Seamus und das zweite X – Die Rückkehr der Libido

«Ich fühlte mich wie ein halber Mann»

Seamus Denisons Erbgut verfügt über ein 47. Chromosom. (Bild zvg)
Seamus Denisons Erbgut verfügt über ein 47. Chromosom. (Bild zvg)

Jahrelang litt Seamus Denison unter Lethargie und einer fehlenden Libido. Mit 31 Jahren erhielt der Australier schliesslich die Diagnose Klinefelter. Seither hat sich sein Leben um 180 Grad gedreht.

Anders als die anderen sein. Irgendwie aus der Reihe tanzen. Dieses Empfinden haben viele aus der LGBTIQ-Community, wenn sie an ihre Jugendjahre zurückdenken. Seamus Denison auch. Erst mit dem Coming-out und dem Eintauchen in die Community finden viele Queers Gleichgesinnte und ein Gefühl der Zugehörigkeit. Seamus Denison nicht unbedingt. Der Eindruck, dass er anders war, blieb selbst nachdem er sich als junger Erwachsener als schwul geoutet hatte.

Als der Australier seine ersten sexuellen Erfahrungen mit Männern machte, fielen ihm weitere Unterschiede auf. Seine Hoden waren um einiges kleiner als bei seinen Partnern – er vergleicht sie mit der Grösse einer Traube. Nach einem Ultraschall konnten die Ärzt*innen nichts Ernsthaftes feststellen und Seamus tat es ab mit der Haltung: «Jeder Mensch ist anders». Doch Seamus litt auch unter einer schwachen Libido. «Manchmal hatte ich einfach keine Lust. Und die anderen konnten das nicht verstehen», sagt er. Das ging mehrere Jahre so. «Ich schämte mich, weil ich ihn nicht hochkriegen konnte. Ich fühlte mich wie ein halber Mann.»

Dann war da diese Müdigkeit. Selbst die Abwechslung im Fitnessstudio und eine Ernährungsumstellung brachten nichts. Seamus fühlte sich stets schlapp und lethargisch.

Nachdem Untersuchungen ergaben, dass seine Hoden keine Spermien produzierten, schickten die Ärzt*innen ihn zum Endokrinologen. Den Tag der Diagnose im Februar 2018 wird Seamus nie vergessen. Seine Mutter hatte ihn zum Gespräch begleitet und sass neben ihm, als der Endokrinologe ihm sagte: «Sie haben das Klinefelter-Syndrom und sind unfruchtbar. Sie werden keine Kinder haben können.» Für den Endokrinologen war der Fall damit erledigt, der Termin hatte keine zehn Minuten gedauert. Eine einfache Blutprobe hatte die Antwort auf die jahrelangen Symptome geliefert. Ohne weitere Erklärungen oder Hinweise auf Behandlungsmöglichkeiten fühlte sich Seamus im Stich gelassen.

47 Chromosomen, davon 2 X Seamus war 31 Jahre alt, als er die Diagnose Klinefelter erhielt. Warum hatten so viele Ärzt*innen nicht weitergewusst? Was ist Klinefelter? Und vor allem: Was bedeutete diese Diagnose jetzt für ihn?

«Meine Mutter und ich versuchten fieberhaft, mehr über das Syndrom herauszufinden. Viele Studien waren alt und so blieben viele unserer Fragen unbeantwortet», erinnert sich Seamus.

Das Klinefelter-Syndrom wird umgangssprachlich auch als 47XXY bezeichnet und ist eine der häufigsten Formen angeborener Chromosomenabweichungen im männlichen Geschlecht. Ein Mensch verfügt in der Regel über 46 Chromosomen, davon wurden 23 von der Mutter vererbt und die andere Hälfte des Vaters. Die Sexualchromosomen X und Y sind dafür verantwortlich, ob ein Embryo nach der Zeugung männliche (XY) oder weibliche (XX) Geschlechtsorgane entwickelt. Personen mit dem Klinefelter-Syndrom sind in der Regel männlich und verfügen neben X und Y über ein 47. Chromosom: ein zweites X. 47XXY ist nur eine von mehreren möglichen Chromosomenabweichungen.

