Wegen Homosexualität degradiert und «unehrenhaft entlassen»
Dierk Koch galt über 50 Jahre lang als Gesetzesbrecher
Dierk Werner Koch wurde einst von der Bundeswehr wegen seiner Homosexualität degradiert und entlassen. Jahrelang hat er für eine Entschuldigung gekämpft. Nun sollen Soldat*innen gesetzlich rehabilitiert und entschädigt werden.
Dierk Koch macht Gulasch und Blumenkohl, als ich ihn im September besuche, dabei kennen wir uns noch gar nicht. Aber er ist ein vollendeter Gastgeber. Es ist Mittagszeit, und ich komme nach Hamburg, weil ich seine Geschichte hören möchte – eine Geschichte, die Jahrzehnte zurückliegt und an deren Details sich der heute 78-Jährige noch mit erstaunlicher Exaktheit erinnert. Als er zur Bundeswehr ging, hatte er eine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann bereits abgeschlossen. 18 Monate dauerte die Wehrpflicht damals.
«Es gab ein kleines Taschengeld, 60 Mark im Monat dürften es gewesen sein», sagt er. Er entschied, sich für ein halbes Jahr länger zu verpflichten, um als Zeitsoldat eine Ausbildung zu machen. Dafür kriegte man einen Wehrsold, der um ein Vielfaches über dem Taschengeld lag.
Schwule nannte man «Sailor» Koch wollte zur Marine. Auch wenn er noch keine Ahnung von seinem Schwulsein hatte: Bei der englischen Marine nutzte man das Codewort Sailor für Homosexuelle. Eine Ironie, die ihm damals entging.
Seine ersten Erfahrungen bei der Bundeswehr waren deprimierend. Erst musste er die Ausbildung zum Funker abbrechen, dann fiel er durch die Prüfung zum Fluglotsen. Man hatte ihn zum Englischkurs in das norddeutsche Uetersen geschickt. «Aber den habe ich mit Bravour versaut», erzählt der gebürtige Hamburger, der mit seiner Familie damals bei Düsseldorf lebte. Denn während des Kurses war er so nah an seiner Heimatstadt, dass er dort viel Zeit im Theater oder bei alten Freunden verbrachte, anstatt für die Prüfung zu büffeln. So kam er zurück in seine Einheit, dem Marinefliegerhorst Cuxhaven. Die Frage, was man mit dem jungen Gefreiten anfangen sollte, war immer noch offen.
In Cuxhaven lernte er einen Kameraden kennen, der ihm erklärte, dass man den Lehrgang wiederholen könne, und anbot, ihm beim Lernen zu helfen. Koch nahm die Hilfe gerne an und besuchte den Obermaat eines Abends auf dessen Stube. Der andere lag auf dem Bett und wollte zunächst die «Tagesschau» sehen. Koch setzte sich dazu. Und schon bald kam es zu ersten körperlichen Berührungen.
Hier war jemand lieb zu mir und bemühte sich um mich.
«Mich hat das zunächst irritiert, darum habe ich es erst abgewehrt, da ich keinerlei Erfahrungen hatte», erinnert sich Koch. «Ich fand es aber auch gut. Wegen des nicht bestandenen Kurses war ich deprimiert. Und hier war nun jemand lieb zu mir und bemühte sich um mich.»
Mit einem Streit geht alles in die Brüche Koch ging dann jeden Tag zu dem Obermaat. «Wir haben wunderbare Abende zusammen verbracht und hatten Sex.» Eines Tages stritten die beiden. Es war nur eine Nichtigkeit, doch die Verbindung ging in die Brüche. Und der Obermaat machte ihm klar, dass er sein Vorgesetzter war. «Das war mir bis dahin gar nicht bewusst», erzählt Koch.
Von nun an wurde er von dem anderen gemobbt und schikaniert. Egal, welche Tätigkeit er auszuführen hatte – es gab immer etwas auszusetzen. Und wenn der Kasernenputz anstand, war Koch natürlich für die Toiletten zuständig. Irgendwann reichte es dem jungen Gefreiten und er wandte sich in seiner Not an den Kompaniechef, um ein Versetzungsgesuch zu stellen. Ganz offen erklärte er auch warum: «Wir haben homosexuellen Kontakt gehabt.»
