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Wem gehört die Pride – und wofür steht sie?

Hat die Pride-Bewegung nur durch Höher, Schneller, Weiter eine Zukunft?

Pride 2020
Bild: iStockphoto

Nachdem wir dieses Jahr den 50. Jahrestag der Stonewall Riots mit rekordverdächtigen Paraden gefeiert haben, stellt sich die Frage: Wie geht es mit der Pride 2020 und danach weiter? Die Antwort von Stefan Mielchen, dem Ersten Vorsitzenden bei der Hamburg Pride, lautet in seinem Samstagskommentar*: Jedenfalls nicht so wie bisher.

In 72 deutschen Städten fanden 2019 CSD-Demonstrationen und -Veranstaltungen statt – Rekord im Jubiläumsjahr der Stonewall Riots (MANNSCHAFT berichtete). So viele Menschen wie nie zuvor gingen auf die Strasse, um für die Rechte von LGBTIQ einzutreten oder sich einfach selbst zu feiern. Die Demos in Köln und Berlin knackten die Millionen-Marke, grosse wie kleine Städte meldeten neue Teilnahmerekorde.

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Befeuert durch die Fridays-for-Future-Bewegung und die gesellschaftliche Polarisierung, die mit den Erfolgen der AfD und dem Erstarken des Rechtsextremismus einhergeht, scheint die Republik politisiert wie lange nicht. Doch spiegelt sich dies wirklich im Höher, Schneller, Weiter der Pride-Bewegung?

Zweifel sind angebracht. Selbstzweifel wurden deutlich, als die deutschen CSD-Veranstalter*innen kürzlich in München zu ihrem Bundesvernetzungstreffen zusammenkamen. In die Freude, dass es von Heide in Holstein bis Amberg in der Oberpfalz in diesem Jahr zahlreiche CSD-Premieren auch in der vermeintlichen Provinz gab, mischte sich eine neue Nachdenklichkeit: Werden wir von unserem eigenen Erfolg überrollt? Enden wir in Beliebigkeit, oder ist es gerade sie, die die Massen mobilisiert? Wofür stehen wir eigentlich: Demo, Kommerz, Party?


Pride 2020 und folgende: Was steht auf der Agenda?
Warum? und Was?: Diese beiden Grundsatzfragen, an die Pinnwand in München geheftet, wurden von den angereisten Ehrenamtler*innen vorerst aufs kommende Frühjahr vertagt. Dahinter steckt eine bittere Erkenntnis: Der Pride-Bewegung ist mit der Ehe für alle ihr massenwirksames Thema abhanden gekommen. So richtig und wichtig die bestehende Agenda ist: Die Ergänzung von Artikel 3 des Grundgesetzes, die Reform beziehungsweise Abschaffung des Transsexuellengesetzes und all die weiteren Themen sind politisch zu erklärungsbedürftig, um durchdringende Wirkung zu entfalten.

Darüber können auch die Teilnahmerekorde dieses Jahres nicht hinwegtäuschen. Ein CSD-Vertreter brachte es in München auf den Punkt: «Mein Eindruck ist, dass viele Leute gar nicht mehr wissen, wo sie bei uns wirklich sind.» Politik und Feiern sind zwar kein Gegensatz. Doch wo der Sauftourismus Überhand nimmt, geraten die inhaltlichen Ziele schnell aus dem Blick. Party statt Politik – das mag den CSD niedrigschwellig machen, aber auch irrelevant.

Klima, Zuwanderung, Rechtsruck: Die Mehrheitsbevölkerung hat gerade andere Sorgen, die Regierenden in Berlin sowieso. In den Medien hat sich zudem eine teilweise erschreckende Ignoranz verfestigt, wie ein Beispiel aus Hamburg zeigt. «Wann hat es das zuletzt gegeben, dass sich so viele Menschen hinter einem Ziel versammelt haben?», fragte etwa der Chefredakteur des Hamburger Abendblattes, Lars Heider, vor wenigen Wochen. «Die nicht nur gegen, sondern vor allem für etwas demonstrieren? Die zu Tausenden Plakate basteln, eines kreativer als das andere, die singen, trommeln, tanzen, ja, auch feiern.» Richtig, auch der Hamburg Pride hatte in diesem Jahr mit 240.000 Menschen einen neuen Teilnahmerekord zu vermelden (MANNSCHAFT berichtete). Doch der Abendblatt-Chef bezog sich auf die Grossdemo von Fridays for Future, einen guten Monat danach.


Auch das Boulevard-Blatt Mopo fragte: «Wann waren zum letzten Mal so viele Menschen auf der Strasse?“ und listete ebenfalls eine Reihe von Demos zurück bis ins Jahr 1958 auf. Der CSD, diese «bunte Parade», der man zuvor breiten Raum in der Berichterstattung eingeräumt hatte, wurde auch hier kompIett ausgeblendet. Die einen, die für den Klimaschutz «singen, trommeln, tanzen, ja, auch feiern» – und die anderen, die eine bunte Parade zelebrieren und vergessen werden. Offenbar gibt es ein Vermittlungsproblem auf der einen und Verständnisproblem auf der anderen Seite.

Der CSD ist nach wie vor die zentrale Veranstaltung, die für die Sichtbarkeit marginalisierter Gruppen sorgt; das allein macht ihn politisch. Die Demos sind das einzig weithin wahrnehmbare Statement gegen Homo- und Transphobie. Sie haben einen bunten Strauss inhaltlicher Forderungen zur Gleichstellung und gegen Diskriminierung im Gepäck.

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Idealerweise sind sie auch ein Aufbegehren gegen Sexismus und Rassismus, wenngleich für viele an dieser Stelle der Spass bereits aufhört. Es ist nicht zuletzt den Dyke Marches und den Lesben gegen Rechts zu verdanken, hier den Finger beharrlich und tief in gesellschaftliche Wunden zu legen. Die ersten Trans-Prides zeigen zudem, dass es ein breites Bedürfnis nach politischer Artikulation und Sichtbarkeit gibt, das über die klassischen CSD-Demonstrationen hinausgeht.

Doch hier wie dort stellt sich zunehmend die Frage der politischen Relevanz. Welche Wirkung über das zweifellos wichtige Self-Empowerment hinaus erzielen die bunten Märsche? Wie nachhaltig ist der Eindruck, den grosse wie kleine CSDs hinterlassen? Wofür stehen sie tatsächlich? Ist ihre Form noch zeitgemäss, oder braucht es einen radikalen Wandel – ein back to the roots mit Fussmärschen statt immer grösserer Sponsoren-Trucks?

Es wäre vermessen zu behaupten, ich hätte eine Antwort hierauf. Doch weil die Themen, die unsere verschiedenen Communitys bewegen, die gesamte Gesellschaft und deren Zusammenhalt betreffen, ist die Suche nach Antworten existenziell. Die inhaltliche Verortung der Pride-Bewegung ist ein wesentlicher Teil ihrer künftigen Aufgabe. Verbunden mit der Frage, ob es noch trägt, dass wir unsere Demonstrationen so gestalten, wie wir sie gestalten.

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«Ohne Sponsoren geht es nicht» – auch das war eine Aussage eines Veranstalters in München. Warum eigentlich nicht? (In Llubljana geht das – MANNSCHAFT berichtete). Wem gehört der CSD? Wem bietet er eine Bühne? Was würde geschehen, wenn die kommerziellen Interessen nicht oder weit weniger berücksichtigt würden? Fragen über Fragen, die es zu diskutieren lohnt. Die Arbeit – sie hat gerade erst begonnen.

Hier findest du die deutschen Termine für die Pride 2020

*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.


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