Diversity an deutschen Unis: Was Jendrik Sigwart in Osnabrück lernte

Der deutsche Vertreter beim Eurovision Song Contest 2021 tritt mit einem Song an, der sich für Diversität und gegen Hass ausspricht. Dinge, die für den schwulen Dekan der Musikhochschule Osnabrück, an der Jendrik Sigwart studierte, besonders wichtig sind

Jendrik Sigwart (l.) & Professor Sascha Wienhausen (Foto: Christian Charisius/dpa & GB Kommunikation Hochschule Osnabrück)
Jendrik Sigwart (l.) & Professor Sascha Wienhausen (Foto: Christian Charisius/dpa & GB Kommunikation Hochschule Osnabrück)

Professor Sascha Wienhausen (54) ist der Dekan der Musikhochschule Osnabrück, wo Jendrik Sigwart das Rüstzeug bekam für seine Musical-Karriere und natürlich auch für seinen ESC-Auftritt. Hat der 26-Jährige dort auch gelernt, Diversität zu zelebrieren und selbstbewusst auf Hass zu reagieren, wenn Menschen ihn als «Schwuchtel» beschimpfen? Wir sprachen mit Wienhausen über Diversity-Programme an der Hochschule, darüber, wie sich die queeren Musical-Studierenden mit den Agrar- und Forstwirtschaftler*innen vertragen und was Gleichstellung jenseits von Frauenquoten bedeutet. Und darüber, wie er die Zukunftschancen für Jendrik sieht als Moderator, z. B. der Sportschau.

Wie ist das für dich als Dekan, dass deine Institution plötzlich in sämtlichen deutschsprachigen Medien Schlagzeilen macht, von der BILD-Zeitung bis zur Tagesschau? Das ist natürlich erfreulich. (lacht) Wir mussten diesmal gar nicht versuchen, irgendwelche Storys in der Presse zu lancieren, die vielleicht interessant sein könnten, sondern das Thema kam zu uns. Ohne, dass es gross Arbeit gemacht hätte. Und das ist toll, auch weil Jendrik nie vergisst zu erwähnen, dass er bei uns seine Ausbildung gemacht hat. Das spricht ja dafür, dass die Ausbildung für ihn gut war. (lacht) Das ist eine grosse Freude für mich und für uns. Hier sind alle ganz aufgeregt, Teil von so etwas wie dem ESC sein zu können und dem damit verbundenen Medienrummel, also Teil einer Welt zu sein, die man sonst nur als Aussenstehender betrachtet, als Publikum. Und natürlich freue ich mich über seinen Video-Clip. In diesem Waschsalon sind noch drei weitere Studierende aus unserem Musical-Studiengang dabei. Und bei der Produktion selbst machen hinter der Kamera noch ganz viele andere Studierende aus Osnabrück mit. (MANNSCHAFT berichtete über den Song.)

Du hast gerade gesagt, du musstest nichts dafür tun, das diese Geschichte zu euch kam. Aber du bzw. der Studiengang Musical hat ja Jendrik zu dem gemacht, der er jetzt ist. Erkennst du etwas von der Ausbildung wieder im fertigen ESC-Produkt? Ja, ganz viel. Er ist stimmlich total souverän, das merkt man besonders bei seinen vielen Live-Auftritten, die er absolviert. Es gehört zu seinem Handwerk, dass er mal eben aus dem Stehgreif musikalisch brillieren kann, sauber singt und nebenbei auch noch ein Instrument bedient. Ausserdem steppt er in seiner Performance, seine tänzerischen Fähigkeiten kommen also stark zum Ausdruck, was er u.a. mit seinem Auftritt bei Florian Silbereisen demonstriert hat. Diese Kompetenzen hat er bei uns erworben. Zudem hat er eine entwaffnende Direktheit und Authentizität, Dinge, auf die wir in der Ausbildung viel Wert legen. Wahrscheinlich war es für ihn auch ein Glück, dass bei uns in Osnabrück der Musical-Studiengang eng an den Pop-Bereich angeschlossen ist. Das heisst, unsere Studierenden können auch in Songwriter-Seminare gehen und andere Kurse belegen, die normalerweise nicht zum reinen Musical-Studium gehören. Dadurch hat Jendrik gelernt, nicht nur eine bestimmt Musical-Rolle zu erfüllen, sondern seine ganz eigene Performance-Figur zu entwickeln.

