«Ich kann nicht nachträglich Personen zwangsouten»
Über ein weltweit einzigartiges queeres Filmprojekt
Das Österreichische Filmmuseum erforscht private Filme und Videos mit queeren Inhalten, die teilweise besonders delikat sind. Einige davon sollen öffentlich gezeigt werden.
Das Österreichische Filmmuseum hat ein queeres Forschungsprojekt gestartet, das weltweit einzigartig ist. So werden queere Selbstdarstellungen in privaten Filmen und Videos in Österreich aus der Zeit von 1900 bis 2010 erforscht und aufgearbeitet. Erste Vorarbeiten haben gezeigt, dass es eine beachtliche Anzahl an solchen Filmen und Videos gibt. Dies sei überraschend, wie Projektleiterin Katharina Müller im Gespräch MANNSCHAFT erzählt. Müller arbeitet für das Österreichische Filmmuseum und am Internationalen Forschungszentrum für Kulturwissenschaften (IFK) an der Kunstuniversität Linz in Wien. Das bislang erschlossene Filmmaterial umfasst eine Laufzeit von mehreren tausend Minuten, «wobei vieles leider mangels archivarischer Möglichkeit verschimmelt ist, aber vieles eben auch nicht», sagt Müller. Manche Filme und Videos sollen ab 2024, vielleicht auch schon Ende dieses Jahres im Österreichischen Filmmuseum gezeigt werden.
Konkret geht es in dem Forschungsprojekt um Darstellungen von queeren Menschen und Teilen der queeren Community in Filmen und Videos, die ausserhalb von industriellen und künstlerischen Verwertungskontexten (wie TV- und Kinofilmen) entstanden sind. Dazu zählen beispielsweise Home Movies, Amateurfilme und Videos von queeren Aktivist*innen. Zu beachten ist, dass solche Filme und Videos oft besonders delikat sind. Denn sie konnten häufig nur im Verborgenen gemacht und gezeigt werden, was mit der Gesetzeslage zusammenhing.
Österreich schaffte erst 1971 als eines der letzten Länder in Europa die Strafbarkeit von Homosexualität ab. Hinzu kommt, dass es bis 1996 in der Alpenrepublik für Homosexualität noch ein strenges Werbe- und Vereinsverbot gab. Demnach durften bis zu diesem Zeitpunkt keine queeren Vereine gegründet und in der Öffentlichkeit keine queeren Inhalte gezeigt werden.
Um einen möglichst breiten Überblick zu bekommen, arbeitet Müller vom Österreichischen Filmmuseum im Zuge ihres Projekts «Visual History of LGBTIQ+ in Austria and Beyond» mit mehreren Einrichtungen und Institutionen zusammen – wie das Schwule Museum in Berlin, die Österreichische Mediathek, QWIEN (Zentrum für queere Geschichte in Wien), Stichwort – Archiv der Frauen- und Lesbenbewegung und das Ludwig Boltzmann Institute for Digital History. «Eine solche Aufarbeitung und Beforschung von queeren audiovisuellen Beständen hat in Österreich bislang noch nicht stattgefunden», betont Projektleiterin Müller. Und auch weltweit gebe es kein vergleichbares Projekt dieses Umfangs. Bislang liegen ein paar kleinere Initiativen wie beispielsweise das Lesbian Home Movie Project in den USA vor.
Die Forschungsarbeiten für das Vorhaben in Österreich sind mit einigen Herausforderungen verbunden. Zunächst einmal musste die Projektleiterin Müller Leute finden, die wieder Leute kennen, die solche Filme und Videos gemacht haben. Und dann sind viele bildethische Fragen zu berücksichtigen. «Kann ich das Material überhaupt sehen? Schliesslich handelt es sich dabei oft – ähnlich wie bei Tagebüchern – um privates Material», so Müller. Eine weitere Frage ist, ob die Videos später in der Öffentlichkeit gezeigt werden können. Das gilt es überhaupt erst zu verhandeln.
«Ich kann ja nicht nachträglich Personen zwangsouten», betont die Projektleiterin. Mit Erlaubnis und in Zusammenarbeit mit den Filmemacher*innen oder deren Nachfahren sollen jedenfalls bestimmte Filme oder Teile daraus im Österreichischen Filmmuseum gezeigt werden. Dabei sollen auch «die Künste ins Spiel kommen», betont Müller. «Es geht um die Frage, wie diese Geschichte – etwa durch künstlerische Neubearbeitungen – vermittelt werden kann.» Oder wie Bilder gefunden werden können für Leerstellen in der Geschichte. So liege zum Beispiel aus den 1930er-Jahren viel weniger Filmmaterial vor als aus den 1960er-Jahren.
Müller setzte sich schon lange mit queerer Geschichte, vor allem als subkulturelle Geschichte auseinander. Sie habe schon als 17-jährige Schülerin damit begonnen, «weil ich einfach wissen wollte, wo sind die Role-Models – die Vorbilder. Ich wollte wissen, welche Alternativen es zu den hetero-bürgerlichen Entwürfen, die einen so hartnäckig umgeben, gibt», erzählt die Projektleiterin.
Bei der Beschäftigung mit queerer Geschichte stellt sich für Müller auch die Frage nach den Verbindungen zur jetzigen Zeit. Die queeren Filme und Videos aus der Vergangenheit erzählen unter anderem von Formen des Zusammenlebens in prekären und krisenhaften Kontexten. Und: «Sichtbarkeit bedeutet ja nicht automatisch Empowerment, es bedeutet auch eine erhöhte Verletzbarkeit», sagt Müller. Für sie hat das Projekt eine hohe gesamtgesellschaftliche Relevanz und Aktualität. Denn auch heute gehe es um Fragen des Zusammenlebens in Zeiten schwindender Demokratie, von Repression, Rassismus, Hass und zunehmender Homo- und Transphobie.
Wie bei früheren Projekten möchte Müller auch bei diesem Projekt möglichst viele Menschen einbeziehen: Jene, die diese Filme und Videos gemacht haben (oder deren Nachfahren), aber auch jene, die in einem Zusammenhang dazu stehen – gemeint sind Personen, die Teil der Schwulen-, Lesben-, Trans-, Inter- und Bi- Bewegungen sind. Mitmachen werden bei dem Projekt auch Menschen mit Expertise in Filmarchivarbeit (schliesslich geht es um den Umgang mit altem Filmmaterial und Videoformaten) – und Kurator*innen, die sich mit queerer Geschichte und deren Erzählung befassen; sowie queere Künstler*innen, die nochmal aus einer ganz anderen Perspektive an die Themen herangehen.
Das Forschungsprojekt wird in Österreich von der öffentlichen Hand gefördert – konkret durch Mittel des Wissenschaftsfonds FWF, und zwar dem Elise-Richter-Programm, das sich an hoch qualifizierte künstlerisch-wissenschaftlich tätige Frauen richtet.
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