Seinem Gesuch wurde stattgegeben, und Koch kam nach List auf Sylt, in die Versorgungsschule. Dort belegte er einen weiteren Lehrgang in der Verwaltung, den er mit «sehr gut» beendete. Schliesslich sass er in der Schreibstube des Oberstabsarztes. Hier befand sich die Ausbildungskompanie für die Marine-Sanitäter.
Als Koch das Bordkommando für die «Emden» bekam, freute er sich, weil – so die Gerüchte – die Fregatte im Jahr 1964 nach Tokio zu den Olympischen Spielen fahren sollte. «Ich sah mich da schon als Zuschauer sitzen», erinnert sich Koch.
Auf Sylt wusste man Bescheid Doch dazu kam es nicht. Bevor er sein Bordkommando antreten konnte, wurde er zum Standortkommandeur gerufen. Sein Coming-out hatte mittlerweile seine Kreise gezogen, auch auf Sylt wusste man schon davon. Darum teilte man ihm mit, dass das Kommando für die Emden zurückgenommen werde. «Einen Marinesoldat, der in sowas verwickelt ist wie Sie, können wir nicht in die Welt hinausschicken», teilte man ihm damals mit, ohne das Wort Homosexualität auszusprechen. Dies habe die Stammdienststelle entschieden.
«Im Übrigen werden Sie degradiert und unehrenhaft entlassen. Sie haben an Freitag, um 12 Uhr, die Kaserne als Zivilist zu verlassen.» Einvernehmlicher Sex unter Soldaten, in der Kaserne und noch dazu von Vorgesetzten und Untergebenen stellte damals in mehrfacher Hinsicht ein Dienstvergehen dar, wie in der letztes Jahr vorgestellten Studie «Tabu und Toleranz. Der Umgang der Bundeswehr mit Homosexualität von 1955 bis zur Jahrtausendwende» von Oberstleutnant Dr. Klaus Storkmann nachzulesen ist. Homosexualität gefährdete die militärische Ordnung und das Ansehen der Bundeswehr, so sah man es damals.
Ein schwuler General als «Sicherheitsrisiko» Noch 1984 bekräftigte der Erlass «Gleichgeschlechtliches Verhalten von Soldaten der Bundeswehr», dass Homosexualität die Eignung eines Soldaten zum Vorgesetzten ausschloss. Im Vorjahr waren Gerüchte laut geworden, dass der Viersternegeneral Günter Kiessling, stellvertretender NATO-Oberbefehlshaber für Europa, schwul sei und damit ein potenzielles «Sicherheitsrisiko». Beweise gab es keine, doch der damalige Verteidigungsminister Manfred Wörner (CDU) entschied, Kiessling abzusetzen. Laut Bundeszentrale für politische Bildung «der grösste Skandal der Bundeswehr».
Dann kam das Jahr 2000: Nach Bekanntwerden seiner Homosexualität wurde Oberleutnant Winfried Stecher zwangsversetzt. Er klagte, scheiterte in den Vorinstanzen und legte Verfassungsbeschwerde ein.
Das Bundesverfassungsgericht bat die Bundesregierung um Stellungnahme. Den Mitschriften aus dem Verteidigungsministerium ist zu entnehmen, dass die Position der militärischen Führung weiterhin ablehnend in Bezug auf Homosexuelle war. Doch der damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) wollte nicht auf das Gericht warten. Am 23. März 2000 sicherte er, ohne Wissen der Generäle, im Bundestag zu, einen Verhaltenskodex zu erlassen, der «jede Form von Diskriminierung sanktioniert».
Schluss mit der Diskriminierung Schliesslich wurde am 3. Juli 2000 der diskriminierende Erlass aus dem Jahr 1984 abgeschafft – ein halbes Jahr zuvor hatte der Europäische Gerichtshof den Ausschluss von Frauen aus der Bundeswehr aufgehoben.Dagegen waren die Sechzigerjahre tiefstes Mittelalter: An jenem Mittwoch im Jahr 1964, dem Tag seiner Entlassung, brach für Dierk Koch die Welt zusammen. Er fuhr nach Hösel bei Düsseldorf zu seinen Eltern und den drei Geschwistern. Die guckten alle ziemlich überrascht, denn sein letzter Heimaturlaub lag gerade eine Woche zurück. Und den bekam man nur alle vier Wochen.