Es gab wegen der #ActOut-Kampagne kürzlich viel Diskussion darüber, wie divers und offen Deutschland im Bereich Schauspiel und Film/Fernsehen für Darsteller*innen ist, die nicht als heteronormativ gelesen werden können. (MANNSCHAFT berichtete.) Wie ist das im Bereich Musical? Ich glaube, dass die #ActOut-Kampagne grossartig ist. Ich freue mich auch, dass es eine Nachfolge-Initiative beim Fussball gab bei den 11 Freunden. (MANNSCHAFT berichtete.) Wir sind leider weit davon entfernt, dass nicht-heteronormative Menschen zum selbstverständlichen Allgemeinbild unserer Gesellschaft gehören.

Gehören sie zum Allgemeinbild des Studiengangs Musical? Wir haben schon immer versucht, in unseren Hochschul-Inszenierungen Charaktere nicht mit Leuten des Geschlechtes zu besetzten, das eigentlich vorgeschrieben ist. Weil es ja darum geht, einen Mann oder eine Frau zu spielen und nicht unbedingt zu sein. Jede Figur kann auch anders gelesen werden.

Jendrik Sigwart (l.) und Myriam Küppers in der Hochschulproduktion von Paul Abrahams Jazz-Operette «Die Blume von Hawaii» (Foto: Swaantje Hehmann / GB Kommunikation Hochschule Osnabrück)
Jendrik Sigwart (l.) und Myriam Küppers in der Hochschulproduktion von Paul Abrahams Jazz-Operette «Die Blume von Hawaii» (Foto: Swaantje Hehmann / GB Kommunikation Hochschule Osnabrück)

Hat Jendrik bei solch einer Inszenierung mitgemacht? Ja, bei «Die Blume von Hawaii», eine Jazz-Operette von Paul Abraham aus dem Jahr 1931. Er sang damals den Song «Bin nur ein Jonny», in dem es um die Ausgrenzung von Schwarzen geht. Wir haben versucht die Routine zu durchbrechen, dass unsere farbigen Studierenden automatisch und ausschliesslich auf farbige Rollen festgelegt werden. Stattdessen wollten wir möglichst selbstverständlich mischen und alle alles spielen lassen, um ihren Horizont zu erweitern. Im letzten Stück, das wir an der Hochschule mit Studierenden gemacht haben, «Ruthless», gab es eine Mutterfigur, die von einer Schwarzen gespielt wurde, mit einer weissen Tochter, also «Colorblind Casting». Man merkte im Spiel, dass es um mehr geht als ethnische Zugehörigkeit oder Identitätspolitik. Wir haben auch zwei Frauenrollen mit Männern besetzt. Es sollte unwichtig sein, wer oder was man ist, sondern nur zählen, was man darzustellen hat. Das ist der Job. Das zu vermitteln ist uns in Osnabrück wichtig.

Marit Loik in «Die Blume von Hawaii» (Foto: Swaantje Hehmann / GB Kommunikation Hochschule Osnabrück)
Marit Loik in «Die Blume von Hawaii» (Foto: Swaantje Hehmann / GB Kommunikation Hochschule Osnabrück)

Diversity wird bei euch gross geschrieben, oder? Das Gesetz schreibt sowieso vor, dass Betriebe von unserer Grössenordnung eine Gleichstellungsbeauftragte haben müssen. Aber der Begriff wird bei uns an der Hochschule nicht so eng gesehen wie anderswo, also nicht reduziert auf eine Gleichstellung von Mann/Frau, sondern mit starkem Fokus auf «divers». Wir haben kürzlich die Stelle des hauptamtlichen Vizepräsidenten – also die zweitwichtigste Stelle an der ganzen Hochschule, wo’s 14.000 Studierende gibt – so ausgeschrieben, dass drin stand, dass bei gleicher Eignung Menschen mit diverser Sexualität bevorzugt werden, neben den anderen Gruppen, die auch genannt wurden. Ich kann mich nicht an eine Stellenausschreibung für solch eine Position anderswo erinnern, wo etwas Derartiges bisher  formuliert worden wäre. Ich selbst bin als Leiter einer Musikhochschule der einzige nicht-heteronormative Mensch im deutschsprachigen Raum, soweit ich das überblicken kann. Da merkt man, dass gerade in der klassischen Musikwelt – und die meisten Musikhochschulen sind klassisch geprägt – Berührungsängste vorhanden sind.

