LGBTIQ in Tschetschenien droht weiter Gewalt, Folter, Vergewaltigung

David Isteew rettet verfolgte Queers

Zusammen mit einem achtköpfigen Team versucht David Isteew, gefährdete LGBTIQ-Personen aus Tschetschenien zu retten. (Bild: Mannschaft Magazin)
Zusammen mit einem achtköpfigen Team versucht David Isteew, gefährdete LGBTIQ-Personen aus Tschetschenien zu retten. (Bild: Mannschaft Magazin)

Der Ukraine-Krieg ruft uns auch die Lage der LGBTIQ-Community in Tschetschenien in Erinnerung, wo Russland zweimal einmarschierte. Dort gehen die Verfolgungen durch die Behörden auch fünf Jahre nach der ersten grossen Verhaftungswelle weiter. Sie operieren systematischer, versteckter. Die Organisation North Caucasus SOS Crisis Group arbeitet unermüdlich daran, Personen aus der autonomen Republik zu retten.

Krieg. Sanktionen. Humanitäre Katastrophen und Menschen auf der Flucht. Geht es in den Medien um Russland, so drehen sich die Inhalte fast ausschliesslich um die Invasion der Ukraine. In Tschetschenien sind LGBTIQ-Personen nach wie vor Zielscheibe der Behörden. Erste Festnahmen gab es bereits 2011, im Februar 2017 fanden die ersten Massenverhaftungen von über 100 schwulen Männern statt, die kurze Zeit später von der Zeitung Nowaja Gaseta publik gemacht wurden (MANNSCHAFT berichtete). Mit der Veröffentlichung des Dokumentarfilms «Welcome to Chechnya» erreichte die Medienaufmerksamkeit im Sommer 2020 einen Höhepunkt. Der Film begleitete das Russian LGBT Network und den Aktivisten David Isteew bei der Rettung von Männern und Frauen aus Tschetschenien. Dabei setzte der Regisseur David France neue Technologien ein und verfremdete die Stimmen und Gesichter der gefilmten Personen, um ihre Identität zu schützen.

«In den meisten Fällen konnte der Film sie unkenntlich machen. Zwei Personen mussten wir nachträglich nochmals verlegen, da die Behörden sie aufgrund der Informationen aus dem Film identifizieren konnten. Wir hatten also einen doppelten Aufwand», sagt David im Januar im Gespräch mit MANNSCHAFT. Für einen Anlass der LGBTIQ-Reihe «Verzaubert» ist der 40-Jährige nach Zürich gereist, um über die aktuelle Situation in Tschetschenien zu sprechen. Eine Dolmetscherin übersetzt seine Antworten auf Deutsch.

David ist nicht böse, dass im Film die Anonymität der Geflüchteten nicht ganz gewahrt wurde. Im Gegenteil: Er ist glücklich, dass die Arbeit des Russian LGBT Network zugänglich gemacht werden konnte, und bezeichnet den Film als «Kunstwerk». «Es ist nur schade, dass wir nicht alles zeigen konnten.» David spricht die Videos an, die die geflüchteten Tschetschen*innen auf ihren Handys haben. Diese zeigen grausame Gewalt, brutale Folterungen und Vergewaltigungen. Dem Publikum habe man dies ersparen wollen.

Statt Lager ein Folterkeller Der Film löste im Westen grosse Anteilnahme aus und generierte Spenden für das Russian LGBT Network. Dieses Interesse sei mittlerweile wieder abgeflacht und sei vergleichbar mit der Zeit vor der Veröffentlichung des Films, so David. Er nimmt das niemandem übel. «Wir können nicht jeden Tag über Folter sprechen», sagt er. «Die Menschen sollen im Leben auch noch glückliche Dinge haben. Wichtig ist, dass wir weitermachen können.»

Der Film war Fluch und Segen zugleich. Öffnete er international mehrere Türen und verschaffte der Organisation bedeutende Kontakte im Westen, so erschwerte er ihre Arbeit vor Ort in Russland und Tschetschenien. Der gesamte im Film gezeigte Evakuierungsablauf musste neu strukturiert werden, David selbst kann heute nicht mehr in die autonome Republik reisen. Zu prominent war er im Film vertreten und zu gross das Risiko, in Tschetschenien festgenommen zu werden. Einen Grund dazu benötigten die Behörden nicht, erklärt die Dolmetscherin. Die Polizei könne ihm Drogen ins Gepäck schmuggeln und ihn aufgrund des Besitzes illegaler Substanzen dann verhaften. David agiert nun als Leiter der North Caucasus SOS Crisis Group (NC SOS), eine neu gegründete Fachgruppe des Russian LGBT Networks, und spricht im Westen über ihre Arbeit. Ein achtköpfiges Team kümmert sich um die Evakuierung und Betreuung von Menschen aus Tschetschenien.

