Moderne «Kastratenoper»? Oper über Alan Turing bei World Pride

Countertenor Albert Montañez hat sie geschrieben

Blick in die Ausstellung «Alan Turing’s Life and Legacy» im London Science Museum (Foto: Ank Kumar / Wiko Commons)
Blick in die Ausstellung «Alan Turing’s Life and Legacy» im London Science Museum (Foto: Ank Kumar / Wiko Commons)

Die meisten kennen Alan Turing (1912-1954) als britischen Nationalhelden, der half die Nazis zu besiegen. Seit einiger Zeit wird er auch als schwuler Märtyrer verehrt, der die ganze Brutalität einer homophoben Gesellschaft erdulden musste und sich nach einer gerichtlich angeordneten chemischen Kastration das Leben nahm. Im August wird es bei der World Pride in Malmö eine Oper zu Turning geben .

Mit der tragischen Geschichte Turings haben sich schon diverse Künstler*innen auseinandergesetzt, in Form von Statuen, Spielfilmen, Büchern, Ausstellungen, Briefmarken usw. Ein Musiktheaterstück über den Mathematiker und Informatiker gab’s bislang noch nicht.

Das wird sich nun ändern. Im Palladium von Malmö wird das multimediale einstündige «Alan Turing Opera Project» gezeigt, als Produktion von Albert Montañez. Dabei handelt es sich um ein Projekt, das bereits 2020 beim schwedischen Halland Contemporary Opera Festival uraufgeführt worden war und dann im November 2020 in San Francisco gespielt wurde. Montañez hat dafür selbst das Libretto verfasst, die Musik stammt von Kent Olofsson. Jetzt kehrt es zur Word Pride zurück nach Schweden.

Der Titel des neuen Werks lautet «Alan: Opera in Seven Scenes» und spielt in einem weissen Kubus, auf den Videos von Jorgen Dahlqvist projiziert werden. Im Kubus und zwischen den Projektionen bewegt sich Montañez als Darsteller. Er ist Countertenor, ein Stimmfach, das sich auf die sogenannten Kastraten in der Barockoper beruft. Was vielleicht die Inspiration lieferte, sich mit dem «Kastraten» Turing zu beschäftigen.

In einer Pressemitteilung heisst es: «Alan war ein Visionär, ein Kriegsheld, ein tapferer Mann, der gegen die Gesellschaft seiner Zeit kämpfte, wo es verboten war, er selbst zu sein.»

Zwei Jahre Gefängnis wegen «grober Unanständigkeit» Wir erinnern uns: Nach seiner patriotischen und genialen Leistung für den britischen Geheimdienst im Zweiten Weltkrieg, wo er den Geheimcode der Nazis mit seiner Enigma-Maschine knackte, wurde Turing in den Nachkriegsjahren beim Sex mit einem Mann erwischt und im Januar 1952 von einem britischen Gericht vor die Wahl gestellt – entweder zwei Jahre Gefängnis wegen «grober Unanständigkeit» oder chemische Kastration. Turing entschied sich für Letzteres.

In Folge der Depressionen, in die er wegen der chemischen Behandlung stürzte, nahm er sich zwei Jahre später das Leben. In den vielen Büchern zu seinem Leben blieb sowohl seine Homosexualität als auch diese Bestrafung lange unerwähnt. Erst Ende der 1990er-Jahre begannen Biografen darüber öffentlich zu schreiben, was wiederum eine nationale Diskussion zur LGBTIQ-Vergangenheit in Grossbritannien auslöste.

Im Jahr 2009 sprach der damalige britische Premierminister Gordon Brown eine offizielle Entschuldigung im Namen der Regierung für die «entsetzliche Behandlung» Turings aus und würdigte dessen «ausserordentliche Verdienste» während des Krieges; die Bank of England gab einen 50-Pfund-Geldschein mit dem Gesicht Turings heraus – als späte Wiedergutmachung (MANNSCHAFT berichtete). Eine Begnadigung wurde aber noch 2011 trotz einer Petition abgelehnt. Am Weihnachtsabend, dem 24. Dezember 2013, sprach Königin Elisabeth II. posthum ein «Royal Pardon» aus.

