Fest ohne Familie – «Hätte nicht gedacht, dass mir das wehtut»
Unser Autor wird Weihnachten zum ersten Mal ohne seine Familie sein
Ja, dieses Weihnachten wird anders als sonst. Keine oder weniger Familie, keine oder weniger Freund*innen. Da geht auch unserem Autor* so. Er hofft trotzdem, dass sich alle Queers geliebt fühlen.
Während ich diese Zeilen schreibe, ist das noch nicht so recht klar: ob (und wenn ja: wie) das mit dem Lockdown kommt. Dieses Jahr an Weihnachten. Unklar wie «White Christmas»-Schneegestöber ist das eher. Was ich weiss: Für mich fällt Weihnachten, wie ich es bislang kannte, ohnehin aus. Meine Mama hat Weihnachten gecancelt. Für uns. Sie gehört zur Corona-Risikogruppe, und ihr steht ein nicht ganz ungefährlicher Eingriff im Januar bevor – der nicht hinausgezögert werden sollte. Meine Schwester und ich wohnen beide in Corona-Hotspots. Zwar hatte ich schon Covid-19 im Herbst, aber so richtig sicher ist das mit der Immunität ja nicht und wie lang sie anhält. Ergo bleibt jede*r dieses Jahr bei sich zu Hause. Ein Familien-Weihnachtsfest wird es nicht geben. Ich hätte nicht gedacht, dass mir das mal wehtut.
Ich bin vor vielen Jahren aus der Kirche ausgetreten. Und Weihnachten, dieses Familienfest, war für mich einige Male auch sehr niederschmetternd – seit ich weiss, dass ich schwul bin. Vielleicht ist das ja eine Erfahrung, die ich mit anderen Queers teile? Mit 15 hatte ich meinen ersten Freund und mit 16 dann mein Coming-out. Meine Eltern waren überfordert, und ich war mit ihrer Überforderung überfordert. Ich war jung und wollte glücklich sein. Mit meinem Freund. Aber die ersten Jahre über durfte ich ihn an Weihnachten nicht mitbringen. Selbst in Jahren, in denen es ganz normal war, dass meine Schwester ihren Freund mitbrachte, wurde bei mir gekontert, à la: «Muss das sein? Das Haus ist doch schon so voll.» Ich hab das nie geglaubt, dass das der Grund ist.
Als Kind war für mich Weihnachten natürlich magisch. Später hab ich mich manchmal beim Tanzen im Disco-Licht erinnert, wie toll Weihnachten einst war, als ich klein war. Dann hat mich auf dem Dancefloor die silberne Disco-Kugel an den Christbaumspitzenstern erinnert und an die sündhaften Mengen Lametta – und das regenbogenspektrale Disco-Licht an die Lichterkette am Tannenbaum, die meine Eltern vor einigen Jahren leider gegen eine viel «natürlichere», also dezentere getauscht haben. Ich habe mich dann beim Tanzen im queeren Club manchmal zurückerinnert an diese magische Lichterketten-Zeit, als ich geliebt wurde, ohne Wenn und Aber. Und manchmal ist das dann auch auf dem Tanzboden wieder geschehen. Oder vielleicht wollte ich das auch bloss glauben.
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Im Lauf der Jahre ist dann zweierlei passiert: Einerseits bin ich ausgezogen, zwei Wochen nach dem Abi, und hab mich sicher in Vielem von meiner Familie entfernt, räumlich und mental. Andererseits haben meine Eltern mit der Zeit verstanden: Mein Freund durfte an Weihnachten dabei sein – bei meinen Eltern, meiner Schwester und auch meiner Grossfamilie. Manchmal bin ich dafür dankbar, manchmal denke ich: «Normal, so sollte es ja einfach sein.» Und auch wenn diese Feiern, nüchtern betrachtet, nie sonderlich spektakulär waren, so sind sie für mich doch zu einem grossen Symbol geworden: dass ich so akzeptiert werde, wie ich bin, mit meinem Freund gemeinsam. An keinem anderen Tag wird mir das so klar. Das bringt mich in Frieden mit mir selbst, mit meiner Vergangenheit, mit meinem schwierigen Coming-out auch mit dem Kind, das ich war und das das Lametta im Regenbogenlicht geliebt hat.