Das Klinefelter-Syndrom hat viele mögliche Symptome, die teils gar nicht und in unterschiedlicher Ausprägung auftreten können. Bei betroffenen Kindern werden oft Lernschwächen oder Konzentrationsschwierigkeiten festgestellt. Jugendliche mit Klinefelter haben ein eher schnelleres Körperwachstum und sind als Erwachsene etwas grösser als der Durchschnitt. Der Testosteronmangel kann zu Müdigkeit, sexuellen Störungen und zu einer verringerten Muskelmasse führen. Männer mit 47XXY können auch von einer Gynäkomastie, also vom Brustwachstum betroffen sein, und haben somit ein 15- bis 50-fach höheres Risiko, an Brustkrebs zu erkranken. Wie alle Chromosomenabweichungen ist das Klinefelter-Syndrom nicht heilbar.

Vor seiner Diagnose fühlte sich Seamus lustlos und lethargisch. (Bild: zvg)
Vor seiner Diagnose fühlte sich Seamus lustlos und lethargisch. (Bild: zvg)

Kontakt mit anderen Betroffenen Für viele ist eine Diagnose nach vielen Jahren der Beschwerden eine Erlösung. Nicht für Seamus. Er fiel in ein Loch. «Ich war traurig und enttäuscht, dass ich nie ein Kind zeugen könnte», sagt er. «Es war ein schwieriger Anpassungsprozess, den ich mit wenig Informationen bewältigen musste. Ich fühlte mich isoliert und allein gelassen mit einem gesundheitlichen Zustand, den nur wenige verstanden oder überhaupt kannten.»

Es war Seamus’ Mutter, die nicht lockerliess und im Internet jegliche Informationen über das Klinefelter-Syndrom verschlang. Schliesslich stiess sie auf die Organisation «Living with XXY» mit Sitz in den USA und forderte ihren Sohn auf, sich dort zu melden. «Sie hat sich sehr eingesetzt. Ohne sie wäre ich heute nicht so weit», sagt Seamus. Er führte ein Gespräch mit Ryan Bregante, dem Gründer von «Living with XXY». «Ryan gab mir Sicherheit, normalisierte die Diagnose und beantwortete alle meine Fragen.»

Heute bezeichnet Seamus diesen Tag als Wendepunkt. Mit seiner Mutter besuchte er einen Vortrag eines Arztes, der über die operative Wiederherstellung der Spermienproduktion bei Klinefelter-Patienten referierte. Er lernte 47XXY-Personen jeglichen Alters kennen und erhielt einen Einblick in ihren Alltag. «Der Austausch mit anderen Betroffenen war eine grosse Erleichterung und eine Motivation, an meinem Selbstbewusstsein zu arbeiten und mein Leben mit 47XXY in die Hand zu nehmen.»

Vom Arzt abgewiesen Um die Folgen des Testosteronmangels zu behandeln, bat Seamus seinen Arzt um eine Hormontherapie. Doch dieser lehnte ab, da Seamus’ Testosteronspiegel nicht die Anforderungen der Krankenkasse erfüllte. Ein anderer Arzt verwies Seamus schliesslich an eine Endokrinologin, die bereit war, ihn zu behandeln. Sie habe sein Leben verändert, sagt Seamus heute. Obwohl er die Grundmechanismen des Klinefelter-Syndroms verstanden habe, die ihn über ein Jahrzehnt lang hätten leiden lassen, habe erst sie ihm ein volles Verständnis der Anomalie gegeben und wie er seine Zukunft angehen könne. «Sie sagte, dass mein Körper geradezu nach Testosteron lechze», erinnert er sich. Fast drei Jahre nach der Diagnose war es am 15. Oktober 2020 schliesslich so weit: Seamus erhielt seine erste Testosteron-Spritze. «Es war der glücklichste Tag meines Lebens.»

Seitdem er mit der Hormontherapie angefangen hat, hat Seamus wieder Energie für ein regelmässiges Training. (Bild: zvg)
Seitdem er mit der Hormontherapie angefangen hat, hat Seamus wieder Energie für ein regelmässiges Training. (Bild: zvg)

Die Wirkung der Hormontherapie setzte bereits wenige Woche später ein. Seine Libido kam zurück, sein Kopf war klar und er hatte Energie wie schon seit Jahren nicht mehr. Seamus konnte wieder ohne irgendwelche Beschwerden mehrmals die Woche im Fitnessstudio trainieren, Familie und Freund*innen bemerkten seine neugefundene Lebensfreude.

«Nur 25 % der 47XXY-Fälle werden diagnostiziert.»

