Sichtbarkeit in der Ukraine: Queere Soldat*innen outen sich
Das postsowjetische Land tut sich schwer mit der Gleichstellung von LGBTIQ
Wer in der Ukraine an der Front kämpft, geniesst in der Bevölkerung hohes Ansehen. Eine Gruppe ehemaliger Soldatinnen und Soldaten will diese Wertschätzung nun in Akzeptanz für die LGBTIQ-Community ummünzen. Doch Homo- und Transphobie sind in der postsowjetischen Gesellschaft noch immer tief verankert.
In der Ukraine herrscht seit über sechs Jahren Krieg. Der bewaffnete Konflikt findet im Osten des Landes statt, wo russische und prorussische Kräfte für die Abspaltung der Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk kämpfen. Für die ukrainische Bevölkerung ist der Einsatz gegen die Separatist*innen mehr als nur ein ehrenhafter Dienst am Vaterland – er kommt einem Heldentum gleich. Im ersten Kriegsjahr, 2014, bildeten sich 37 Freiwilligenbataillone, um die ukrainische Armee zu unterstützen. Dass sich unter den Männern und Frauen an der Front auch LGBTIQ-Vertreter*innen befinden, dürfte selbstverständlich sein – in der Ukraine jedoch nicht.
Umso grösser war die Verblüffung, als über 30 Kriegsveteran*innen – einige von ihnen im Kampfanzug – am 23. Juni 2019 am Marsch für Gleichstellung im Rahmen der Kiew Pride teilnahmen. Nicht nur die rechtsextremen und christlich-konservativen Gegendemonstrierenden waren perplex: Mehrere ukrainische Medien berichteten über die Paradiesvögel unter den Paradiesvögeln. «Eigentlich hätten noch mehr schwule Soldaten mitmarschieren wollen», erklärte der Veteran Viktor Pylypenko gegenüber einem TV-Sender. Sie hätten jedoch die Front nicht verlassen können. Schwule Soldaten, die im Krieg kämpfen? Die Sensation war gelungen.
Deserteure. Kommunistinnen. Kriegsverweigerer. Linke. Im ukrainischen Volksmund gelten LGBTIQ-Menschen als alles andere als patriotisch. Im Telefoninterview mit der MANNSCHAFT weist Viktor auf die Essays des Finanzmathematikers Nassim Nicholas Taleb hin. «Ein Ereignis, das selten und höchst unwahrscheinlich ist, bezeichnet Taleb als schwarzen Schwan», sagt der 32-Jährige. «In der Ukraine sind wir das. Wir sind die schwarzen Schwäne.»
«Während Rechtsradikale Jagd auf Schwule und Lesben in Kiew machten, fehlte es uns an Soldaten.»
Mit den Kameraden ins Bordell Viktor gilt als erster offen schwuler Kriegsveteran der Ukraine. Als Gewehrschütze, Sanitäter und Bediener von Granatwerfern übernahm er im Freiwilligenbataillon Donbass gleich mehrere Aufgaben. «Es herrschte Personalmangel. Während Rechtsradikale Jagd auf Schwule und Lesben in Kiew machten, fehlte es uns an Soldaten», sagt er. Über sein Schwulsein verlor Viktor kein Wort, als er von 2014 bis 2016 an der Front im Dienst stand. Zu gross war die Angst, von seinen Kameraden Ablehnung oder gar Ausgrenzung zu erfahren.
Sex und Sexualität waren jedoch beliebte Gesprächsthemen, um sich vom Kriegsalltag abzulenken, und so musste sich Viktor stets neue Geschichten über sein angeblich heterosexuelles Liebesleben ausdenken. «Ständig wollte man von mir wissen, wen ich gerade date, wie sie aussieht und ob ich nicht ein Foto von ihr hätte», sagt er. Die Sorge, die anderen würden auf seine Homosexualität kommen, war eine ständige Begleiterin. «Wenn meine Kameraden ins Puff gingen, begleitete ich sie und schlief mit einer Prostituierten.» Viktor war beliebt. Als einer der wenigen Soldaten mit einem Universitätsabschluss beherrschte er mehrere Fremdsprachen und konnte ausländischen Journalist*innen an der Front Interviews geben. Das brachte ihm den Kampfnamen «der Franzose» ein.
Viktor dachte nicht unbedingt an ein Coming-out, als er 2016 nach Kiew in sein Zivilleben zurückkehrte. Die Ehemaligen aus dem Bataillon pflegten einen engen Kontakt zueinander, nicht zuletzt auch, weil viele mit dem Wiedereinstieg in den Alltag haderten. Von den Granaten hatte Viktor einen teilweisen Hörverlust auf beiden Ohren erlitten. «Ich bediente einen schweren Panzerabwehrgranatwerfer – jetzt höre ich schlecht. Zudem leisteten wir auf dem Schlachtfeld erste Hilfe. Meine Kameraden und ich trugen die Verwundeten oft unter Beschuss weg. Mein Zug war auch eine Sturmtruppe und wir kämpften auf Schlachtfeldern wie Schyrokyne.»