Gilt das auch für die Welt des Musicals? Der Bereich Musical ist traditionell sehr divers und ist immer schon ein Ort gewesen, wo nicht-heteronormative und auch nicht-binäre Menschen sich zu Hause gefühlt haben. Musicals sind so etwas wie eine kleine Insel, auf der sie sich frei fühlen konnten. Weswegen auch viele LGBTIQ sich zu diesem Berufsfeld hingezogen fühlen, statt zum Beispiel Maschinenbau zu studieren. Weil sie wissen, da ist es mit ihrer queeren Identität nicht ganz so einfach.

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Man kann in Osnabrück auch Agrar- und Forstwirtschaft studieren sowie Ingenieurswesen. Wie sieht’s da mit Diversity aus? Wir haben für alle Fachrichtungen einen übergeordneten gemeinsamen Senat, dem höchsten Beschlussgremium der Hochschule. Dort sind Diversity-Themen nicht besonders präsent, weil dort Leute aus dem Bereich Gartenbau oder IT sind, viele Ingenieure und Techniker. Denen ist das Thema eigentlich fremd. Ich versuche natürlich, in diesen Gremien eine Sensibilisierung für Diversity und LGBTIQ zu schaffen und bringe mich stark ein. Aber es war tatsächlich so, dass mein eigener Outing-Prozess im Senat nicht ganz unproblematisch war. Ich habe mein Outing nicht forciert, weil es für mich gar nichts Besonderes war. Trotzdem merkte ich, als das Thema auf den Tisch kam, dass geschluckt wurde in gewissen Fakultäten und ein bisschen komisch geguckt. Deshalb ist es wichtig, dass wir ein gut organisiertes Gleichstellungsbüro haben, das nicht nur an die Gleichstellung von Frauen und Männern denkt, sondern breiter ausgerichtet ist.

Ich kann mir fast nicht vorstellen, dass in den letzten Jahren in Deutschland an einer Hochschule noch geschluckt wurde, weil jemand offen schwul ist! Es hat natürlich keiner was gesagt, aber es war erst mal Stille im Raum. Es ging um ein sehr hohes Amt, auf das ich mich beworben hatte. Es ist dann an eine Frau gegangen, mit der Argumentation, es sei doch jetzt mal wichtig, dass es eine Frau wäre. Ich habe darauf hingewiesen, dass man in meinem Bereich durchaus von intersektionaler Diskriminierung betroffen sei. Da wurde komisch geguckt. So als ob schwule weisse Männer bereits genug beteiligt seien. Die unterschwellige Diskriminierung, die weiterhin existiert, ist vielen schlichtweg nicht klar. Oft herrscht die Attitüde: «Ich hab kein Problem mit deinem Schwulsein; was du zuhause machst, ist deine Sache; aber müssen wir darüber hier reden?»

Sascha Wienhausen, der Dekan des Instituts für Musik (IfM) in Osnabrück (Foto: GB Kommunikation Hochschule Osnabrück)
Sascha Wienhausen, der Dekan des Instituts für Musik (IfM) in Osnabrück (Foto: GB Kommunikation Hochschule Osnabrück)

Und dann sind die Frauen auf der Überholspur, weil man bei ihnen über so etwas nicht reden muss? Wenn heute eine Frau auf Gleichstellung pocht, hält so gut wie jeder das für vollkommen legitim. Dass Diskriminierung viele Facetten haben kann, auch für schwule weisse Männer, ist oft nicht sofort sichtbar und wird deshalb gern ausgeblendet.  Dafür gibt’s keine besonders hohe Sensibilität, auch nicht von Seiten vieler Frauen.

Pascal Schürken als Sylvia St. Croix im Musical Pascal Schürken in «Ruthless»
Pascal Schürken als Sylvia St. Croix im Musical Pascal Schürken in «Ruthless»

Wie sieht denn Diversity im Musical-Alltag aus? Da gibt’s u.a. einen «positiven» Rassismus, zum Beispiel wenn irgendwo eine Jazz-Combo auftritt. Viele denken dann, es würde besonders schick rüberkommen, wenn vorne eine Schwarze als Sängerin steht, weil man davon ausgeht, dass sie mehr Kompetenz in Bezug auf Blues und Jazz hat. Solche Diskriminierungen – sowie viele andere – sind nicht ganz so stark sichtbar gemacht worden in den letzten Jahren. Deswegen glaube ich, dass wir da als «anders» diskriminierte Menschen einen Schritt hinter der Frauenbewegung stehen. Obwohl Schwule auch hart und erfolgreich dafür gekämpft haben, dass sich etwas ändert.