Viele Betroffene, wenig Diagnosen Studien gehen davon aus, dass das Klinefelter-Syndrom im Durchschnitt 1 von zirka 400 Männern betrifft. Allerdings geht eine grosse Mehrheit der Betroffenen durchs Leben, ohne je davon zu erfahren: Nur 25 bis 30 % der Fälle werden überhaupt diagnostiziert, 10% der Fälle bei Kindern vor Beginn der Pubertät.

«Klinefelter ist wie ein Spektrum zu verstehen. Die Anzeichen reichen von sehr mild bis hin zu sehr ausgeprägt», sagt Dr. Silvia Schmid, Endokrinologin spezialisiert auf Kinder- und Jugend­medizin, «Männer, die milde oder keine Symptome aufweisen, werden nicht diagnostiziert oder spät, häufig bei Abklärungen von unerfülltem Kinderwunsch.»

Für Seamus ist mitunter auch das fehlende Bewusstsein für chromosomale Anomalien ein Grund für die wenigen Diagnosen. «Mein Hausarzt selbst und auch andere Ärzt*innen sagten mir, dass sie nur wenig über Klinefelter wussten», sagt er. «Es ist wichtig, dass eine Hodenabtastung Teil der Routinekontrolle wird bei Jungs in der Pubertät und bei Vorsorgeuntersuchungen bei Männern, um eine Diagnose und somit eine frühe Behandlung zu ermöglichen.»

Eine ebensolche Hodenabtastung war lange Bestandteil schulischer Vorsorgeuntersuchungen. Gemäss Silvia Schmid ist die Akzeptanz von Genitaluntersuchungen durch Schulärzt*innen in der Gesellschaft jedoch zurückgegangen. «Je nach Schule oder Region wird auf Hodenuntersuchungen verzichtet», sagt sie. «Stattdessen werden Jugendliche darauf hingewiesen, ihre Hoden selbst abzutasten.»

Ein frühzeitge Diagnosestellung ist wichtig, um bei Bedarf zeitgleich zu den gleichaltrigen Jugendlichen die Pubertät einzuleiten, um Knochenbrüchigkeit vorzubeugen, das allgemeine Wohlbefinden zu stärken und eventuell auch Spermien zu sammeln und einzufrieren für einen späteren Kinderwunsch.

Ein Botschafter für 47XXY Seamus will sein neues Leben auf keinen Fall wieder hergeben. Seine Behandlung besteht aus einer Testosteron-Spritze alle zwölf Wochen. «Ich bin konzentrierter, glücklicher und habe eine bessere Libido», sagt er. «Ich achte auf eine ausgewogene Ernährung und trainiere täglich. Meine Muskeln sind gewachsen und mein Körper ist fitter denn je.»

Im September 2021 veröffentlichte der australische Sender ABC Science ein fünfminütiges Porträt über Seamus auf Facebook, das seither rund 10 Millionen Mal aufgerufen wurde. Auch auf Youtube ist Seamus‘ Video mit über 30 000 Views eines der am meisten geklickten Videos des Youtube-Kanals. Im vergangenen Jahr erhielt Seamus E-Mails aus aller Welt: Einerseits von neu diagnostizierten Männern, andererseits von Paaren, die durch eine Nicht-Invasive Pränatal-Diagnostik (NIPT) vom Klinefelter-Syndrom ihres ungeborenen Kindes erfuhren. «Es gab einen grossen Anstieg der Diagnosen aufgrund dieser Tests im ersten Schwangerschaftsdrittel», sagt er.

Als Botschafter für «Living with XXY» hilft Seamus anderen Betroffenen und setzt sich dafür ein, um das Bewusstsein für 47XXY zu stärken. «Wo angebracht, teile ich auch gerne meine Geschichte, um die Wichtigkeit einer frühen Diagnose und einer Behandlung hervorzuheben», sagt er. Seine Aufklärungsarbeit will er mit dem englischsprachigen Podcast «Crown Jewels Podcast» weiterführen. Ein leises Bedauern, dass medizinisches Personal den Unterschied seiner «Kronjuwelen» zwar bemerkt hatte, jedoch nicht richtig deuten konnte, schwingt bei Seamus auch heute noch mit: «Wie anders würde mein Leben heute aussehen, wenn ich ein Jahr früher oder gar zehn Jahre früher diagnostiziert worden wäre? Aber das ist ja jetzt das Gute daran, dass ich mich für dieses Bewusstsein einsetzen kann.»

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