Zürcher Gay-Szene im Sommer – andere schwule Männer sieht. Das «Schaulaufen» sei schon immer Teil der Community gewesen, allerdings habe der Körperkult unter schwulen Männern extreme Ausmasse angenommen und sei nun auch in den sozialen Medien angekommen.
«Wenn ich die muskelbepackten Kerle sehe, löst das bei mir eine Unzufriedenheit aus. Instagram ist Gift.»
Thomas Ramseier
«Wenn ich die muskelbepackten und durchtrainierten Kerle sehe, löst das bei mir eine Unzufriedenheit aus. Instagram ist Gift», sagt Thomas. Solche Bilder lassen ihn den Drang verspüren, noch intensiver zu trainieren, noch kritischer auf die Ernährung zu achten. Er versucht mit Relativierungen entgegenzuhalten. «Erstens bin ich 55 Jahre alt und sie sind 30», sagt er. «Zweitens sind sie mit irgendwelchen Substanzen vollgepumpt.»
Mit Strategien zurück in den Alltag Relativierungen sind auch Teil der kognitiven Verhaltenstherapie, die Lucien seit seiner Diagnose im Alltag anwendet. «Die Influencer sind jünger als du.» Oder: «Sie haben keine Karriere neben dem Gym. Sie haben mehr Freizeit als du.» Wenn Lucien in den Spiegel schaut und eine Unzufriedenheit mit einer Körperstelle verspürt, macht er einen Schritt zurück und konzentriert sich auf Stellen, die Fortschritte gemacht haben und die ihn glücklich machen.
Um eine Negativspirale abzuwenden, nimmt er sich mehr Zeit für die Körperpflege, gönnt sich eine Massage oder geht spazieren. Er reduzierte den Konsum von Instagram, löschte Konten und verwendete nur noch den persönlichen Feed statt der Explore-Seite. Letztere Funktion zeigt besonders beliebte Posts und Reels von Konten an, denen man noch nicht folgt.
Links und Anlaufstellen
Deutschland
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung – drugcom.de
Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen – dhs.de
Österreich Österreichische Gesellschaft für Suchtmedizin (ÖGS) – oegabs.at Drug-Checking – checkit.wien
Schweiz Arud Zentrum für Suchtmedizin – arud.ch Drug-Checking – saferparty.ch
Eine weitere Massnahme ist das Bewusstsein, dass die eigene Wahrnehmung des Körpers sich nicht mit der Wahrnehmung anderer deckt. Als ein 25-Jähriger mit Waschbrettbauch Lucien via Grindr auf ein Date einlädt, lehnt er zuerst ab aus Angst, er würde sich neben ihm nicht gut genug fühlen. Der 25-Jährige entgegnet: «Bei deinen Muskeln wäre ich derjenige, der sich schlecht fühlen müsste!»
Sowohl Lucien als auch Thomas Ramseier sehen in den sozialen Medien wie Instagram einen Gefahrenherd, was das Propagieren von Körperidealen angeht. Raphael Magnolini von Arud stimmt ihnen zu: «Der Einsatz von Anabolika wird insbesondere durch die sozialen Medien zusätzlich gefördert.»
Gleichzeitig gilt der Konsum von Anabolika als Tabu, Gespräche darüber sind oft schambehaftet. Fitnessstudios weigerten sich, Flyer über das Drug-Checking-Angebot aufzuhängen. In Fitnessforen wurden die Einträge des Arud und des DIZ gelöscht. Lucien will seine Geschichte erzählen, damit sich andere nicht in negativen Gedanken verlieren, weil sie sich von Körperidealen leiten lassen. «Vielleicht hilft es ja jemandem, sich rechtzeitig Hilfe zu holen», sagt er.
«Eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper gehört zum Geschäftsmodell von Fitnessstudios» – Interview mit Roland Müller ist Angebotsleiter für Muskel- und Fitnesssucht bei der Fachstelle Prävention Essstörungen Praxisnah (PEP) des Inselspitals Bern.
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