Wer darf ich sein? Zwischen Dancefloor und Dienstgrad
Unsere Kolumnistin sinniert über ihren schwarzen Nagellack, mit dem sie zur Bundeswehr fährt
Queer, wild und in Uniform: Wie sich ein Leben zwischen Dancefloor und Disziplin anfühlt – und warum der schwarze Nagellack mehr als nur ein Stilbruch ist. Ein Kommentar* von Anastasia Biefang.
Immer wieder sonntags. Ich sitze im Zug. Der Hauptbahnhof von Berlin liegt bereits hinter mir. Noch ein paar Stunden, und ich bin in Augsburg – oder «fake home», wie ich es auch nenne.
Eintauchen in eine andere Welt. Früher überkam mich da stets ein Gefühl der Trauer, des Abschieds, als würde ich mein echtes Leben verlassen. Aber ich habe mich für dieses Leben entschieden.
Mein Blick gleitet nach unten, ich strecke mich ein wenig. Verdammt. Schon wieder vergessen. Die Nägel sind schwarz. Der Lack von gestern Abend ist noch nicht ab. Er lächelt mich an und zieht meine Gedanken zurück an den Ort der letzten Nacht. Harte, tiefe Töne, ein schneller Beat.
Ich schwitze und tanze auf einem Dancefloor, nicht viel grösser als ein Wohnzimmer. Es ist eng, es ist heiss. Die Nebelmaschine atmet genauso schnell wie die tanzenden Queers um mich herum. Ich verliere mich im Rhythmus, zwischen den Körpern. Der Lack an meinen Nägeln bringt dieses für mich so wunderbare Gefühl wieder hoch. Blöd nur, dass ich in diesem Moment Uniform trage. Schwarzer Nagellack geht dazu gar nicht.
Es passiert mir nicht zum ersten Mal. Ich krame in meinem Rucksack und finde die Dose mit dem Nagellackentferner. Gute zwei Minuten später ist der Lack dann tatsächlich ab. Ich grinse in mich hinein. Äusserlich vielleicht eine minimale, fast unmerkliche Veränderung. Innerlich doch eine Grössere? Streife ich etwas von mir ab in diesem Moment? Verhalte ich mich wie ein Chamäleon, das sich stets seiner Umgebung anpasst, um nicht aufzufallen?
Fragen, die mich lange beschäftigt haben. Die Frage nach meiner eigenen Authentizität kratzte unangenehm an meinem Selbstbild. Erinnerungen an mein jahrelanges Versteckspiel mit dem eigenen Ich kommen auf. Wer bin ich denn? Wer darf ich sein?
Fuck! Denken ist anstrengend. Harte Gedanken. Echt ist aber auch das, was ich fühle. Echt ist das, was ich in mir entdecke. Immer wieder Neues. Ich wachse an meinen Erfahrungen und integriere sie so gut ich kann in all meine Lebensbereiche. Es sind Facetten einer sich stets im Werden befindenden Persönlichkeit. Bereichernde Facetten. Erfüllende Facetten. Facetten, die es mir erlauben, ganz ich zu sein. Facetten, die mir wahnsinnig viel Freiheit geben. Die Freiheit zu sein. Die Freiheit, einfach zu leben.
Widersprüche in mir, die andere sehen, mir nicht zu eigen zu machen, war (und bleibt) eine Herausforderung. Ich kann Punk sein. Ich bin fünfzig (plus), und mein queeres Leben fliesst einfach – wie ein reissender Fluss. Ich liebe diese Wildwasserfahrt. Und dieser Ritt hat mir die Augen geöffnet. Ich bin gefühlt mehr links, mehr Punk, mehr unangepasst als je zuvor – mehr, als ich es mir als Teenager je hätte zutrauen können.
Ich fühle mich freier als je zuvor. Ich kann mich immer wieder neu emanzipieren. Es gibt keine vorgezeichneten Wege in diesem Leben. Jeder Tag ist neu und aufregend. Der schwarze Nagellack hinterlässt sichtbare Spuren. Und das ist gut so. Spuren, die sich zum Glück auch nicht (mehr) durch meine Uniform verstecken lassen.
Die trans Perspektive
Anastasia Biefang war die erste trans Kommandeurin der deutschen Bundeswehr und Protagonistin des Films «Ich bin Anastasia». Sie wohnt in Berlin.
[email protected] Illustration: Sascha Düvel
Weitere Beiträge von Anastasia gibt's in der Kolumne «die trans Perspektive»
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