Drag-Führungen durchs Museum: «Queers sind hier, um zu bleiben!»

Dragqueen Dancingsven macht eine Führung durch die Kunsthalle Hamburg
Dragqueen Dancingsven macht eine Führung durch die Kunsthalle Hamburg (Bild: Stephan Bischoff)

Mit einem bundesweit wohl einzigartigen Gesamtkonzept hat die Hamburger Kunsthalle für ihre queeren Besucher*innen ein vielfältiges Angebot geschaffen. Eine ausgesprochen beliebte Facette bilden die Museumsführungen durch Drag-Artists.

Es ist ein durchaus sehr gemischtes Publikum, das sich an diesem Donnerstagabend, Anfang April, in der Hamburger Kunsthalle zu einer der derzeit monatlich stattfindenden Museumsführungen durch Drag Künstler*innen zusammengefunden hat. 

Neugier und gespannte Erwartungshaltung liegen dabei in der Luft. Längst haben sich die monatlich stattfindenden Drag - Führungen durch den Hamburger Kulturtempel zu einem echten Renner in der Publikums Gunst entwickelt. Karten ohne rechtzeitige Buchung – aussichtslos. 

Die Termine sind in der Regel bereits Wochen im Voraus ausgebucht. Wechselnde Dragqueens und -kings bieten in einer 90-minütigen Tour durch das Museum ganz einzigartige Einblicke in die Sammlung der Hamburger Kunsthalle und ermöglichen philosophische Exkurse sowie partizipative Momente, wie die Kunsthalle ihr Konzept selber umreisst. 

Begleitend gibt der Kulturwissenschaftler, Performer und Kunstvermittler Simon Schultz weitere Hintergrundinformationen und sorgt für die kunsthistorische Einordnung der erlebten Werke.  

An diesem Abend ist es Dragqueen Dancingsven, die die Gruppe mit auf eine thematische Reise durch die Hamburger Kunsthalle nimmt. Roter Faden der Tour an diesem Abend sind botanische Betrachtungen, angelehnt an eine der grossen Leidenschaften von Dancingsven. Die unterschiedlichen Dragqueens und –kings stellen je nach ihren persönlichen Hintergründen jeweils ganz unterschiedliche Themenschwerpunkte in das Zentrum ihrer Führungen. (In Wien gab es das auch schon mal – zur MANNSCHAFT-Story).

Ein erstes, erstauntes «Ach was…» einiger Teilnehmer*innen nach der Verkündung des thematischen Aufhängers der Tour weicht bereits nach wenigen Augenblicken einem herrlich unbeschwerten, humorvollen und interessanten Erlebnis. Fern jedweder moralinsaurer Betroffenheitsbetrachtung, ist dieser Abend vor allem eines – in höchstem Masse entertainend! Das ist beste Drag Art, voller Selbstironie, gerne mal bissig, offen, auch mal frech und frivol ohne dabei geschmacklos oder ordinär zu wirken. Und in der Interaktion von Dancingsven und Simon Schultz unbezahlbar. 

«Kennen Sie sich mit Masturbation aus?»

Dragqueen Dancingsven

Nicht häufig dürften andernorts im Rahmen von Museumstouren Sätze wie «Kennen Sie sich mit Masturbation aus?» fallen. So hat Dancingsven die Tourbesucher*innen in wenigen Minuten im Boot. Der Abend entwickelt sich schnell zu einem interaktiven Erlebnis für alle Beteiligten. 

Anhand von ausgesuchten Kunstwerken werden die in den Bildern dargestellten, botanischen Elemente näher beleuchtet. Teilweise werden sie als inhaltliche Chiffren identifiziert, zum Teil werden sie als Brücke zum Oeuvre der Künstler*innen, der Bildaussage oder der Entstehungszeit genutzt.

Natürlich werden auch queer- und gesellschaftspolitische Betrachtungen abgeleitet, doch an diesem Abend stehen sie eher auf angenehm selbstverständliche, authentische und manchmal ganz und gar überraschende Schlussfolgerungen nicht zwingend oder gar verkrampft im Fokus der Betrachtungen. 

Dragqueen Dancingsven macht eine Führung durch die Kunsthalle Hamburg
(Bild: Stephan Bischoff)

Dennoch entstehen kleine und doch kostbare Momente, etwa wenn bei der Betrachtung eines Altarbildes aus dem Hoch-Mittelalter der recht prominent im Bild platzierte Löwenzahn zunächst zum Zitat eines sehr lyrischen Textes genutzt wird.  

