«Im Parlament werde ich auch mal zur Mitte lehnen müssen»
LGBTIQ-Aktivistin Anna Rosenwasser über die kommenden Wahlen
LGBTIQ-Aktivistin und MANNSCHAFT-Kolumnistin Anna Rosenwasser will in den Nationalrat (MANNSCHAFT berichtete). Im Interview spricht sie über politische Ziele und über Schäfchen, die den Wolf wählen.
In einem Artikel von Watson war zu lesen, wie du als SP-Kandidatin im stockkonservativen Fischenthal auf Stimmenfang warst. Weshalb tust du dir diesen Wahlkampf an? Das Framing, das für den Artikel gewählt wurde, macht mich traurig. Die Wahrheit ist, dass ich dem Vorschlag des Journalisten zugestimmt habe, mich dieser Situation auszusetzen. Selbst wäre ich nicht darauf gekommen, eine SVP-Hochburg zu besuchen und den Leuten zu sagen, ich sei links. Ich hab’ dann tatsächlich eine Morddrohung erhalten als Antwort. Ich bereue im Nachhinein, dass ich diesem Unterfangen zugesagt habe.
Ist es wichtig, die eigene Bubble mal zwischendurch zu verlassen? Ich finde es sehr verdächtig, wem die «Bubble» vorgeworfen wird und wem nicht. Warum sollen ausgerechnet wir Queers uns freiwillig in ein Umfeld begeben, das uns den Tod an den Hals wünscht? Für viele von uns ist unsere Wahlfamilie, unsere Gemeinschaft und unser Freundeskreis der einzige Ort, an dem wir einigermassen sicher sind. Das als Problem darzustellen, ist eine sehr rechte Logik.
«Aktivismus» hat einen Hauch von Anarchie – also genau das Gegenteil des Nationalrats. Wie würde diese Umstellung für dich funktionieren? Oder kann eine Nationalrätin Aktivistin bleiben? Ich glaube, dass guter Aktivismus strategischer ist, als viele denken. Und Anarchie friedlicher, als die meisten denken! Als Nationalrätin müsste ich mich den Hierarchien nicht nur anpassen, sondern konsensfähig agieren. Momentan meide ich unheilige Allianzen – also das Verbünden mit Menschen, mit denen ich das Heu nicht auf derselben Bühne habe, etwa mit transfeindlichen Aktivist*innen. Im Parlament aber geht es um Mehrheiten, und da werde ich auch mal zur Mitte lehnen müssen.
Was würdest du im Nationalrat erreichen wollen? Ganz klar: den dritten Geschlechtseintrag, den die Ethikkommission des Bundes deutlich empfohlen hat. Und den gesetzlichen Schutz vor öffentlicher Hetze gegen trans Menschen. Die politische und öffentliche Transfeindlichkeit nimmt gerade rasant zu, und wir müssen sofort handeln. Es geht um Leben und Tod. Das mag dramatisch klingen, und das liegt daran, dass die Lage dramatisch ist.
Wenn dir jemand vorwerfen würde, dass du für den Nationalrat als LGBTIQ-Aktivistin thematisch zu einseitig «politisch geschult» seist, wie würdest dem entgegnen? Die meisten Politiker*innen haben ein Fokusthema: ein Bereich, in dem sie besonders viel wissen. Vorgeworfen wird das nur denjenigen, die ein Thema für sich beanspruchen, das nicht ernstgenommen wird. Und: Jungen Frauen einzureden, sie seien nicht schlau genug, ist eine bewährte Strategie, sie von der Politik fernzuhalten. Ich weigere mich, zu glauben, dass ich nicht gut genug fürs Parlament bin. Jede Person hat ihre Stärken, und wenn wir diese Kompetenzen kombinieren, kommen wir weiter. Darum bin ich ja in einer Partei.
Es gibt LGBTIQ-Personen, die für die SVP antreten: Kannst du das nachvollziehen oder ist es dir ein Rätsel, weshalb sich eine queere Person für eine Partei einsetzt, die immer wieder queerfeindliche Hetze betreibt? Es kommt mir vor wie Schäfchen, die ein Schild in die Höhe halten, wo draufsteht: «Wählt den Wolf!» – Nein, im Ernst: Viele von uns hatten mal eine Phase, in denen sie unbedingt allen beweisen wollten, wie normal sie sind. Dass sie zu den wenigen «Guten» gehören, nicht zu den Abnormalen. Es ist eine unsolidarische Abgrenzung.
Wie schätzt du deine Wahlchancen ein? Meine wichtigste Chance ist es nicht, gewählt zu werden. Meine wichtigste Chance ist es, junge Frauen und Queers dazu zu bewegen, wählen zu gehen. Und zwar Politiker*innen, die sich für Menschenrechte einsetzen.
Noch ein kurzer Werbeblock für die Demokratie: Warum sollte man im Oktober zur Wahl? Weil 25 Prozent der Menschen, die in der Schweiz leben, nicht wählen dürfen. Weil jede Stimme, die nicht abgegeben wird, letztlich eine Stimme für die aktuell stärkste Partei ist, und die hat Queerfeindlichkeit im Parteiprogramm. Und weil Wählen zwar nicht die ganze Lösung ist, aber ein Teil der Lösung (vielleicht der unaufwändigste Teil).
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