Ich muss an Édouard Louis denken: «Im Herzen der Gewalt». Der autobiographische Roman beginnt, chronologisch betrachtet, damit, dass Édouard, etwas angetrunken und mit Buch-Geschenken beladen, von seinen beiden besten schwulen Freunden aus, mit denen er Weihnachten gefeiert hat (nicht mit der Familie), den Heimweg antritt. Er denkt dabei darüber nach, wie weit er sich von seiner Familie entfernt hat.
Wenn ich noch düsterer drauf bin, denke ich an Xavier Dolan: «Einfach das Ende der Welt»: Der Protagonist, ein schwuler Schriftsteller, kehrt nach 12 Jahren Distanz zu seiner Familie zurück. In der Literaturvorlage des Films hat der Schriftsteller Aids, aber im Film bleibt das offen, was für eine Krankheit er hat. Jedenfalls wird er seine Familie zum letzten Mal gesehen haben, das weiss er auch, doch er bringt es nicht übers Herz, von seiner Krankheit zu erzählen. Oder: Die Familie schafft nicht das Vertrauen, damit er das könnte. Nicht wenige queere Geschichten erzählen von der Entfremdung von der Familie.
Ich hab geheult, als der Abspann lief. Und ich weine eigentlich fast nie im Kino. Warum hat das so viel in mir ausgelöst? Ich glaube, weil ich Angst davor, dass auch ich mich so weit von meine Familie entfernt haben könnte. Oder: dass meine Queerness und alles, was sie mit sich brachte, das bewirkt hat. Weihnachten, gemeinsames Weihnachten, ist der beste Gegenbeweis. Ich merke das gerade sehr, obwohl es mir vor einigen Jahren auch eher wie eine lästige Pflicht vorkam, Jahr für Jahr von Berlin in die Provinz zu fahren – und auch dass das für selbstverständlich genommen wurde, so kam es mir jedenfalls vor.
Dieses Jahr also erstmals Weihnachten nicht bei meinen Eltern, sondern in Berlin, der Beton-Stadt, die an Weihnachten angeblich immer leer ist, aber diesmal ja vielleicht auch nicht. Ein paar Freund*innen werden wohl da sein, vielleicht sehe ich einige noch auf einen Glühwein vorab. Bei manchen wünsch ich mir das sehr. Ich würde auch gerne die lesbische Weihnachtskomödie «Happiest Season“ mit Kristen Stewart sehen, aber leider läuft die im deutschen Streaming nirgendwo, Skandal! Dafür guck ich heute Abend die queere Weihnachtssause von Taylor Mac, die noch bis Anfang Januar online abrufbar ist.
Ich denke an Timothée Chalamet als Elio am Kamin, ganz am Ende von «Call Me By Your Name», während Sufjan Stevens herzzerreissend «Visions of Gideon» singt. Es ist Chanukka, Oliver ist in der Ferne, sie haben telefoniert, irgendwann müssen sie auflegen, und Elio spürt bitterlich die Distanz, in seiner Heimisolation am Kamin.
Einen Adventskranz hab ich schon, dieses Jahr zum ersten Mal. Ob ich mir und meinem Freund auch einen Tannenbaum zum ersten Mal aufstelle? Man wird wirklich erwachsen. Wer hätte das gedacht? Ich nicht. Ich denke, meine Schwester und meine Eltern und ich und mein Freund, wir werden uns am 24. Dezember irgendwie online zusammenschalten. Dann werde ich sie im digitalen Fenster sehen und irgendwo im Hintergrund den Weihnachtsbaum dort, wo ich ihn schon als Kind kannte, magischer als jedes Disco-Licht. Ich hoffe, ich bekomme es hin, ihnen zu sagen, dass ich sie lieb habe. Über meine Gefühle zu sprechen ist immer noch nicht meine Stärke. Ich hoffe, dass auch die anderen Queers da draussen sich geliebt fühlen, auch von ihrer Familie, und dass sie es vielleicht merken oder, besser noch, spüren – dadurch, wie man einander fehlt dieses Jahr.
*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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