Der junge Mann bat um ein Gespräch mit seinem Vater, der im Zweiten Weltkrieg als Kapitänleutnant bei der Marine gewesen war. Nachdem er ihm erzählt hatte, dass er wegen einer homosexuellen Geschichte degradiert und unehrenhaft rausgeworfen worden war, schaute Vater Koch ihn mit mildem Blick an und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Hinterkopf. «Dann wollen wir mal sehen, dass wir für dich morgen eine Arbeit finden. Und übrigens, der Mutti müssen wir davon nichts erzählen».
Was für eine entspannte Reaktion! «In dem Moment hab ich meinen Vater sehr geliebt», sagt Koch.
Verurteilung nach Paragraf 175 Noch war die Sache aber nicht komplett durchgestanden. Die Bundeswehr hatte den internen Vorfall an die Staatsanwaltschaft in Cuxhaven gemeldet. Homosexualität stand ja damals noch unter Strafe. Erst im Jahr 1969 wurde der Paragraf 175 entschärft, danach galt Homosexualität unter Männern über 21 nicht mehr als Straftat. Und erst im Jahr 1994 wurde der Paragraf komplett gestrichen. Und so wurde Koch in einem zivilen Gerichtsverfahren wenige Wochen nach seiner Entlassung zu einer Geldstrafe von 100 Mark verurteilt. Er hatte einen sehr liberalen jungen Richter, der sich damals dafür entschuldigte, dass er ihn verurteilen musste.
So kam der junge Mann mit der Mindeststrafe davon. «Aber ich galt ab diesem Moment als Gesetzesbrecher. Ich, der ich immer sehr gesetzestreu bin!» Den Obermaat sah er beim Prozess wieder. Der musste, als «treibende Kraft», der Koch damals verführt hatte, eine höhere Strafe zahlen.
Karriere trotz Vorstrafe Dierk Koch war nun also vorbestraft. Glücklicherweise wirkte sich das nicht negativ auf seinen Werdegang aus. Koch, der immer wieder in kaufmännischen Berufen arbeitete, hatte nie Schwierigkeiten, einen Job zu bekommen. Ob als Beifahrer bei Auslieferungsfahrten der Karstadt AG in Essen, im Bürofachhandel, in der Schmuckvertretung seines Vaters oder später bei Grundig. Sein Führungszeugnis musste er nie vorzeigen; als Lehrer wäre das was anderes gewesen. «Ich konnte ganz normal mein Leben leben», erzählt Koch, der auch mal für zwei Jahre ein Geschäft für Glas-Porzellan-Kunstgewerbe hatte. Anfang der Neunzigerjahre war das, in Potsdam.
Zu seinem ganz normalen Leben gehörte auch, dass er die beste Freundin seiner Schwester heiratete. Einige Jahre waren sie verheiratet, bis Koch sich seiner Gefühle klar wurde und feststellte, dass er auf Männer stand. Das war während des Studiums der Betriebswirtschaft in Köln, auf der Klappe am Neumarkt. Da musste er immer umsteigen. Eines Tages musste er zur Toilette. «Da stand ein hübscher blonder junger Mann, der vor sich hin wichste. Mit dem hatte ich Sex. Das war mein echtes Coming-out.»
Er erklärte sich seiner Frau, die beiden liessen sich scheiden. Koch hatte immer wieder längere feste Beziehungen mit Männern.
Koch vernichtete die Akten Seine Vorstrafe schränkte ihn nicht ein. «Es war zwar eine Last, die ich aber nicht gespürt habe», sagt er heute. «Dass ich als Verbrecher durchs Leben gegangen bin, war ja nichts, worüber ich mir täglich Gedanken gemacht habe.» Irgendwann in den Neunzigerjahren vernichtete er dann sämtliche Akten zu dem Prozess. Für den Fall seines Todes wollte er nicht, dass Verwandte seine Sachen durchgehen und das finden.»
Dann kam der 22. Juli 2017. Das Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen (kurz StrRehaHomG) trat in Kraft. Koch wurde vom Staat rehabilitiert. «Es war ein Neuanfang», sagt er. «Seitdem kann ich frei sein und sagen: Ich bin homosexuell.»
