Aufbruch? Auf den Queer-Beauftragten verweisen reicht nicht!
Was ist in Deutschland seit dem Regierungswechsel passiert?
Mit dem Koalitionsvertrag haben SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und FDP einen queerpolitischen Aufbruch versprochen und zahlreiche Vorhaben zur Verbesserung der Situation queerer Menschen in Aussicht gestellt. Passiert ist viel zu wenig, so die Meinung* unseres Autors.
Zu oft sind in der Vergangenheit Ankündigungen zu politischem Handeln zum Thema LGBTIQ im Sand verlaufen. Entweder weil die Vorstellungen der Regierungsparteien dann nicht kompatibel waren, sprich: die konservative Haltung der Unionsfraktionen nicht mehr zuliess oder blockierte, oder weil es «wichtigere und drängendere» Probleme gab, die zuerst gelöst werden mussten. Zum Ende fehlte dann die Zeit, und geplante Vorhaben wurden nicht umgesetzt oder sahen wie ein unerwarteter «Zufall» aus, der nicht wirklich auf koordiniertes Regierungshandeln schliessen liess.
Auch wenn so einem unerwarteten Zufall eine der grössten Errungenschaften für Lesben und Schwule in den letzten Jahren zu verdanken ist. Ein eher nebensächliches Interview von Kanzlerin Merkel führte – gewollt oder ungewollt – zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare (MANNSCHAFT berichtete). Allein die prominente, ausführliche und konkrete Benennung der amtierenden Ampel in ihrem Koalitionsvertrag zu Zielen im queerpolitischen Bereich war ein positives Novum im Gegensatz zu sonstigen, oft verklausulierten, Nebensätzen im Regierungsprogramm früherer Bundesregierungen. Und auch die Tatsache, dass erstmal ein Bundeskanzler diese Vorhaben in seiner ersten Regierungserklärung benennt und lesbisch, schwul und trans in der Rede vorkamen, liess hoffen, dass doch eine ernsthafte Absicht hinter den Ankündigungen steht.
Auch die Benennung eines queerpolitischen Beauftragten der Bundesregierung war mehr als ein Symbol. Mit Sven Lehmann hat jemand das Amt inne, der glaubhaft und nachdrücklich für die Sache steht und sich sichtbar darum bemüht diesem Amt Inhalt und Wirkung zu geben. Gleichwohl sollte das kein Amt sein, das als Add-on-Aufgabe neben der Verantwortung als parlamentarischer Staatssekretär und Bundestagsabgeordneter geführt wird oder werden kann. Und anscheinend wurde die Funktion des neuen Beauftragten von verschiedenen Mitgliedern der Regierungskoalition falsch verstanden.
Es langt nicht, bei allen LGBTIQ-Themen betreffenden Fragen auf den Beauftragten zu verweisen und selbst nichts zu tun. Oder die Funktion dahin zu deuten, dass die wichtigste Aufgabe wäre, die queerpolitische Arbeit der Regierung bestmöglichst zu verkaufen. Es geht darum, Missstände zu benennen, Prozesse voranzutreiben und auf bestehende Hürden hinzuweisen. Bei der Unterstützung, die Sven Lehmann erfährt, bleibt also noch viel Luft nach oben.
So bleibt erst einmal festzuhalten: mit der Vorstellung des Eckpunktepapiers für ein neues Selbstbestimmungsgesetz und dem Kick-off zur Umsetzung des Aktionsplans «Queer leben» der Bundesregierung sind die ersten Schritte getan (MANNSCHAFT berichtete). Ausserdem hat Bundesinnenministerin Faeser die Dienstanweisung Asyl aktualisiert und hiermit der Anwendung des sogenannten Diskretionsgebots konsequent einen Riegel vorgeschoben. Das ist erfreulich. Trotzdem ist bis heute kein einziges Gesetzesvorhaben aus dem queerpolitischen Aufbruch verabschiedet worden. Ganz nach dem Motto: «Wehret den Anfängen!» muss deutlich darauf hingewiesen werden was nicht stattfinden darf, dass neben grossen Ankündigungen und einigen wichtigen Signalen dann erst einmal nichts passiert, bis es zum Ende der Legislatur hin dann wieder knapp wird und die Zeit nicht langt, um die Vorhaben umzusetzen.
Gerade bei der wichtigen und schon lange überfälligen Ergänzung des Grundgesetzes Artikel 3. (3) um den Begriff der sexuellen Identität in der Aufzählung besonders schutzwürdiger Grundrechte drängt die Zeit schon jetzt. Eine Grundgesetz-Änderung bedarf einer Zweidrittel-Mehrheit, zu der auch die Opposition herangezogen und eingebunden werden muss. Die Diskussion um die Begrifflichkeit muss geklärt sein, um dann eine überzeugende und auch in der Community befriedende Lösung zu finden.
