Wenn der homophobe Vater zum Pflegefall wird
Für «Falling» führt Viggo Mortensen Regie und spielt die Hauptrolle
Im neuen Kinofilm «Falling» spielt Viggo Mortensen einen schwulen Familienvater, der mit der Demenz seines greisen Vaters umgehen muss. Patrick Heidmann sprach mit dem 62-jährigen Schauspieler via Zoom.
Viggo, dein neuer Film «Falling» ist dein Regiedebüt, auch das Drehbuch hast du selbst geschrieben. Wie viel von deiner eigenen Familiengeschichte steckt in dieser schwierigen Beziehung zwischen einem an Demenz erkrankten Vater und seinem erwachsenen Sohn, um die es hier geht? Es wäre falsch zu sagen, der Film sei nicht auch autobiografisch. Als meine Mutter starb, war es mir ein grosses Bedürfnis, meine Erinnerungen an sie, an meine Kindheit und die Beziehung zu meinem Vater aufzuschreiben, der dann zwei Jahre später ebenfalls starb. Ich wollte meine Gefühle für mich aber auch für meine Brüder festhalten, darunter meine subjektive Wahrnehmung von Ereignissen und Interaktionen innerhalb meiner Familie. In Drehbuchform nahm das dann nochmal eine ganz andere, fiktive Gestalt an. Die Handlung und die Familie in «Falling» sind also nicht konkret meinem eigenen Leben entnommen. Aber die Erinnerungen und Emotionen, von denen dieser Film lebt, sind sehr persönlich.
Den Film hast du deinen beiden Brüdern gewidmet. Wie haben sie auf ihn reagiert? Sie mochten den Film – zum Glück! Meine Sorge war, dass sie die Sache lächerlich finden oder meinen würden, dass doch nichts davon je so bei uns zuhause passiert sei. Erfreulicherweise war das nicht der Fall, selbst wenn ihr eigener Film über unsere Familie vermutlich ganz anders aussehen würde. Aber so ist das eben mit der subjektiven Wahrnehmung, keine zwei Menschen haben je die exakt gleiche Erinnerung an eine Situation.
«Ich dachte darüber nach, wie wohl die Ehefrau von diesem John ist – und merkte dann, dass er doch auch genauso gut einen Ehemann haben kann.»
Du selbst spielst den erwachsenen Sohn. Interessanterweise ist diese Figur ein schwuler Mann mit Ehepartner und Kind . . . Ja, das war ein instinktiver Einfall beim Schreiben. Ich dachte darüber nach, wie wohl die Ehefrau von diesem John ist – und merkte dann, dass er doch auch genauso gut einen Ehemann haben kann. Wenn ich zu Beginn des Films am Telefon sage: «Ich bin gleich zuhause, Schatz» und wir dann in der nächsten Szene sehen, dass dieser Schatz ein Mann ist, dann empfinde ich das als eine schöne Überraschung.
Verschiebt sich für dich dadurch in der Geschichte etwas, dass John schwul ist? Nicht im eigentlichen Sinn. Aber vielleicht macht es den Unterschied noch ein wenig grösser zwischen seinem eigenen Familienleben und dem, das er in seiner Kindheit erlebt hat. Der springende Punkt ist aber natürlich, dass so eine Regenbogenfamilie nicht zwangsläufig besser oder schlechter ist als eine heterosexuelle. Das, was Johns Ehe besser macht als die seines Vaters, ist die Tatsache, dass er und sein Mann Verständnis füreinander haben und miteinander kommunizieren, selbst in Konfliktsituationen.
Die wüsten Schimpftiraden des Vaters gewinnen natürlich nochmal eine zusätzliche, bittere Dimension durch all die Homophobie, die da zutage tritt! Stimmt, wobei die schlimmsten Momente vermutlich gar nicht die sind, in denen der Vater einfach laut herumpöbelt. Denn das ist offenkundig seinem geistigen Zustand geschuldet, das macht er mit allen. Viel schmerzhafter sind für den Sohn sicherlich die Augenblicke, in denen der Vater bei klarem Verstand scheint und vielleicht sogar gute Absichten hat, trotzdem aber seine Homophobie nicht verbergen kann. Wenn er zu John sagt: «Du wirkst gar nicht wie eine Schwuchtel.» Allein dass er dieses Wort verwendet: «Schwuchtel». Oder wenn er sich vergewissern will, dass die Homosexualität seines Sohnes, der immerhin seit zwölf Jahren verheiratet ist, nicht vielleicht doch nur eine Phase ist, die wieder vorübergeht. Wie fürchterlich solche Sätze klingen können – selbst wenn sie vielleicht nicht einmal böse gemeint sind –, weisst du als schwuler Mann sicherlich besser als ich.