Militär und schwul – natürlich geht das zusammen
Coming-out in den Medien 2018 suchte Anton Shebetko nach queeren Armeeangehörigen, die er für ein Projekt ablichten wollte. Für den Fotografen war es ein Paradox, dass LGBTIQ-Menschen bereit waren, ihr Leben an der Front aufs Spiel zu setzen, sich gegenüber der ukrainischen Öffentlichkeit jedoch nicht outen wollten. Zusammen mit zwei lesbischen Soldatinnen, einem trans Soldaten und vier weiteren schwulen Soldaten willigte Viktor ein. Um ihre Anonymität zu wahren, setzte Shebetko unter anderem Gesichtsmasken, Netze, regenbogenfarbigen Rauch und Tarnfarbe ein. Als schliesslich feststand, dass die Bilder in Kiew in der Ausstellung «We Were Here» («Wir waren hier») gezeigt werden sollten, entschied sich Viktor für ein öffentliches Coming-out. «Shebetko brachte mich zur Erkenntnis, dass ich ein verstecktes, unglückliches Leben führte», sagt er.
Bei der Vernissage stellte sich Viktor vor versammelten Medien und Publikum neben sein Bild, in einer Videoinstallation konnten Besucher*innen seine Geschichte hören. «Die Medien sogen alles auf. Alle ukrainischen Sender kamen und wollten Interviews mit mir machen. Sogar die BBC war da», erinnert er sich.
Die Leistung auf dem Schlachtfeld zählt Auch Nastya Konfederat war da. Die 30-Jährige war wie Viktor Teil der Freiwilligenmiliz und absolvierte ihren Dienst an der Front als Kartografin und Drohnenpilotin in der Luftaufklärung. Das öffentliche Coming-out imponierte ihr. Über einen Freund, der im gleichen Bataillon wie Viktor gekämpft hatte, kam sie an seine Telefonnummer. «Ich rief ihn an und sagte ihm, dass wir zusammen gegen diese verfickte Homophobie kämpfen müssen», sagt sie lachend im Telefoninterview mit der MANNSCHAFT.
Auf Facebook gründeten Viktor und Nastya geheime Gruppen für queere Angehörige und Veteran*innen des Militärs und der Freiwilligenmilizen, wo sie News und Stelleninserate teilten oder, noch wichtiger, einen gegenseitigen Austausch in einem geschützten Rahmen ermöglichten. Bald traten auch LGBTIQ-Personen aus privaten Sicherheitsfirmen und dem Geheimdienst bei, sogar aus dem benachbarten Polen. Während Viktor die allgemeine Gruppe moderiert, ist Nastya für eine Gruppe für lesbische und bisexuelle Frauen zuständig.
Nach seinem medialen Coming-out erhielt Viktor überwiegend positive Reaktionen, selbst von seinen ehemaligen Kameraden aus dem Donbass-Bataillon. Keine seiner anfänglichen Befürchtungen bewahrheitete sich. «Wenn du im Krieg bist und die Leute dann herausfinden, dass du schwul bist, haben sie kein Problem damit, weil sie gesehen haben, dass du einsatzfähig bist», sagt er. «Wie sie habe ich für die Ukraine gekämpft. Mein Schwulsein änderte nichts daran.» Dieses Verständnis von LGBTIQ-Menschen möchten Viktor und Nastya der gesamten ukrainischen Bevölkerung vermitteln.
Die Fotoausstellung und die mediale Aufmerksamkeit machten Viktor zum Gesicht für LGBTIQ-Militärangehörige, jedoch auch zur Zielscheibe für rechtsextreme Gruppen. «Sie begannen, mich zu entmenschlichen und in den sozialen Medien Gerüchte über mich zu verbreiten, dass ich psychisch krank sei», sagt er. An diesem Punkt realisierte er, dass er weitere queere LGBTIQ-Militärangehörige finden musste, wenn er weiterhin öffentlich über das Thema sprechen wollte.
Kein Platz für ideologische Querelen Ein erster Schritt war der eingangs erwähnte Auftritt am Marsch für Gleichstellung im Juni 2019. Die mit Viktor mitmarschierenden Veteran*innen gaben der Öffentlichkeit zu verstehen, dass ihr Kamerad keine Ausnahme ist. Nastya war ebenfalls dabei und schwenkte die rot-schwarze Fahne der Ukrainischen Aufständigen Armee, die als Symbol des ukrainischen Widerstands gegen die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg gilt. Lauthals brüllte Nastya die rechtsextremen Gegendemonstrierenden an, die sie mit grossen Augen beobachteten: «Verpisst euch ins homophobe Russland, dort gehört ihr hin!»
