30 Jahre ohne Paragraf 175, aber: «Das Klima wird nicht besser!»
Über 123 Jahre lang machte er Homosexuellen das Leben schwer
Vor 30 Jahren wurde in Deutschland der «Schwulenparagraf» 175 abgeschafft. Aus diesem Anlass hatte die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (BMH) am Abend zu einer Feierstunde ins Bundesjustizministerium (BMJ) geladen.
Das erlebt man auch nicht alle Tage, dass bei einer Veranstaltung Rosa von Praunheim, Goethe und Adorno zitiert werden. Man wolle sich zu Themen aus Politik, Gesellschaft und Wissenschaft austauschen, hiess es in der Einladung, und dabei beleuchten, «welche Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland zur Abschaffung des § 175 StGB geführt haben».
Die Veranstaltung, die immer wieder durch musikalische Beiträge von Sigrid Grajek aufgelockert wurde, die etwa das «Lila Lied» sang, begann nach einem Grusswort von Staatssekretärin im BMJ, Angelika Schlunck. Sie zitierte das Grundgesetz, Artikel 1 Absatz 1: «Die Würde des Menschen ist unantastbar» und resümierte, dass es – trotz des deutlichen Auftrags – für Homosexuelle in den ersten Jahrzehnten der jungen Bundesrepublik eben gar nicht galt. Da habe Rosa von Praunheim schon recht gehabt mit dem Titel seines Films «Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt».
Der Staat soll doch eigentlich verschiedene Lebensformen ermöglichen, nicht verhindern, so Schlunck. Und mit Toleranz allein sei es da auch nicht getan. Denn Toleranz, hier brachte sie das Goethe-Zitat an: «Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heisst beleidigen.»
Die Rechte einer Minderheit sind nicht geringer zu schützen als die Rechte der Mehrheit, konstatierte Michael Schwartz vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin in seinem anschliessenden Fachvortrag. Auch das klingt gut, auch das hat nach dem Ende der Nazi-Diktatur nicht funktioniert. Hier verliess man sich ja sogar bei der Verfolgung von Schwulen teils auf dasselbe «Verfolgungspersonal», das schon in der NS-Zeit im Einsatz gewesen war, so Schwartz.
Paragraf 175 des deutschen Strafgesetzbuches, der vom 1. Januar 1871 bis zum 10. Juni 1994 existierte, sollte einige bestrafen, um viele einzuschüchtern, so Schwartz. Er habe viele Generationen von Männern geprägt, nicht wenige waren verheiratet und hatten Kinder, nicht nur der Tarnung wegen. Indirekte Opfer des Paragrafen waren alle homosexuellen, aber eben auch bisexuellen Männer, deren Leben er «verformte», und auch lesbische Frauen, die der Paragraph «zur Unsichtbarheit zwang».
Der Philosoph Theodor W. Adorno, den Schwartz zitierte, hatte schon im Jahr 1963 erklärt: «Gegen den Homosexuellenparagraphen„ ist eigentlich nicht zu argumentieren, sondern nur an die Schmach zu erinnern.» Er war ein «Symbol der Unmenschlichkeit», sagte gut 30 Jahre später die damalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), als er endlich abgeschafft wurde.
Die Union hatte lange gegen die Abschaffung des Paragrafen argumentiert, die katholische Kirche war ohnehin dagegen. Als die CDU/CSU endlich für seine Streichung stimmte, erklärte der CDU-Abgeordnete Horst Eylmann: Forderungen aus «interessierten Kreisen» auf Akzeptanz statt Duldsamkeit gegenüber Homosexuellen, müsse man eine Absage erteilen. Der Staat dürfe «Toleranz gegenüber Homosexuellen» einfordern und müsse diese auch durchsetzen – «nicht mehr, aber auch nicht weniger».
In der folgenden Podiumsdiskussion, an der neben Leutheusser-Schnarrenberger auch Teresa Tammer teilnahm, stellvertretende Sächsische Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, ebenso wie Volker Beck, ehemaliger Sprecher des Schwulenverbandes in Deutschland (SVD, heute: LSVD) und Georg Härpfer, Ex-Vorstandsmitglied von BISS.
Auch wenn in Ost-Deutschland bereits am 30. Juni 1989 der § 151 StGB gestrichen worden war: Die DDR sei nicht besonders fortschrittlich gewesen. Das war «ein Mythos zur Mobilisierung im Westen», erklärte Tammer. Denn zuvor hatten die Gesetzgeber*innen in der DDR die Strafandrohung auch auf Frauen ausgedehnt, und natürlich habe der Paragraf immer auch Erpressungspotenzial von Seiten der Stasi gehabt.
Nach der Beschäftigung mit der Vergangenheit gab es schliesslich noch einen Blick nach vorne: Leutheusser-Schnarrenberger appellierte, man sollte das Abstammungsrecht noch in dieser Legislaturperiode verabschieden, da unklar sei, ob man es nach den Wahlen 2025 noch hinbekomme angesichts der zu erwartenden Stimmenzuwächse der AfD, die die Politikerin namentlich nicht nannte. «Das Klima wird nicht besser. Die Gefahren sind da», warnte die ehemalige Ministerin.
Einer Forderung nach der Aufnahme des schutzwürdigen Merkmals sexuelle Orientierung in das Grundgesetz, mochte sie sich nicht anschliessen. Nicht weil sie es nicht an sich richtig fände, doch sie empfahl, sich aktuell lieber «auf die einfachen Gesetze zu konzentrieren». Das Grundgesetz zu ändern sei nunmal immer schwierig.
Volker Beck appellierte zum Schluss des Abends, alle müssten sich für die Stärkung der Demokratie einsetzen. Denn die sei aktuell in Gefahr.
In der ORF-Doku «Verbotenes Begehren – Meilensteine queerer Geschichte» steht queere Geschichte in der Zeit zwischen den Weltkriegen im Mittelpunkt (MANNSCHAFT berichtete).
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