40 Jahre AIDS (5): Es gibt immer noch zu viele HIV-Erstdiagnosen!

Der letzte Teil unserer Serie ist ein Kommentar

Foto: AdobeStock
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Die Verfechter*innen der «Zurück-ins-Mittelalter»-Haltung aus konservativen und religiösen Kreisen arbeiten hart daran, die Erfolge der letzten 40 Jahre auszuradieren. Denn es gibt immer noch zu viele HIV-Erstdiagnosen – bei einer  Infektion, die medizinisch im Griff sein könnte, schreibt unser Autor im Samstagskommentar*.

40 Jahre ist es her, dass erstmals über eine Krankheit berichtet wurde, die insbesondere die schwule Community bis ins Mark getroffen hat. Ich kann mich an die Nachrichten, die Titelgeschichten in Stern und Spiegel, die Zeitungs- und Radiomeldungen gut erinnern. Ich war damals Anfang Zwanzig, aber über meine sexuelle Ausrichtung noch völlig im Unklaren. Zu sehr war ich aufgewachsen im Schatten des § 175 sowie den abschätzigen Bezeichnungen und den gesellschaftlichen und beruflichen Problematiken, die ein Coming-out hätte haben können. Deswegen betrachtete ich die ersten Berichte über das, was später als AIDS in die Geschichte eingehen sollte, aus einer gewissen Distanz. Ja, es war schrecklich, was da passierte … aber eigentlich war ich doch gar nicht betroffen. Dachte ich jedenfalls. Sogar, als ich 1981/82 ein halbes Jahr in den Vereinigten Staaten ein Praktikum machte und zunächst eher interessehalber die immerhin zwei vorhandenen Schwulenkneipen in Lincoln/Nebraska besuchte, sprach niemand über AIDS. Warum also sollte ich das tun? (Nicht nur) ich war damals ganz gross, wenn es um Verdrängung ging.

Und so gingen die Jahre ins Land. Dass es schon 1982 in Deutschland einen AIDS-Fall gab, ging an mir vorbei. Dass sich 1983 die ersten AIDS-Hilfen als Sterbebegleitung gründeten, ebenfalls. Hatte man beim Ausgehen jemand kennengelernt, mit dem man nach Hause ging, wurde zwar häufiger mit dem Kondom gewedelt, aber das war okay. Gedanken, warum das so war, machte ich mir zunächst weniger. Man fügte sich irgendwie …

Heute, wenn ich z. B. «It’s A Sin» sehe, die Mini-Serie, die ab dem 20. Juni 2021 in Deutschland bei diversen Streamingdiensten läuft, sehe ich meine eigene Vergangenheit. Denn die Protagonisten sind nur wenig jünger als ich, kommen vom Land in die Metropole London (ich zog von Pforzheim nach Frankfurt am Main) und haben Ideen, Wünsche und Träume – allen voran die Loslösung von allen familiären Fesseln und das unbändige, unbekümmerte Ausleben der Jugend. Die drohende Gefahr wird verleugnet, relativiert, nicht ernst genommen. Bis es zu spät ist. Ich hatte das Glück, dass es mich da noch nicht erwischte. Und habe mich daher auch nie wirklich über HIV und AIDS informiert. Und natürlich auch keinen Test gemacht. Ein «positiv» wollte ich nicht wissen – und ein «negativ» hätte mich in trügerischer Sicherheit gewogen.

Ein positives Verhältnis zu HIV entwickeln Als ich dann im Januar 1994 bei meinem ersten, beinahe zufälligen Test ein positives Ergebnis bekam, hatte ich also 13 Jahre lang die Risiken einer Infektion erfolgreich verdrängt. Insofern stand ich nach der Diagnose wie der berühmte Ochs vorm Berg. Keine Ahnung, keine Hilfe, keine Idee. Nur die Perspektive des Sterbens. Und dann kam auch noch «Philadelphia» ins Kino und zeigte mir meine Zukunft. Da machte ich erst einmal alle Schotten dicht. Erst Mitte 1995 begann ich zu akzeptieren, dass ich lernen musste, mit der Infektion zu leben. Zum Glück dauerte es nicht mehr lange, bis die antiretrovirale Therapie auf den Markt kam. Meine anfängliche Weigerung («Ich fress doch nicht bis an mein Lebensende Tabletten!») musste ich 2001 aufgeben, als mein Immunsystem ziemlich unten war. Aber dank meines mittlerweile im Ruhestand lebenden Schwerpunktarztes schaffte ich es, ein positives Verhältnis zu HIV zu entwickeln.