Wie viel Diversity können denn die Studierenden erwarten, wenn sie die Hochschule verlassen und in die kommerzielle Musical-Wirklichkeit in Deutschland eintreten? Es gibt den Zweig der grossen kommerziellen Shows. Da würde ich sagen, dass es eine grosse Durchlässigkeit gibt. Wir haben aber an normalen Stadt- und Staatstheatern, wo der andere Teil stattfindet, in führenden Positionen wenige offen homosexuelle Menschen, noch weniger non-binäre Personen. Und dann hört man oft, auch in Bezug auf die Ausbildung: «Aber der muss doch später einen richtigen Mann spielen können bzw. sie eine richtige Frau!» Da stellt man sich die Frage, was das heissen soll? Es gibt viele stereotype Vorstellungen, wie «man» besetzt. Deswegen war die #ActOut-Kampagne so wichtig. Unsere LGBTIQ-Musical-Studierenden treffen auf zwei Welten, eine, wo sie sich relativ normal bewegen können, in Kontexten wo es fast ausschliesslich um Musical geht. Und dann ist da die Welt, wo sie lediglich als Gäste an typischen Drei-Sparten-Häusern engagiert werden, wo sie kaum zeigen können, was sie alles könnten, weil sehr nach Klischeerollenbildern besetzt wird.

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Wie würdest du die Musical-Szene in Deutschland vergleichen mit dem West End in London oder mit dem, was am Broadway passiert? Da sind wir in Sachen Diversity deutlich hinterher. Das liegt nicht unbedingt daran, dass wir weniger Musicals produzieren. Aber es gibt bei uns keine innovative Off-Szene. Und gerade da tummeln sich die vielen kleinen Produktionen, die etwas wagen, die noch nicht darauf schielen müssen, dass es sich verkauft. Der Bereich ist in Deutschland sehr klein. D.h. nicht, dass entsprechende Stücke hier nicht geschrieben werden, aber wo werden sie aufgeführt? Vielleicht gibt’s entsprechende Bühnen in Berlin oder Hamburg, aber das war’s.

Der Song von Jendrik heisst «I Don’t Feel Hate, I Just Feel Sorry». Er hat in einer Pressekonferenz gesagt, dass er damit versucht positiv zu reagieren auf die vielen Hass-Emails, die er bekommt, wo er u.a. als «Schwuchtel» beschimpft wird. Ist der Umgang mit solchen Kommentaren etwas, was Teil der Ausbildung ist? Wir haben unser Curriculum verändert. Beispielsweise haben wir eine Ringvorlesung installiert, in der wir uns intensiv mit genau solchen Themen auseinandergesetzt haben. Dadurch kam eine ganz andere Diskussion in Gang. Die Studierenden mussten zu dieser Ringvorlesung ein «Tagebuch» schreiben über acht Themen, die sie besonders interessierten. Tatsächlich waren es am Ende vor allem Themen, die um Gender und Diversity kreisten, mit denen sich die Studierenden besonders intensiv auseinandersetzen wollten.

Die IfM-Studierenden beim Tanzunterricht (Foto: GB Kommunikation Hochschule Osnabrück)
Die IfM-Studierenden beim Tanzunterricht (Foto: GB Kommunikation Hochschule Osnabrück)

Waren das auch Studierende der Agrar- und Forstwirtschaft? Nein, das waren nur Musikstudenten. Die Theaterpädagogen hatten sich auch eingeklinkt, das ist ein anderer Studiengang an einem anderen Studienort in Lingen. Die haben auch ein kleines Festival über Männlichkeit gemacht, wo gefragt wurde, was Männlichkeit überhaupt bedeutet. Ansonsten ist in den anderen Fakultäten noch nicht so viel los, was diese Themenbereiche angeht. Aber wir versuchen sie mitzunehmen. Wir haben viele Weiterbildungsmassnahmen, wo sich die Studierenden selber einklinken können. Dabei geht es viel um einen achtsamen Umgang miteinander. Und das wird innerhalb der ganzen Hochschule forciert.

