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«Auch heute sprechen mich immer noch Leute als Mann an»

Agathe Rousselle im Interview

titane
Foto: Koch Films

«Titane» ist die Kino-Sensation des Jahres: Eine junge Tänzerin mit Aggressionsproblem und Auto-Fetisch wird zur Serienkillerin und findet irgendwann bei einem verzweifelten Feuerwehrmann Unterschlupf, der sie für seinen vermissten Sohn hält.

In den Händen von Regisseurin Julia Ducorunau wird aus der Geschichte wieder eine aufregend-wilde Mischung von Genre-Elementen, inklusive viel Sex und Gewalt, aber auch viel Zärtlichkeit und einem dezidiert weibliche Blick auf Körperlichkeit und Männlichkeitsrituale. In Cannes wurde der Film, der ab dem 7. Oktober in den deutschen und Schweizer Kinos zu sehen ist (in Österreich erst ab November), ebenso überraschend wie verdient mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Und auch die Hauptdarstellerin ist preisverdächtig: Agathe Rousselle, 1988 geborene Französin, ist in ihrer ersten Rolle eine echte Entdeckung, von der man den Blick kaum lassen kann. Wir konnten ihr ein paar Fragen stellen.

Agathe, «Titane» ist ein ungewöhnlicher, krasser und waghalsiger Film, in dem Sie die kaum weniger ungewöhnliche und krasse Protagonistin spielen. Hatten Sie zu dieser Figur und Geschichte auf Anhieb einen Bezug?
Definitiv nicht – und das spricht eigentlich für mich, oder? Denn diese Alexia ist ja eine echte Psychopathin. Zumindest zu Beginn des Films geht Ihr eigentlich jegliche Menschlichkeit ab. Weswegen ich zur Vorbereitung auch unter anderem ganz viele Videointerviews mit Serienkiller*innen wie Ted Bundy oder Aileen Wuornos geguckt habe. Aber dann trifft sie eben auf einen Mann, der seinerseits ziemlich am Ende ist – und gemeinsam können sie sich helfen. Dank ihm beginnt sie, zum ersten Mal in ihrem Leben etwas zu fühlen – und er kann endlich ein paar Wunden seiner Vergangenheit heilen lassen.

Thematisch steckt in «Titane» sehr viel mehr drin als man beim Schlagwort «Body Horror». Was hat Sie denn am Drehbuch besonders angesprochen?
Zum Wahlfamilien-Aspekt, der in der Beziehung dieser beiden Figuren steckt, hatte ich zum Beispiel sofort einen Bezug. Weil ich mir selbst über die Jahre Menschen gesucht habe, die für mich wie eine Familie und die größte Stütze überhaupt sind. Gleichzeitig fand ich auch interessant, was unsere Regisseurin Julia Ducournau über Mutterschaft und Schwangerschaft erzählt. Gerade weil ich selbst noch nie schwanger war. Aber mir gefiel es einfach, dass der Film eine Frau zeigt, die schwanger wird, das Baby allerdings gar nicht haben will. Denn in unserer Gesellschaft hat man ja oft den Eindruck, dass man besser nicht darüber sprechen sollte, wenn man keine Kinder möchte oder nicht happy über eine Schwangerschaft ist.


Eine grosse Portion Queerness und ein Verwischen von Gender-Grenzen kommt dann obendrein auch noch ins Spiel …
Stimmt, und auch damit traf «Titane» bei mir einen Nerv. Als Alexia auf Vincent trifft, wird sie zu einem Jungen, zu seinem verschwundenen Sohn. Das ist kein Ringen mit ihrer Gender-Identität, keine Krise oder so. Sie schlüpft nur einfach in diese männliche «Rolle», weil es ihr und Vincent gelegen kam – und weil Gender für sie eben genau das ist: lediglich eine Rolle, eine Form, eine Hülle. Nichts, was den Kern eines Menschen ausmacht. Das geht mir ähnlich.

Meine Gender-Identität war immer etwas, womit ich gespielt und ausprobiert habe. Das war in meiner Modelkarriere so, wo Androgynität und Geschlechterlosigkeit bei vielen meiner Jobs gross geschrieben wurden. Aber auch privat. Schon als Kind wurde ich mehrmals die Woche für einen Jungen gehalten, und auch heute sprechen mich immer noch Leute als Mann an. Vielleicht nicht im Kleid auf dem roten Teppich in Cannes, aber wenn ich morgens ungeschminkt mit dem Hund spazieren gehe. Ich fand das immer spannend und reizvoll, nie nervig.

Apropos Modeln: «Titane» ist Ihr erster Film als Schauspielerin – und Sie wurden für die Rolle auf Instagram entdeckt, nicht wahr?
Das stimmt, aber letztlich kam ich nicht zufällig zur Schauspielerei, sondern habe seit meiner Jugend von diesem Beruf geträumt. Schon zu Schulzeiten habe ich ein bisschen Theater gespielt. In meinen wilden Zwanzigern ergaben sich dann nur plötzlich ganz viele andere Möglichkeiten und ich habe die unterschiedlichsten Dinge ausprobiert. Die Schauspielerei kehrte dann in mein Leben zurück, als ich offensichtlich dafür bereit war.


Was haben Sie denn alles gemacht, ausser der Arbeit als Model?
Im Grunde habe ich zwölf verschiedene Leben geführt. Ich hatte eine Stickerei-Firma und habe ein Magazin herausgegeben, war Coach und Casting-Director, Fotografin und Produzentin. In all der Zeit habe ich den Traum von der Schauspielerei nie aufgegeben, aber ich hatte auch einfach nie Lust, Däumchen zu drehen und zu warten, bis mich jemand entdeckt. Weswegen es umso lustiger ist, dass genau das dann am Ende aber doch passiert ist – und Julia auf Instagram auf mich aufmerksam wurde.

In jedem Fall weiss ich jetzt, dass ich da angekommen bin, wo ich hingehöre. Die Arbeit an «Titane» war das erste Mal in meinem Leben, dass mir wirklich gar nichts fehlte. Von meinem Kopf über meinen Körper bis hin zu meinen Gefühlen – alles passte. Ich war im Himmel und hätte meinetwegen auch zwei Jahre an dem Film drehen können.

Gleichzeitig war die Rolle doch aber auch sicher eine enorme Herausforderung. Was war für Sie die grösste Schwierigkeit?
Das Psychologische fand ich nicht im eigentlichen Sinne schwierig, nachdem ich mir die Figur erarbeitet hatte. Und auch die Nackt- und Sexszenen waren eigentlich easy, denn ich fühle mich nackt nicht unwohl und Julia hatte von Anfang an versprochen, dass in diesen Momenten immer möglichst wenig Menschen am Set sein würden und ich so oft wie möglich kaum sichtbare «Nacktwäsche» tragen konnte… Die grösste Herausforderung waren also vielleicht die Szenen, in denen ich mir meine Brüste abgebunden habe. Ich will nicht sagen, dass ich da Schmerzen hatte, aber eng und beklemmend war das schon. Aber auch spannend, denn es veränderte meine Haltung und Körpersprache – und für mein Spiel war es gar nicht schlecht, mich nicht zu wohl zu fühlen.

In Cannes lief auch das Drama «Grosse Freiheit» über die Unterdrückung von Homosexuellen nach 1945 in Deutschland (MANNSCHAFT berichtete). MANNSCHAFT empfiehlt: 10 queere Filme zum (Wieder)Entdecken! Vom Mutter-Tochter-Drama über den Thriller am See bis zur Lovestory im Waschsalon.


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