Das aktuelle Beispiel aus den USA, wo mit einfacher Gesetzgebung quasi in letzter Minute eine Zerschlagung der Möglichkeit zur Eheschliessung für gleichgeschlechtliche Paare durch erzkonservative Verfassungsrichter abgewendet oder wenigstens eingeschränkt wird (MANNSCHAFT berichtete), sollte uns warnendes Beispiel sein. Politische Mehrheiten können sich schnell ändern und das Pendel in eine andere Richtung ausschlagen. Verabschieden wir uns von der Idee, dass es dabei um den Austausch von Argumenten und am Ende immer zu demokratischen und respektvollen Lösungen kommt.
Wenn das Jahr 2022 eines gezeigt hat, dann dass wir national, europäische und global in einem gnadenlosen Kampf um Ideologien sind und in einem Kampf der Demokratien gegen Diktaturen und politisch extremen Regierungen. Die «Zeitenwende», die uns alle wütend und fassungslos vor dem menschenverachtenden und grausamen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine stehen lässt, spiegelt sich auch in vielen Ländern wider, wo sich die Situation für LGBTIQ dramatisch verschlechtert hat.
Die Töne, die dabei während der Farce einer Fussball-Weltmeisterschaft in Katar zu hören waren, waren kein Betriebsunfall, sondern gezielte und bewusste Zeichensetzung. Als Antwort sahen wir vor allem das beständige Einknicken und Umfallen, wenn es zum Schwur für Menschenrechtsthemen kommt (MANNSCHAFT berichtete). All das ist Ausdruck für den ideologischen Kampf der momentan tobt. Es wäre zu wünschen, dass mit gleicher Deutlichkeit und Entschlossenheit die Aussagen der demokratischen Regierungen kommen, wie sie von den Unrechtsregimen und Diktaturen propagandiert werden.
Natürlich können und dürfen wir diesen Kampf nicht nur den Regierungen überlassen. Auch wir als Zivilgesellschaft müssen das verteidigen und stärken, was unser freiheitliches Leben garantiert und schützt. Die Zeiten, wo wir uns in Deutschland oder Europa darauf beschränken können, mit dem Finger auf andere Länder zu zeigen, sind längst vorbei. Wer das bis jetzt nicht kapiert hat, dem sollten die Vorgänge um die die aufgedeckten Putschpläne von querdenkenden Reaktionären und Adel eine letzte Warnung sein. Das gilt auch für eine notwendige Vielfalt innerhalb der LGBTIQ Community in Deutschland, die in vermeintlichen Einzelinteressen, die uns grundlegende Gemeinsamkeit und Stärke verwischt und uns angreifbar macht.
Wenn also diese Regierung ihren queerpolitischen Aufbruch wirklich ernsthaft umsetzen will, müssen bei den Themen: Selbstbestimmungsgesetz, nationaler Aktionsplan «Queer leben», Grundgesetzergänzung und Reform des Familien- und Abstammungsrechts also zügig nach den Plänen auch die Verabschiedung von Gesetzen erfolgen. Denn die LGBTIQ Community braucht nicht noch mehr Worte der Hoffnung, sondern Taten und Gesetze, die das Leben in Deutschland für alle freier und damit demokratischer gestalten.
Auf internationaler Ebene wurde mit der Übernahme des Vorsitzes in der Equal Rights Coalition, zusammen mit Mexiko, ein starkes Signal von Annalena Baerbock gesendet. Aber auch hier gilt: dies ist eine Gemeinschafts-Verpflichtung der Regierung und nicht nur des Auswärtigen Amtes. Eine Chance, Deutschlands Rolle zu einem Taktgeber für internationale LGBTIQ-Menschenrechtsarbeit auszubauen. Dazu wäre es sinnvoll diese Absicht auch personell zu unterstreichen, indem, ähnlich wie in den USA mit Special Envoy Jessica Stern, auch Deutschland eine*n Sonderbeauftragte*n für LGBTIQ-Menschenrechtsarbeit benennt. Dies kann nicht auch noch beim queerpolitischen Beauftragten der Bundesregierung abgeladen werden, der erkennbar aus obiger Aufzählung mehr als genug zu tun hat.
Im Jahr 2023 wird sich schnell zeigen, mit wieviel Energie der queerpolitische Aufbruch in sein zweites Jahr geht. Zur Halbzeit der Legislatur sollten dann viele greifbare Ergebnisse in Form von Gesetzen vorliegen. Alles andere müsste als Abbruch des Aufbruchs angesehen werden.
*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar zu einem aktuellen LGBTIQ-Thema. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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