Manchmal fragt man sich als Zuschauer, warum John das überhaupt alles über sich ergehen lässt. Der Grund dafür ist sicherlich nicht, dass er ein gutmütiger Engel ist. Aber in diesem Fall weiss John eben, dass es wegen der Demenz gar nichts bringen würde, einen grossen Streit vom Zaun zu brechen. Am nächsten Tag würden die Beleidigungen ja wieder von vorne losgehen. Ausserdem hat ihm die Erfahrung sein Leben lang gezeigt, dass er nur verlieren kann, wenn er sich zur Wehr setzt. Wann immer er es tat, bestrafte ihn sein Vater, verliess ihn, legte das Telefon auf oder ähnliches. Also wechselt er lieber das Thema. Dass das nicht gesund ist, sehen wir im Film ja auch sehr deutlich. Trotzdem kann ich nachvollziehen, dass er diesen Mann nicht komplett aus seinem Leben zu streichen in der Lage ist. Gerade wenn der nun eindeutig auf Hilfe angewiesen ist.
Wusstest du eigentlich immer, dass du die Hauptrolle spielen würdest? Im Gegenteil, ich ging fest davon aus, dass ich es nicht tun würde. Ich fand eigentlich nicht, dass ich der Richtige für die Rolle sei, ausserdem wollte ich meine komplette Aufmerksamkeit dem Team und den Schauspieler*innen widmen. Aber wie es dann immer so ist: Um den Film zu finanzieren, braucht man einen Namen – und meiner lag dann nahe.
Wie war es denn überhaupt, zum ersten Mal einen Film als Regisseur zu verantworten? Mir war klar, dass ich mich da einer echten Herausforderung stelle, und tatsächlich war die Sache auch verdammt schwierig. Das Geld für den Film aufzutreiben, zu drehen, dann zu schneiden, das war alles nicht ohne, obwohl ich durchaus wusste, worauf ich mich einliess. Grossen Spass hatte ich trotzdem.
Wie sehr bist du an deine Grenzen gestossen? Sagen wir es mal so: Ich bin zu stur, als dass ich an irgendeinem Punkt die Flinte ins Korn geschmissen hätte. Wenn ich mit etwas anfange, dann höre ich auch nicht auf, bevor die Sache fertig ist und ich zufrieden bin. Wer weiss, was gewesen wäre, wenn ich mich schon vor 30 Jahren am Regieführen versucht hätte. Aber so war es natürlich mein Glück, dass ich nicht mehr der Jüngste bin und reichlich Erfahrung mitbrachte. Ich habe mit genug tollen Regisseur*innen zusammengearbeitet, um mir abzugucken, wie man es richtig macht. Allem voran, wie man mit seinem Team und seinen Schauspieler*innen kommuniziert, so dass alle ihr Bestes geben.
Vor 30 Jahren hätte dich Regie vermutlich auch noch nicht interessiert. Doch, eigentlich wollte ich schon in den Neunzigern das erste Mal einen eigenen Film drehen. Da hatte ich sogar schon Geld vom dänischen Filminstitut dafür bekommen. Aber dann nahm gleichzeitig meine Schauspielkarriere Fahrt auf und ich konzentrierte mich lieber darauf. Es gab dann später immer wieder Geschichten, an denen ich schrieb, und Projekte, die ich umsetzen wollte. Aber erst als meine Mutter vor einigen Jahren krank wurde und starb, nahm «Falling» konkret Gestalt an.
Apropos Zusammenarbeit mit Regisseur*innen: Ist der Auftritt von David Cronenberg als Arzt sozusagen ein Dankeschön an ihn? Ehrlich gesagt nein, auch wenn ich mit keinem Regisseur häufiger gearbeitet habe als mit ihm und es kein besseres Vorbild gibt. David kam mir nur als Erster in den Sinn, als ich diese Szene mit dem Proktologen schrieb. Und weil ich ihn dann in dieser Rolle im Kopf hatte, musste ich zumindest auch fragen, ob er sie spielen möge. Ausserdem ist es immer nett, mit Menschen zusammenzuarbeiten, mit denen man schon lange befreundet ist.
Für die wirklich kleine Rolle von Johns Schwester konntest du ausserdem die wunderbare Laura Linney gewinnen. Du hast recht, die Rolle ist wirklich winzig. Aber für mich ist sie in dieser Geschichte ganz entscheidend, denn sobald man ihr begegnet und sie in der Interaktion mit ihrem Bruder und Vater erlebt, versteht man nochmal so viel mehr über diese beiden Männer. Und überhaupt die ganze Familie. Ich wusste, dass ich für diese paar Momente eine wirklich erstklassige Schauspielerin brauchte – und konnte mir niemand Besseres vorstellen als Laura. Ich schätze mich wahnsinnig glücklich, dass sie das Drehbuch mochte und ohne zu zögern zusagte, obwohl sie sonst natürlich grosse Hauptrollen gewöhnt ist.
Viggo Mortensen
Zu Beginn seiner Karriere war Viggo Mortensen meist der attraktive Mann an der Seite weiblicher Superstars: in «Portrait of a Lady» mit Nicole Kidman, «Die Akte Jane» mit Demi Moore oder «28 Tage» mit Sandra Bullock. Dann spielte er den Aragorn in den «Herr der Ringe»-Filmen – und wurde selbst zum Superstar. Seither war der gebürtige New Yorker mit Wohnsitz in Spanien dreimal für den Oscar nominiert (für «Tödliche Versprechen», «Captain Fantastic» und «Green Book»), spielte Sigmund Freud («Eine dunkle Begierde») und präsentiert nun mit «Falling» sein Regiedebüt.
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