Die jungen Mitwirkenden in Jendriks Song wirken alle easy going und happy. Gleichzeitig wird von vielen kritisiert, diese Generation sei unfähig, Ambivalenzen auszuhalten und reagiere oft hypersensibel. Was beobachtest du an Veränderung in den letzten Jahren? Ich nehme wahr, dass es eine grosse Empfindlichkeit gibt. Und diese schlägt in sehr unterschiedliche Richtungen aus. Es wird sehr empfindlich reagiert auf «falsche» Äusserungen, «falsches» Handeln. Es gibt eine grosse Empörungskultur, die dazu neigt, übers Ziel hinauszuschiessen. Da kommen die Studierenden untereinander auch stark in einen Diskurs, weil’s recht unterschiedliche Meinungen gibt und unterschiedliche Erfahrungshorizonte. Da wird sehr heterogen diskutiert. Wenn ich zum Beispiel zu den Gartenbauer*innen schaue, kann ich mir kein richtiges Bild machen, wie es da zugeht. Aber wir sind hier an einer Kunsthochschule. Und mein Eindruck ist, dass die Diskurse dort nicht aggressiv geführt werden, stattdessen sind die getragen von einer grossen Bereitschaft zuzuhören. Wir versuchen Studierende natürlich auch genau dahin zu bringen, indem wir sie mit entsprechenden Themen konfrontieren. In den pädagogischen Grundlagen reden wir viel über «Wording» … inwieweit sind Diskriminierungen und Grenzüberschreitungen bereits im Wording vorhanden? Da wird an vielen Stellen versucht zu sensibilisieren und zu begleiten. Das ist ganz wichtig. Es gibt Beratungsangebote und gezielte Schulungen.

«Cancel Culture»: Ein «Fehltritt» und du bist raus

Hilft das? Mein Eindruck ist, dass Studierende Orientierungshilfe brauchen. Sie haben immer häufiger Probleme, Dinge einzusortieren. Weil ihnen aufgrund ihrer Jungend manchmal ein Bezugsrahmen fehlt. Ich habe vor ein paar Jahren als Regisseur mit ihnen das Musical «Rent» gemacht und war schockiert, wie wenig die Studierenden über HIV wussten. Da gibt’s eine grosse Unkenntnis und damit verbunden teils eine Hilflosigkeit, wie man am besten mit so etwas umgehen soll. Was ich nicht verwunderlich finde, wenn man an das Internet denkt und sieht, wie da polarisiert wird. Das macht es für viele schwer, eine Orientierung für sich zu finden. Es ist unsere Aufgabe als Ältere und Lehrende Beurteilungskriterien weiterzugeben, aufzuzeigen, dass es mehr gibt als gut und böse, sondern einen unendlichen Zwischenbereich.

Ist es nach Conchita Wurst eigentlich noch mutig, einen offen schwulen, weissen, gutaussehenden jungen Mann zum ESC nach Rotterdam zu schicken? Wäre da nicht mehr Diversity vorstellbar gewesen? Das ist richtig, Conchita hat das Eis gebrochen. Die Diskussionen, die es um Conchita gab, die gibt es jetzt nicht mehr. Das, was es in Österreich damals an Anfeindungen gab, erleben wir heute nicht mehr. Damit muss sich Jendrik nicht auseinandersetzen.

Nun hat Conchita ja auch Gendermodelle viel radikaler in Frage gestellt als Jendrik… Ich glaube, dass hier jeder kleine Stein hilft, zu einem Umdenken zu führen. Und meines Erachtens werden es eher viele kleine Steine sein, die etwas bewegen, als ein grosser. Und es müssen viele sein, die solche Schritte wagen, um Sichtbarkeit zu erzeugen und Veränderung in den Köpfen zu festigen.

Die Studierenden des Studiengangs Musical bei einer Hochschulproduktion (Foto: GB Kommunikation Hochschule Osnabrück)
Die Studierenden des Studiengangs Musical bei einer Hochschulproduktion (Foto: GB Kommunikation Hochschule Osnabrück)

Jendrik ist seit drei Jahren weg von der Hochschule in Osnabrück. Hältst du Kontakt mit deinen ehemaligen Studierenden? Eigentlich ist es Gang und Gebe in Kontakt zu bleiben. Soweit es meine Zeit zulässt, versuche ich mir Produktionen anzugucken, an denen unserer Studierenden beteiligt sind.

Welche Musicals hat Jendrik seit Osnabrück gemacht? Er hat viel gemacht! (lacht) Er hat in «Comedian Harmonists» mitgespielt, er war in «Hairspray» und «Grease» dabei, er hat beim Wolfgang-Petry-Musical «Wahnsinn» mitgemacht. Er war eigentlich immer beschäftigt. Er hat auch die Hauptrolle in «Peter Pan» gespielt.