Im Oktober 2019 folgte Nastyas öffentliches Coming-out in Form eines Interviews in einer Zeitung. Auch sie habe eigentlich nur positives Feedback erhalten, für eine Lesbe im Militär sei das aber nicht sehr erstaunlich. «Das ist eine gängige Einstellung in einem postsowjetischen Land: ‹Eine Frau macht die Arbeit eines Mannes? Ah, das ist in Ordnung ›», sagt sie. «Anders sieht es aus für Aktivistinnen, die mit Plakaten demonstrieren oder an einer Vorlesung über Gender teilnehmen. Sie erleben Gewalt und müssen um ihre Sicherheit fürchten.»
Im Gespräch mit der MANNSCHAFT betont Nastya, wie wichtig es ihr sei, dass nicht alle Konservativen in den gleichen Topf geworfen werden. Homophobie habe nichts mit Ideologie zu tun, sondern mit Ignoranz. «Ich bin offen rechts. Ich bin eine Libertäre. Und offen lesbisch», sagt sie. «Das muss sich nicht gegenseitig ausschliessen.»
Nastya ist eine Befürworterin des militärischen Einsatzes in der Ostukraine. Sie weiss, dass viele Mitglieder der LGBTIQ-Community ihre Meinung nicht teilen. «Bei den Antikriegsdemonstrationen in Kiew sah ich Plakate mit der Aufschrift ‹Stop the War›», erinnert sie sich. «Die Ukraine kann den Krieg nicht beenden. Wir haben einen externen Aggressor, der in unser Land eingedrungen ist.» Sowohl Nastya als auch Viktor bezeichnen separatistische und russische Truppen als Terrorist*innen.
Ob unterschiedliche politische Ausrichtungen die LGBTIQ-Bewegung auseinanderzureissen drohen? «Das dürfen sie nicht», sagt Nastya. Die Community solle geschlossen an Themen zur Gleichstellung arbeiten und nicht ideologische Querelen austragen. «Ist meine Meinung die beste? Keineswegs. Ich habe viele Freund*innen, die links sind, aber wir respektieren uns gegenseitig und sind auf gleicher Augenhöhe. Gemeinsam müssen wir einen Gesinnungswandel herbeiführen.»
Mit vereinten Kräften werde das gelingen, wenn auch in kleinen Schritten. Erst kürzlich habe man einen prominenten Militärblogger zu einem Verbündeten machen können. «Er ist konservativ, viele mögen ihn nicht, aber er unterstützt die queeren Armeeangehörigen in der Gefahrenzone», sagt Nastya. «Hass ist kein Bestandteil der Konservativen. Wir sind gegen den Hass.»
In den Startlöchern für mehr Sichtbarkeit Nach dem Auftritt der Veteran*innen am Marsch für Gleichstellung hat Viktor eine weitere Überraschung auf Lager. Mit Unterstützung der kanadischen Botschaft in Kiew beauftragte er den Dokumentarfilmer Maksym Nakonechnyi mit der Produktion von Kurzfilmen über vier LGBTIQ-Militärangehörige. Neben Nastya erzählen der trans Soldat Sebastian, die bisexuelle Yaryna und der schwule Mykola – die letzteren beiden im Rettungsdienst – aus ihrem Leben und ihrem Dienst für das Land. Viktor hofft, dass mit den Filmen auch andere sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten in der ukrainischen Gesellschaft Gehör finden.
«Die Bevölkerung vertraut den Soldat*innen, wie sie der Kirche vertraut.»
Gemäss Filmemacher Maksym ist der Ruf von Armeeangehörigen und Veteran*innen in der Ukraine nicht zu unterschätzen. «Mit dem Krieg hat sich das Ansehen von Soldat*innen und Freiwilligenmilizen verändert. Sie sind nicht bei allen beliebt, geniessen aber einen grossen Respekt. Die Bevölkerung vertraut ihnen, wie sie der Kirche vertraut», sagt er im Gespräch mit der MANNSCHAFT. Anders sehe es bei queeren Menschen aus. «Die Bevölkerung setzt LGBTIQ auf die gleiche Stufe wie Drogenabhängige und die Roma. Die negative Wahrnehmung ist sehr gross.»
