«Carmen» in Berlin: Freispruch vom toxischen Narrativ

Das Gorki hinterfragt Bizets Oper aus queerer Roma-Perspektive

Theaterstück «Carmen», Gorki Theater Berlin
Lindy Larsson in «Carmen», Gorki Theater Berlin (Bild: Esra Rothoff)

Christian Weise sucht in seiner Inszenierung am Maxim Gorki Theater nach einem anderen Umgang mit dem «Carmen»Stoff. Herausgekommen ist ein sinnlich-satter Theaterabend.

Genau genommen begann die Entstehung der «Carmen»-Produktion des Gorki Theater am 14. September 2017. Da gelangte in Berlins buntestem Schauspielhaus das gegen toxische Zuschreibungen revoltierende Programm «Roma Armee» zu Uraufführung.

Zum Ensemble gehörten Romnija, Rom und Romani Traveller. Man versteht sich «übernational, divers, feministisch, queer» und setzte diese Produktion zu «Selbstverteidigungszwecken wegen strukturelle Diskriminierung, Rassismus und Antiziganismus».

Sieben Jahre später folgte nun eine Gorki-«Carmen» zum 150. Jahrestag der Uraufführung der weltweit bekanntesten und aufgrund ihres diffamierenden Frauenbildes zunehmend ungeliebten Oper Georges Bizets, welche am 3. März 1875 an der Pariser Opéra comique erst einmal Eklat machte.

Kurz vor der Berliner Premiere am 24. Januar kam die nächste Erfolgsmeldung: Das Gorki Theater wurde mit der Produktion «Unser Deutschlandmärchen» von Hakan Savaş Mican nach dem Roman von Dinçer Güçyeter als eine der zehn bemerkenswertesten deutschen Inszenierungen des Jahres zum Berliner Theatertreffen 2025 eingeladen.

Trotz der Absturzrisiken, welche einem solchen «Carmen»-Projekt andernorts durch schulmeisterliche Belehrungsattitüden, Besserwisserei und Manipulationen an der thematischen Mehrschichtigkeit der Oper und deren literarischer Quelle von Prosper Mérimée hätten drohen können, wurde es ein aufschlussreicher, wunderbarer, sinnlich-satter Theaterabend von Spezialist*innen, der «Carmen»-Kenner*innen von den anderen Opernufern und «Carmen»-Newcomer gleichermassen begeisterte.

v.l.n.r.: Catherine Stoyan, Till Wonka, Lindy Larsson, Via Jikeli & Marc Benner in «Carmen»
v.l.n.r.: Catherine Stoyan, Till Wonka, Lindy Larsson, Via Jikeli & Marc Benner in «Carmen» (Bild: Ute Langkafel, Maifoto)

Nach der Premiere kann man sich schwerlich einen anderen Cast vorstellen als die Beteiligten mitsamt dem jungen Gorki-Ensemblemitglied Via Jikeli, welche nach ihrer Mitwirkung in «Der Untertan» hier als strafversetzter Sergant Don José in das Rollenfach des vom patriarchalem Räderwerk kastrierten, beschädigten und verhetzten Mannes (und Mörders) hineinwächst.

Christian Weise nutzt in seiner Regie souverän und mit hintersinnigem Humor viele Mittel des aktuellen Überschreibungstheaters. Dabei nimmt er sich nicht ganz und sein Publikum dafür voll ernst. So endet das Stück nicht mit dem aus dem Orchester aufschreienden Schicksalmotiv, sondern mit der Parole: «Auf in den Kampf!» und Aufforderung ans Auditorium zum Mitsingen.

Davor hatte der um einen Kopf kleinere Don José auf die Carmen in Gestalt des schwedischen Musical-Stars Lindy Larsson mindestens siebenmal eingestochen. Aber Carmen stirbt hier nicht nur in Verteidigung ihres Freiheitsanspruchs, sondern auch, damit das gesamte kulturelle Konstrukt um diese Figur mitsamt lustvoll ausgestaltetem Erotikfantasien- und Strafregister-Überbau endlich ein Ende hat: Die «Zigeunerin» Carmen als Opernschlager wird also reformiert – mitsamt der früher als zersetzend und promiskuitiv dargestellten Partnerwahl sowie den Zuschreibungen «vogelfrei», dunkelhäutig, sinnlich, flatterhaft und die Männeropfer in Wahnsinnsverzweiflung bzw. Verzweiflungswahnsinn treibend. Für die Figur Carmen, egal ob «Täterin» oder «Opfer», stand darauf im abendländischen Kulturnarrativ die Todesstrafe. Kein Wunder also, dass die Roma-Gemeinschaft mit dieser Kulturikone ihre Schwierigkeiten hat. Neudeutungen mit Hinterfragungen gibt es gelegentlich auch an Opernhäusern, etwa am Theater Basel in der Regie von Constanza Macras.

