«Wir glauben an die Liebe. Was denn sonst?»
In Deutschland wurde die Ehe für alle vor sechs Jahren beschlossen, in der Schweiz gibt es sie seit nunmehr fast einem Jahr. Macht uns das normal – und ist das was Schlimmes, fragt sich unser Autor in seinem Kommentar*.
Ich weiss, dass dieses Wort als Selbstbeschreibung unter uns nie in Mode war: normal. Ich bin normal. Wir sind normal. Simmt das? Soll das stimmen? Norm hat immer etwas mit Statistik, mit quantitativen Zählweisen und ihrer Auswertung zu tun. Die Norm ist in unserem Falle: Die allermeisten sind heterosexuell orientiert, ob nun in dieser Weise tragisch veranlagt oder von der Natur in dieser Weise geschlagen: Sie sind es einfach.
Wir sind nicht die Norm. Homosexuell zu sein als «Triebschicksal», wie das einer meiner Lieblingsautoren, der Psychoanalytiker Sigmund Freud einmal sagte, das bewegt sich im Minderheitlichen, je nach Schätzung zwischen drei und sechs Prozent sind «so».
Komisch sind in meinen Augen immer die anderen.
Aber das ist letztlich soziologisches Gewölk, statistisch fundierte Besserwisserei. Aus der Psychologie wissen wir, gleich mit welcher Methode dies herausgefunden wurde, dass jeder Mensch ein Leben lang versucht, mit sich in Einklang zu kommen: Selbstbild und Selbstideal zur Deckung zu bringen. Aus schwuler, lesbischer uns trans Perspektive heisst das, dass es ein langes Erwachsenenleben braucht, um die eigene Widerstandsfähigkeit gegen heterosexuell orientierte Normen ins Werk zu setzen. Dass jede*r einzelne immer mehr gut findet, was man «ist». Das Ziel einer jeden Reifung, wie das die klassische Entwicklungspsychologie formuliert, ist, dass jemand sich normal findet.
Ich finde mich in jeder Beschreibung gut wieder. Klar, die meisten meiner Heterokolleg*innen würden immer sagen, na, der ist doch nicht «normal» – im Sinne des heterosexuellen Mainstreams. Kann sein. Oder auch nicht. Möglich, dass es Menschen irritiert, dass meine schwule Perspektive auf die Welt zu anderen Eindrücken kommt als die von Heteros. Meine Normalität muss nicht die aller sein. Ist mir egal, denn: Komisch sind in meinen Augen immer die anderen.
Bis 2017 war es in Deutschland üblich, heterosexuelle Normalität auch in allen Gesetzen zu finden. Nein, ich rede jetzt nicht über den Skandalparagraphen 175, der in Deutschland über mehr als ein Jahrhundert alles gesellschaftliche Leben vergiftete, nicht nur schwule Männer verfolgte. In diesem 175er steckte der Wille zur heterosexuellen Normbildung drin. Der ist seit 1994 aus der Welt geschaffen. Die Ehegesetzgebung war es, die die Norm definierte: Liebesfähig im rechtsverbindlichen Sinne einer Wünschbarkeit langfristiger Art konnten nur gemischtgeschlechtliche Paare sein.
Das hat sich geändert, seit 2017 gibt es die Ehe nur noch für alle (MANNSCHAFT berichtete). Ende Juni, vor sechs Jahren, entschied der Bundestag auch mit vielen Stimmen der konservativen CDU/CSU, dass die Ehe künftig allen offen steht, die sich auch rechtlich binden wollen. Die Norm ist sozusagen entbiologisiert worden: Eine Ehe sei ein Konstrukt zweier Menschen, sofern sie nicht verschwistert sind oder sofern (meistens die Frau) der eine Partner minderjährig ist.
Ich weiss um die Kritik: Warum können nicht drei Leute heiraten? Oder gleich fünf? Warum mussten Homos das bürgerliche Recht für sich gewinnen? Ja ja ja, alles okay. Man muss für Reformen Mehrheiten gewinnen, idealerweise auch solche Parlamentarier*innen, die eigentlich weltanschaulich konservativ sind. Und da wünsche ich den polyamor oder ehefeindlich eingestellten Menschen viel Erfolg: Sollen sie doch Parteien für ihre Projekte gewinnen. Die Ehe für alle hat das Personenstandsrecht – wie schon zuvor in vielen anderen «westlichen» Ländern – ent-heterosexualisiert, und das ist grandios so!
Seither haben Zehntausende schwule und lesbische Paare geheiratet, sogar Scheidungen hat es gegeben, ist alles normal geworden. Sind wir normal deshalb geworden? Ich würde einwenden: Ist die Frage nicht falsch gestellt? Sollte es nicht so sein, dass Normalität jede*r für sich selbst definiert? Ist es nicht ein Zeichen von politischer Aufklärung, dass diese Orientierungen an Normalität mittelalterlicher Denkungsart sind? Soll doch jeder oder jede so sein oder ihr Leben entwerfen, wie es ihr oder ihm beliebt. Wenn das dann nicht so aussieht wie bei allen anderen – gut so. Wenn doch – ooch jut!
Wir haben für diese Ehe für alle, wie sie nun heisst, die eben keine «Homo-Ehe» ist, lange kämpft. Es hat sich gelohnt. Es ist in die gewöhnlichen Familien ein bisschen Frieden eingekehrt. Das hat sich gelohnt, und wie. Trauredner*innen berichten, nirgendwo sei es so romantisch wie bei Hochzeiten homosexueller Paare. Tja, wir glauben an die Liebe. Was denn sonst?
* Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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