Da wächst 'ne gelbe Blume aus'm Dreck An einem Fleck, an dem sonst keine Blume wächst Keiner beachtet sie, alle trampeln drauf Doch sie gibt nicht auf, was die Rose kann, das kann sie auch Wir kämpfen, bis wir irgendwann mal Pusteblumen sind Und wir warten auf den Wind.

Das befragte Publikum vermutete als Urheberschaft hinter den Zeilen Namen wie Ringelnatz, Zille oder ähnliche Künstler*innen, während die Auflösung dann doch für grosses Staunen sorgt: Rapper Sido war es, der die rauen und gleichermassen schönen Zeilen zum Löwenzahn schuf. 

Nach einem botanischen Exkurs zur grossen Resilienz des kleinen Löwenzahns und der regenerativen Kraft seiner Pfahlwurzel, folgt dann Dancingsvens Aussage, «Das ist für mich dann auch ein wenig das Queere am Löwenzahn. Auch queere Menschen waren schon immer da und gehen nicht wieder weg. Wir sind hier um zu bleiben!». So wird die individuelle Distanz zu einem Bild aus dem Thomasaltar aus dem Jahr 1446, dessen Bildaussage mit der aktuellen, individuellen Lebenssituation vieler, nicht nur queerer Menschen eher weniger gemein hat, ganz plötzlich durch einen kleinen Löwenzahn überwunden.

Vor allem ist dieser Abend jedoch geeignet Kunst erlebbar zu machen, Berührungsängste und Distanz, soweit vorhanden abzubauen und auch einmal ganz neue Aspekte in eventuell bereits bekannten Kunstwerken zu entdecken.

Wer hätte beispielsweise gedacht, dass Künstler*innen vor hunderten von Jahren die in ihren Werken erfassten Pflanzen derart naturalistisch wiedergaben, das moderne Pflanzenerkennungs-Apps diese identifizieren können? Das dieser Abend ein hohes Mass an Arbeit, Fleiss und Vorbereitung erforderte, wird Jedem klar, der auch nur 5 Minuten an dem Rundgang teilnimmt. 

Simon Schultz liefert im stetigen Wechsel mit Dragqueen Dancingsven spannende kulturhistorische Informationen, etwa zur Beziehung von Maler Anselm Feuerbach und Anna Risi, deren Porträt vor einem üppigen Feigenbaum und einer rotblühenden Kamelie ebenfalls Bestandteil der Tour ist. Auch Themen wie Genderfragen, emanzipatorische und feministische Bewegungen oder Polyamorie werden im Kontext verschiedener Kunstwerke aufgegriffen.

Doch nie angestrengt, belehrend oder fordernd, immer ganz organisch, humorvoll, interessant und mit einer unverkrampft offenen Sprache, wie sie dann eben in einem queeren Umfeld vermutlich doch eher selbstverständlicher ge- und erlebt wird. Dies mag unter Umständen auch daran liegen, dass das gesamte queere Angebot der Kunsthalle Hamburg nicht auf die Initiative einer PR-Agentur, sondern vor allem auf die Initiative einer queer politisch engagierten Mitarbeiterin des Hauses zurückgeht. Es ist gewissermassen aus der Community heraus für die Community entstanden. 

Schultz erklärt, die queeren Angebote seien auf Initiative eben jener Mitarbeiterin vor 2 Jahren entstanden, die sich im Hause verschiedene «Kompliz*innen» gesucht habe. Neben den Dragführungen umfasst das Angebot auch ein Salon-Format mit Lesungen, Vorträgen, Performances, Diskussionen, Konzerten oder Workshops, sowie kunsthistorische Führungen unter dem Oberbegriff «Der queere Blick in der und auf die Kunst». 

Gefragt, ob es grosse Widerstände gegen das Konzept gegeben habe, stellt Simon Schultz fest, dass es vor allem eine gute Idee brauchte und Leute die die tatsächliche Umsetzung gewährleisteten. Das Haus selber habe von Beginn an sehr offen und unterstützend agiert. Nicht zuletzt auch da sich das Konzept sehr schnell, als beim Publikum sehr erfolgreich erwiesen habe. Nach der Initialzündung für das Konzept gefragt, berichtet Schultz, der Initiatorin sei aufgefallen, das im Rahmen des umfangreichen Programms der Kunsthalle Hamburg lange ein queeres Angebot fehlte, ein Angebot, das Queerness in der Kunsthalle sichtbar macht. 