Auf der Bühne von Julia Oschatz und Felix Remme sind genügend weisse Flächen, welche das Textbuch-Kolorit der Offenbach-Librettisten Heinri Meilhac und Ludovic Halévy in Schrift und Strichzeichnungen thematisieren: Meteorologische und sexuelle Überhitzung an der Wachstation bei der Zigarettenfabrik in Sevilla, das zwielichtige Etablissement von Lillas Pastia, die nächtliche Sierra Morena und die Stierkampfarena.

Lane Schäfers Kostüme dazu sind in klaren Farben von Weiss bis Blau, vor allem aber prägnant und symbolisch: Carmen trägt einfaches iberisches Kleid erst in Pink und später in Schwarz. Ihren Tod will die Gorki-Carmen auch als Schlussstrich unter die toxischen Zuschreibungen an die Figur. Deren kleinbürgerlich angepasstes Gegenbild Micaela – mit heroisch exzessiver Musicalgestik dargestellt von Riah Knight, der Ko-Initiatorin dieses Projektes – trägt silberblonde XXL-Zöpfe wie vom Theatermagier Robert Wilson.

Witz und hochintelligente Comedy: Zum Fluidum trägt bei, dass man die verzopftesten, antiquiertesten und harmlosesten Verse aller deutschen Übersetzungen verwendete. Dieses Ensemble erlaubt sich also, was Opernhäusern aus moralischer Scheu vermeiden. Rönni Maciels Choreographie holt Wirkung aus den Hispanismen umgehenden, aussagekräftigen Posen und hat Schärfe bis ins lüsterne oder tötende Augenblitzen.

Natürlich beflügelt das intelligente und Kontraste ausreizende Arrangement von Weises musikalischem Langzeit-Partner Jens Dohle diese Folklore-Demaskierung. Denn weder Weise noch Dohle und der in dieser 2,25-Stunden-Fassung fast alles aus der riesigen Carmen-Partie singende Musical-Star Lindy Larsson aus Schweden schädigen – toxischer Anti-Roma-Stoff hinter oder her – die geniale, weil sich auf die ästhetischen Wurzeln der Werkform Opéra-comique besinnenden Partitur Bizets.

Bekannterweise wurde «Carmen» so für eine Legion von Opernsängerinnnen zum Urlaub vom Bieder-Sein, weil sie endlich Luder und Schlampe sein durften. Besonderes Darstellungskunststück: Während Dohle mit Steffen Illner (Bass & Cello) und dem Virtuosen Dejan Jovanović (Akkordeon) die aufregend sehnige bis laszive Skelettierungsarbeit am gewertschätzten Bizet-Original betreibt, setzt der hünenhafte Lindy Larsson auf die Genauigkeit und Abgründigkeit eines Chansoniers. Er kostet die Reibungen am Blümchen-Text genüsslich aus.

Weise praktiziert das in seiner Regie so, dass einem die angewandten Verfremdungsmittel des Theaters immer knackfrisch vorkommen. Das gilt auch für die musikalische Einrichtung nach dem kurzen Zuspiel einer besonders zukleisternden Einspielung des «Carmen»-Vorspiels. Die Gorki-Lesart ist also ähnlich hieb- und stichfest abgesichert gegen Vorwürfe des «Carmen»-Abusus wie Peter Brooks «La légende de Carmen» vor fast 40 Jahren. Hier zieht man alle Register eines zeichenhaften Theaters ohne falsches und damit eskapistisches Sentiment.

Keine Figur wird denunziert: Till Wonka gestattet dem virilen Alpha-Torero Escamillo auch sanfte Töne, Via Jikeli darf als patriarchal deformierter und deshalb (selbst)zerstörerischer José auch weich sein. Bis in die von Catherine Stoyan verkörperten Nebenfiguren und Marc Benners Hauptmann Zuniga leben alle ihre Partien befeuert aus. Riesenapplaus.

Text: Roland H. Dippel 

«Ich muss es niemanden recht machen» – Isaac Powell ist noch längst kein Star, dessen Name jeder kennt. Doch der Schauspieler macht immer häufiger von sich reden – nicht nur auf New Yorker Bühnen, sondern auch neben Daniel Brühl in der herrlich komischen Serie «The Franchise» (zum Interview).

Das könnte dich auch interessieren

Kommentare