«Hat er nicht schon genug gelitten?» Zu dem jetzigen Opernprojekt mit Musik von Olofsson erklärt Deutschlandfunk-Opernkritiker Uwe Friedrich gegenüber dem Autor dieses Textes: «Hast du dir mal die Musik von Olofsson angehört? Das hat Turing nicht verdient – der hat doch wirklich genug gelitten…» Ein ironisch zugespitzer Hinweis darauf, dass die Musik des 1962 geborenen Komponisten nicht gerade massenkompatibel ist und bei weitem nicht so eingängig, wie der Soundtrack von Alexandre Desplat für «The Imitation Game – Ein  streng geheimes Leben», die Filmbiografie von 2014 mit Benedict Cumberbatch als Alan Turing.

Szene aus «Alan: Opera in Seven Scenes» mit Albert Montañez (Foto: albertmontanez.com)
Szene aus «Alan: Opera in Seven Scenes» mit Albert Montañez (Foto: albertmontanez.com)

Ob ein solches LGBTIQ-Opernprojekt nach Schweden und den USA auch nach Deutschland kommen könnte, wo es unzählige Staatstheater gibt, die in Corona-Zeiten ein vergleichsweise unaufwändiges Ein-Personen-Stück gut spielen könnten, ist fraglich. Der Musikkritiker der Welt, Manuel Brug, sagt zu MANNSCHAFT: «Da entscheiden doch überall geschmacksgeklonte Intendanten, die immer nur die gleichen Regisseure und Stücke holen.»

Brug attestiert der Mehrzahl dieser Intendant*innen «Ignoranz», wenn es darum gehe, interessante neue Werke aus dem Ausland zu holen. John Adams beispielsweise sei ausser in Stuttgart an keinem einzigen grossen deutschen Opernhaus gespielt worden, meint Brug, obwohl seine Werke («Doctor Atomic», «Nixon in China») in der anglo-amerikanischen Welt seit Jahren gefeiert werden, ebenso die Stücke von Philip Glass oder von Thomas Adès, dem schwulen Starkomponisten aus England («Powder Her Face», «The Exterminating Angel»).

Angst der Intendanten vorm Populären Oft dominiere bei hiesigen Intendanten die Angst von Kritiker*innen, die schreiben könnten, solche zeitgenössischen Werke aus England oder den USA könnten «zu populär» sein und damit nicht dem «hohen» Kunstanspruch von staatlich subventionierten Häusern entsprechen, meint Brug. Schliessliche hatte Theodor W. Adorno einst die Maxime ausgegeben: «Vergnügt sein, heisst einverstanden sein.» Mit dem Einverständnis war der direkte Weg zurück in den Faschismus gemeint, vor dem nur kritisches Denken bewahren könne und damit verbunden Kunst, die zu kritischen Denken animiere. Jegliche Form von Unterhaltung war somit suspekt (MANNSCHAFT berichtete darüber, was Schwule besonders an Oper fasziniert).

Glaubt man dem Verdikt von Uwe Friedrich, ist die Musik von Olofsson alles andere als «populär» und «unterhaltend», was man positiv und negativ bewerten kann. Man darf also gespannt sein, wie es mit dem Stück und seiner internationalen Verbereitung weitergeht.

Vielleicht fährt ja der*die ein oder andere homosexuelle Intendant*in bzw. Dramaturg*in im August nach Malmö und lässt sich von «Alan: Opera in Seven Scenes» begeistern. Möglich gemacht hat das Projekt eine Förderung der Swedish Arts Council, heisst es auf der Homepage von Albert Montañez. Dort finden sich auch Fotos von der Aufführung 2020 sowie weitere Details.

Ausserdem findet sich dort ein Zitat aus einer Kritik zur Aufführung beim Halland Festival: «Was für eine fantastische Performance, für die es stehende Ovationen gab. Albert hätte kein besserer Turing sein können.»

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