Dragqueen Dancingsven macht eine Führung durch die Kunsthalle Hamburg
(Bild: Stephan Bischoff)

Als einen ganz besonderen Moment im Rahmen der ersten Dragführung, beschreibt Schultz ein Gespräch mit einem sehr kunstinteressierten Gast, der sagte: »Wow, endlich traut sich mal Jemand die Worte schwul, lesbisch und queer in der Kunsthalle offen in den Mund zu nehmen!» Jener Gast habe sich bisher bei seinen Besuchen in der Kunsthalle nie wirklich angesprochen gefühlt, nun fühle er sich auch individuell adressiert und gesehen. Seitdem habe dieser Gast bisher jede Dragführung in der Kunsthalle Hamburg besucht. 

Doch nicht nur das Publikum reagierte positiv, so sei beispielsweise das Format der Dragführungen auch bei den Hamburger Drag – Kunstschaffenden auf sehr fruchtbaren Boden gefallen und werde von diesen mit grossem Engagement mitgetragen. Auch weil es eine neue Herausforderung darstelle, weil das Programm etwas Schönes und Spannendes darstelle, so Schultz weiter. Wie sehr die Dragqueens- und -Kings für die Sache brennen wird deutlich, wenn Dancingsven - deren Tour-Premiere der Autor dieser Zeilen übrigens an diesem Abend miterleben durfte – berichtet, wie sich das Programm seit Oktober gedanklich und thematisch entwickelte. 

Das Outfit, ein einzig wahr gewordenes, florales Statement, gar in Spanien entdeckt und erworben wurde, um zum Abendprogramm bei zu tragen. Besonders hebt Dancingsven die erlebbare Wertschätzung für queere Kulturschaffende hervor, die eben nicht nur als schmückendes Beiwerk geladen werden um der Kunsthalle zu einem bunteren Bild in der Aussendarstellung zu verhelfen, sondern im Rahmen etwa der Dragführungen im Mittelpunkt stehen. 

Gefragt nach der Zusammensetzung des Publikums, berichtet Simon Schultz, die Dragführungen haben immer unterschiedliche Anteile im Publikum. Neben ausgewiesenen Fans der jeweiligen Dragqueens und – Kings seien immer ausgesprochen junge Leute dabei, aber auch ältere Besucher*innen, sowohl dem eher klassischen Bildungsbürgertum und eher ohne queeren Hintergrund zuzuordnen, als auch Besucher*innen, die bisher eher nicht Museumsbesuche in ihre alltägliche Lebensrealität integriert haben. Gerade hierin sieht Schultz einen besonderen Wert des Veranstaltungsformates. 

So würden eben diese unterschiedlichen Hintergründe sich wiederum sehr spannend auf die Führungen auswirken, da die Themen, Werke und auch die Drag-Elemente eben auf unterschiedlichste Blickwinkel träfen und damit auch verschiedenste Reaktionen auslösten. Dies führe genau dazu, dass es nicht zu einer rein konsumtiven Gruppen Bespassung, sondern zu einem echten Austausch im Rahmen der Führungen kommen könne. 

Drag-Artist Dancingsven erläutert ergänzend die Herausforderung dieses doch zumindest optisch recht durcheinandergewürfelten Publikums, bei dessen ersten Anblick die Frage aufgekommen sei, ob die wohl alle bis zum Schluss dabeibleiben würden, ob diese Vielfalt des Publikums im Rahmen der Führung funktionieren würde. Sie blieben und die Vielfältigkeit hat funktioniert! Nach 90 ausgesprochen kurzweiligen Minuten gab es nicht nur begeisterten Applaus, sondern auch vielfach den etwas wehmütigen Seufzer, «Schade, schon vorbei». 

Wer selber einmal eine der Drag-Führungen in der Hamburger Kunsthalle erleben möchte, der kann sich hier informieren. Rechtzeitige Buchungen sind absolut zu empfehlen! 

Von: Stephan Bischoff

Mit mutigen queeren Geschichten machte sich Angelina Maccarone einen Namen – nun kehrt die preisgekrönte Regisseurin nach über einem Jahrzehnt mit «Klandestin» auf die grosse Leinwand zurück. Ein Interview über das Aneinander-Vorbei-Leben und die Queer-Sättigung der Filmbranche (MANNSCHAFT-Interview).

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