Wie wird das unter den aktuellen Studierenden diskutiert, dass einer ihrer ehemaligen Kommilitonen so im Rampenlicht steht? Da gibt’s eine wahnsinnige Freude. Alle sind super stolz und glücklich, alle fiebern mit und beobachten, wie es weitergeht. Jeder versucht Jendrik zu unterstützen, wo es geht. Sogar die Musical-Darsteller von anderen Hochschulen haben sich für ihn gefreut. Es ist ein bisschen wie eine kleine Familie, weit über den Standort Osnabrück hinaus.

Treten die Musical-Leute auch manchmal bei den Kommilitonen von der Agrar- und Forstwirtschaft auf, um Diversity unters Volk zu bringen? Ja, natürlich. (lacht) Sie sind bei allen Formen von Einführungsveranstaltungen, Weihnachtsfeiern, Bachelor-Vergabe usw. sehr beliebt und treten regelmässig auf. Das ist ganz interessant: Wir hatten vor vier Jahren den Studierenden Sebastian Jülich, der beim Bundeswettbewerb Gesang den 1. Preis im Bereich Chanson gemacht hat. Er ist eine sehr schillernde Person, die in Bezug auf Geschlecht schwer zu verorten ist. Und gerade Sebastian Jülich war bei den Forstwirtschaftler*innen und Pferdezüchter*innen total angesagt. Da gab es überhaupt keine Probleme. Das Schillernde und das Bunte werden gern genommen, problemlos, wenn man aber will, dass damit ganz normal umgegangen wird, dann stösst man an Grenzen.

Heisst das, unser stereotypes Bild von Agrar- und Forstwirtschaft ist genauso ausgrenzend wie andersherum das Bild von den «flamboyanten» Musical-Darsteller*innen? Das würde ich auf jeden Fall so unterschreiben. Gerade unsere Ingenieure lieben das IfM (Institut für Musik) und besuchen alle unsere Veranstaltungen. Die gesamte Hochschule, mit ihren 14.000 Studierenden, ist letztlich ein Abbild dessen, was später in der Gesellschaft passiert. Und unsere kleine Musikabteilung ist so etwas wie ein kultureller Motor im grösseren Gefüge, der extrem gut aufgenommen wird von den anderen. Wir sorgen für Wirbel und LGBTIQ-Sichtbarkeit. Und dazu gibt‘s keinerlei Vorbehalte bei den anderen Fachbereichen. Das stimmt mich für die Zukunft unserer Gesellschaft optimistisch.

Was kann jemand wie Jendrik nach dem ESC machen? Er bekommt aktuell etwas, was wie ein Lottogewinn ist. Er ist ein sehr freier, kreativer Kopf. Und so wie er sich jetzt präsentiert, werden sich in Zukunft viele Möglichkeiten ergeben, die er weiterentwickeln kann. Ich bin sicher, dass künftig viele Musical-Produktionen ihn haben wollen. Ich kann mir aber auch ganz andere Formate für ihn vorstellen, als Moderator oder Show-Macher.

Ob er mal die ARD-Sportschau moderieren wird? Das wäre ganz, ganz toll. (lacht) Tatsächlich glaube ich, dass der ESC-Auftritt ihm eine Carte blanche liefert für seinen weiteren Lebensweg. Ich finde es toll, dass er immer wieder betont, dass es beim Wettbewerb um das Event geht, ums gemeinsame Zelebrieren von Musik, um Gemeinsamkeit. Das klingt bei ihm nicht nach einem Marketing-Gag oder Plattitüde. Sondern ehrlich und glaubwürdig. Das muss man erst mal hinkriegen. Deshalb bin ich von ihm nicht nur künstlerisch beeindruckt, sondern auch davon, was er für die LGBTIQ-Community tut – auch wenn er nicht schwarz, nicht behindert, ohne Migrationshintergrund, nicht alt, übergewichtig usw. ist. Trotzdem ist es ein grosser Schritt, den er da für uns alle macht. Mit jedem Interview, das ich von ihm lese, steigt meine Hochachtung. Manchmal denke ich, man kann ja unmöglich immer alles richtig machen, aber irgendwie gelingt ihm das zurzeit.

Offenlegung: Unser Autor unterrichtet als Gastdozent am IfM Musical-Geschichte und hat bei der erwähnten Ringvorlesung im November 2020 einen Vortrag gehalten zu «Keep it gay! Die Beschäftigung mit LGBTIQ-Aspekten im Musiktheater: Veränderungen, Widerstände, Forderungen, neue Erkenntnisse».

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