Kampf um eine Entschuldigung Aber dafür, dass er von der Bundeswehr degradiert und fristlos entlassen worden war, wollte er wenigstens noch eine Entschuldigung bekommen. Zwei Jahre kämpfte er mit dem Verteidigungsministerium, damals noch geführt von Ursula von der Leyen. Er schrieb Brief um Brief, das Ministerium schrieb zurück. Immer wieder war in den Antwortschreiben die Rede von Kochs «mutmasslicher fristlosen Entlassung wegen Homosexualität aus der Bundeswehr». Das ärgerte ihn. Von mutmasslich konnte ja keine Rede sein.
Tatsächlich fanden sich in seiner Gesundheitsakte keine Hinweise auf seine Homosexualität. Und andere Akten fand man nicht mehr, teilte man ihm mit Verweis die auf Aufbewahrungs- und Vernichtungsvorschriften mit. Koch schaltete noch den SPD-Abgeordneten Metin Hakverdi ein, Direktkandidat für den Wahlkreis Hamburg-Bergedorf – Harburg. Doch es half alles nichts. Als man ihm 2019 erklärte, dass die Bundeswehr sich nicht entschuldigen werde, beschloss Koch, die Sache abzuhaken. Dann entschuldigen sie sich eben nicht, sagte er sich. Heute weiss er, dass die amtierende Ministerin Kramp-Karrenbauer Kenntnis von dem Briefwechsel zwischen ihm und ihrem Haus hatte. «Mein ständiges Nachfragen und Nachhaken war ein Mosaiksteinchen, das schliesslich zum Paradigmenwechsel geführt hat.» Und 2020 hat sie sich auch offiziell entschuldigt.
Bei der Entschuldigung habe ich richtig aufgeatmet. Mehr wollte ich doch gar nicht!
«Die Praxis, die für die Politik der damaligen Zeit stand, bedaure ich sehr», erklärte die Ministerin Anfang Juli. «Bei denen, die darunter zu leiden hatten, entschuldige ich mich.»
Da habe er richtig aufgeatmet, sagt Koch. «Das war es! Mehr wollte ich doch gar nicht!» Doch er bekam mehr. Denn als Mitte September 2020 ein Pressetermin anberaumt wurde, um die Bundeswehr-studie «Tabu und Toleranz» vorzustellen, sollte er als Betroffener mit aufs Podium kommen.
Zwischen Ministerin und Generalinspekteur «Dann ging mir doch die Sause, je näher der Tag kam», erinnert sich Koch. Neben Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und dem Autor der Studie war auch General Eberhard Zorn, Generalinspekteur der Bundeswehr, zugegen. Dass Koch nun neben Zorn sass, das war etwas Besonderes für ihn. «Ich bin nur ein Gefreiter gewesen, degradiert zum Matrosen, und dann sitzt da ein Viersternegeneral neben dir. Normal ist das nicht.»
Doch auch diese Ehrfurcht hatte für ihn ihre Grenzen. Sein Vater hatte ihm als Kind schon mitgegeben: «Du musst vor niemandem Angst haben, auch nicht vor dem Papst oder vor dem Bundespräsidenten. Denn auch die machen alle krumme Knie beim Kacken.»
Auch mit der Verteidigungsministerin sprach er kurz nach dem Pressetermin. Sie kam auf ihn zu und sagte: «Ich möchte mich ganz herzlich bedanken, dass Sie sich getraut haben, nochmals ihre Geschichte zu erzählen.» Das empfand er als Auszeichnung.
Entschädigung von 3000 Euro Was das geplante «Gesetz zur Rehabilitierung der wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen, wegen ihrer homosexuellen Orientierung oder wegen ihrer geschlechtlichen Identität dienstrechtlich benachteiligten Soldatinnen und Soldaten» (SoldRehaHomG) angeht: Es sieht eine pauschale Entschädigung von 3000 Euro für jedes aufgehobene wehrdienstgerichtliche Urteil vor und einmalig 3000 Euro für andere Benachteiligungen wie die Versagung von Beförderungen. Das Kabinett hat schon zugestimmt; laut Bundesverteidigungsministerium könnte es bis Ende Mai 2021 in Kraft treten. Allerdings haben die Grünen schon Nachbesserungsbedarf angemeldet, unter anderem verlangen sie höhere Entschädigungszahlungen.
Vielleicht klappt es ja mit dem Gesetz bis zu Kochs Geburtstag: Der findet jedes Jahr am Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transfeindlichkeit statt.
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