Die Kurzfilme hätten im Rahmen von «Sunny Bunny», dem LGBTIQ-Programm des Molodist Internationalen Film Festivals von Kiew, Premiere feiern sollen, doch aufgrund der Corona-Pandemie wurde der Anlass in den August verschoben. Danach hoffen Viktor und Maksym, die Filme auch an LGBTIQ-Filmfestivals im deutschsprachigen Raum zeigen zu können.
«Es wird viele negative Reaktionen geben, aber auch viele positive», sagt Maksym. «Ich hoffe, dass die Filme uns zu mehr Sichtbarkeit verhelfen und zu Diskussionen anregen können. Ich hoffe auch, dass die Community als Ganzes gestärkt wird.»
Homo- und transphobe Gewalt und Erpressung Einen Backlash bekam Viktor bereits am eigenen Leib zu spüren. Im August 2019, rund zwei Monate nach dem Marsch für Gleichstellung, nahm er an einer Gedenkfeier für gefallene Soldat*innen am Michaelsplatz in Kiew teil, als ihn ein Mann von hinten attackierte. «Er beschimpfte mich als Schwuchtel und schlug auf mich ein», erzählt er. Viktor erkannte den Mann als Veteranen aus einer Militäreinheit und zeigte ihn an. Ein weiterer Bekannter aus seinem Bataillon freute sich in den sozialen Medien über den Angriff. «Mich macht jedoch glücklich», wendet Viktor ein, «dass mir viele öffentlich ihre Unterstützung zusicherten.»
Die Gewalt ist für viele offen lebende LGBTIQ-Menschen in der Ukraine ein ständiger Begleiter. Im September 2019 lauerten fünf Unbekannte einem Freund Viktors, ebenfalls ein schwuler Veteran, vor seiner Wohnung auf. Sie schlugen ihn zu Boden und rissen sein medizinisches Korsett vom Körper, das er aufgrund einer Kriegsverletzung an der Wirbelsäule tragen muss. Danach traten sie mehrmals auf ihn ein.
Es gibt viele weitere solche Geschichten. Über eine Dating-App verabredeten sich mehrere Männer mit einem trans Mann, um ihn dann zu vergewaltigen und mit Nacktfotos bei den Eltern zu outen. In Odessa drohten Unbekannte einem schwulen Veteranen mit einem gross angelegten Outing, sollte er ihnen nicht regelmässig Geld überweisen.
«Der Wandel erfordert manchmal Opfer»
LGBTIQ-Feindlichkeit als Relikt der Sowjetzeit Mit seinem Gesicht in der Öffentlichkeit wurde Viktor für viele ungeoutete Ukrainer*innen und Armeeangehörige zum Vorbild, zur Anlaufstelle, zum Fels in der Brandung. Sie wenden sich an ihn, wenn sie verzweifelt an der Front stehen, Opfer von Gewalt und Erpressung werden oder schlicht und einfach nicht weiter wissen. Heute engagiert sich Viktor für die ukrainische queere Organisation Fulcrum, nebenbei gründete er einen Verband für LGBTIQ-Armeegehörige und -Veteran*innen, der als Anlaufstelle verschiedene Dienstleistungen anbietet, darunter auch psychologische Unterstützung bei Coming-outs oder der Wiedereingliederung ins Zivilleben.
Die Bundeswehr – im Gleichschritt Richtung Diversity?
«Die Homo- und Transphobie in unserer Gesellschaft ist ein Überbleibsel aus der Sowjetzeit. Die Sowjetunion war ein einziger grosser Gulag, in dem den Gesellschaften vorgeschrieben wurde, wie sich ein Mann oder eine Frau zu benehmen hatten», sagt Viktor. «Viele Männer in der Freiwilligenmiliz sind über 50 oder gar über 60 Jahre alt und haben diese Zeit durchlebt. Sie sind von dieser homophoben Kultur verseucht und geben sie an unsere Generation weiter. Es liegt an ihr, dies zu ändern.»
Nach seinem Coming-out brach Viktors Vater den Kontakt zu seinem Sohn ab, nur um ihn ein paar Jahre später wieder zu suchen. Mit ihrer Mutter versteht sich Nastya gut, auch wenn das Thema Sexualität zuhause tabu ist. «Ich mache meine Geschichte öffentlich, um zu zeigen, dass sich niemand fürchten muss. Ja, vielleicht verlieren wir einen Freund, Familie oder Bekannte. Der Wandel erfordert manchmal Opfer», sagt Nastya. «Viele Menschen in meinem Alter scheuen sich vor einem Coming-out, weil sie die Reaktionen ihrer Familie fürchten. Sie haben keine Angst vor dem Krieg oder auf dem Boden zu schlafen. Aber den Eltern zu sagen, wie sie sich wirklich fühlen, davor haben sie Angst.»
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