Trotzdem habe ich heute noch Angst, wenn eine Lungenentzündung diagnostiziert wird. Das war 1981 der Anfang von allem und bedeutet heute im Falle einer PcP immer noch den Wechsel ins Vollbild AIDS. Zwei Mal habe ich es durchgestanden – beide Male waren es zum Glück andere Ursachen. Aber nach der ersten Lungenentzündung 2009 setzte ich mich hin und schrieb «Endlich mal was Positives» über meinen persönlichen Umgang mit der Immunschwäche. Dieses Buch war der Auslöser, mich mehr in die Präventionsarbeit einzubringen.



Seit 2010 toure ich gemeinsam mit AIDS-Hilfen und Gesundheitsämtern durch den deutschsprachigen Raum, erzähle meine Geschichte, kläre über HIV auf und spreche auch über Homosexualität. Dabei mache ich wohl dieselben Erfahrungen wie alle, die zur Prävention in Schulen gehen: Die Lehrer*innen sind dankbar, wenn ihnen jemand das Thema abnimmt, aber haben trotz eines engen Lehrplans oft schon gut vorgearbeitet. Die Schüler – zumeist sind es 8., 9.oder 10. Klassen – finden es spannend, wenn da jemand über so etwas Persönliches wie Krankheit oder/und Sexualität erzählt.

Aber was erzählt man heute über HIV, wo die Infektion doch eigentlich ihren Schrecken verloren hat? Ganz einfach: Man erzählt die Geschichte von Anfang an – von den Toten und den Lebenden, von den Übertragungswegen und dem Schutz, von Diskriminierungen und Ausgrenzungen, die es immer noch gibt. Und man beantwortet Fragen. Manchmal sind es so viele, dass ich vor lauter Antworten zu nichts Anderem mehr komme. Aber das ist auch gut so.

Mut braucht man, wenn man etwas gegen eine Bedrohung unternehmen will.

Häufig wird mir Mut attestiert, wenn ich offen über «so etwas» wie HIV oder Homosexualität rede. Mut braucht man, wenn man etwas gegen eine Bedrohung unternehmen will. Steckt nicht in jenen, die mir Mut attestieren, auch immer ein Stück der Bedrohung selbst? Der persönliche Kontakt kann hier Vorurteile bekämpfen, Brücken bauen und Wissen schaffen.

Auf der virtuellen Ebene ist das viel schwieriger. In einem HIV-Forum, das ich moderiere, glänzen insbesondere User zwischen 20 und 35 Jahren durch Wissensdefizite und stellen Ende Mai 2021 (!) Fragen wie: «Ist es möglich, sich mit HIV zu infizieren, wenn HI-Viren in der Luft oder an den Händen sind?» – «Macht es für mein eigenes Risiko einen Unterschied, ob ich beim Sex komme oder nicht?» Oder mein Favorit aus dem Herbst 2020: «Auf einer Halloween-Party haben Leute mit Kunstblut rumgespritzt. Bestand da ein HIV-Risiko?»

Oft wollen User mit ihrer Angst vor HIV letztlich nur von einem Seitensprung oder der Nutzung professioneller Dienstleistungen ablenken, weil sie ein schlechtes Gewissen haben. Oder es war ein transsexueller Sexualpartner, der Ängste erzeugt. Kann Vielfalt Ängste auslösen? Die Angst vor HIV wird oft zum Feigenblatt für falsches Verhalten. Denn bevor man hinterfragt, ob nicht der Seitensprung oder die «merkwürdige» Sexualität der Auslöser sein könnte, wird oft lieber die Angst vor einer HIV-Infektion vorgeschoben, weil man dann nämlich «Opfer» ist und nicht mehr «Täter» …

In Zeiten, in denen konservative Kräfte gegen Randgruppen pseudo-argumentieren, in denen Gendersternchen als Kampfmittel sexueller Freizügigkeit verleumdet werden, in denen von LGBTIQ-Lobbys gefaselt wird, die angeblich eine Umsturzagenda ausführen, werden genau diejenigen, die zu schützen vorgegeben wird, verunsichert. Sex scheint wieder etwas Schlechtes, etwas Sündiges, etwas Falsches zu sein. Das erschwert die Prävention, das erschwert die Selbstfindung Jugendlicher und das erschwert das Miteinander allgemein. Die Verfechter der «Zurück-ins-Mittelalter»-Haltung aus konservativen und religiösen Kreisen arbeiten hart daran, die Erfolge der letzten 40 Jahre auszuradieren. Nur so kann ich mir erklären, dass es trotz vielfältiger Aufklärung, Prävention und umfangreichen Informationsmöglichkeiten pro Jahr in Deutschland immer noch etwa 2.500 HIV-Erstdiagnosen gibt, in Österreich und der Schweiz sind es jeweils um die 450. Eigentlich zu viel für eine Infektion, die medizinisch im Griff sein könnte.

Bei HIV heisst es mit Recht: «Nicht nachweisbar = nicht übertragbar.» Bei der Prävention ist es umgekehrt: Erst, wenn Wissen übertragen wird, kann man es (vielleicht) auch nachweisen.

*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

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