Doch selbst die tschetschenischen Behörden haben seit dem Publikwerden der Festnahmen ihr Vorgehen geändert. Statt Massenverhaftungen konzentrieren sie sich auf eine bis zwei Festnahmen im Monat. Auch die Lager von 2017, in denen sie gemäss David Gefangene «wie Vieh hineintrieben» sowie schlugen oder mit Holzstöcken vergewaltigten, gibt es heute nicht mehr. Stattdessen bauten die Behörden ein Netzwerk von Kellern mit Folterkammern auf, etwa in verlassenen Gebäuden, unterhalb von Fitnesszentren oder gar von Polizeiposten. Von Jahr zu Jahr werden es mehr. David kennt die Standorte auswendig.

«In Tschetschenien ist die Frau kein Mensch, sondern ein teurer Gegenstand.»

«Die Behörden hätten nie erwartet, dass die Verfolgungen weltweit derart für Schlagzeilen sorgen würden», sagt er. «Sie sind viel diskreter geworden. 2011 sagten sie ihren Opfern noch, dass man sie verhafte, weil sie LGBTIQ seien. Heute können sie das nicht mehr.» Der Grund dafür ist, dass in Tschetschenien das russische Strafrecht gilt und homosexuelle Handlungen in Russland nicht strafbar sind. Nun versuchten die Behörden, ihren Opfern Drogen unterzujubeln oder ihnen ein Verbrechen anzukreiden, um sie festnehmen zu können. Ihr Ziel ist seit Jahren dasselbe: Die «Säuberung» der tschetschenischen Gesellschaft von LGBTIQ-Menschen.

Die Rettung von Frauen ist besonders schwierig 2021 retteten David und sein Team 62 Personen aus Tschetschenien, doch Anfragen hatten sie weit über 100. Aus Kapazitätsgründen schleust die NC SOS Crisis Group heute nur noch diejenigen Personen aus der Republik heraus, die am dringendsten Hilfe benötigen: Wenn sie bereits verhaftet und gefoltert wurden, wenn sie geistig oder körperlich am Ende sind, wenn die Gefahr besteht, dass die Behörden sie bald wieder festnehmen werden. Je nach Fall und wie kritisch die Lage ist, gibt es zwei Möglichkeiten, queere Personen aus Tschetschenien zu schaffen: mit dem Flugzeug oder über komplizierte Landrouten. Eine Gefahr für queere Menschen sind nicht nur die Behörden, sondern oftmals die eigenen Angehörigen, die in der LGBTIQ-Identität eine Schande für die ganzen Familie sehen. So kann es auch zu sogenannten Ehrenmorden an queeren Familienmitgliedern kommen.

Starre Geschlechterrollen: Präsident Ramsan Kadyrow (gross) will die Gesellschaft Tschetscheniens von LGBTIQ-Personen «säubern». (Bild: Foto: Musa Sadulayev/AP/dpa)
Starre Geschlechterrollen: Präsident Ramsan Kadyrow (gross) will die Gesellschaft Tschetscheniens von LGBTIQ-Personen «säubern». (Bild: Foto: Musa Sadulayev/AP/dpa)

Die grösste Herausforderung für die NC SOS Crisis Group ist es, Frauen aus Tschetschenien zu bringen. Im Gegensatz zu Männern, die sich in der islamisch geprägten Gesellschaft frei bewegen können, sind Frauen eher ans Haus gebunden. «In Tschetschenien ist die Frau kein Mensch, sondern ein teurer Gegenstand. Nimmst du einer Familie diesen Gegenstand weg, wird sie dich verfolgen. Bis zum Flughafen versuchen sie, ihre Verwandten wieder zurückzubekommen», sagt David. Der Fall einer jungen Frau schmerzt ihn besonders. Die Rettung schlug fehl und die Polizei brachte sie zu ihrer Familie zurück, zwei Wochen später war sie tot. Die offizielle Todesursache: Nierenversagen. «Wir können lange darüber spekulieren, was der wirkliche Grund war», sagt er.

Gelingt die Flucht aus Tschetschenien, so bringt die NC SOS Crisis Group die queere Person an einen sicheren Standort in Russland. Wer besonders gefährdet ist, wird in ein Nachbarland gebracht, sofern kein Visum erforderlich ist. Dann heisst es erst einmal abwarten, bis ein Zielland gefunden wird, was zwischen zwei Monaten und anderthalb Jahren dauern kann. Aus Sicherheitsgründen kommt es vor, dass das Team die Person mehrmals verlegen muss, etwa wenn die tschetschenischen Behörden sie zur Fahndung ausgeschrieben haben und die russische Bundespolizei die Suche aufnimmt. Zu den Ländern, die tschetschenische Flüchtlinge aufnehmen, gehören Deutschland, Litauen, die Niederlande und Kanada. Die Schweiz und Österreich sind nicht dabei.

Mit einer Flucht in den Westen ist für die geretteten Tschetschen*innen die Vergangenheit jedoch noch lange nicht abgeschlossen. «Der Assimilationsprozess dauert durchschnittlich zwei Jahre, oft sind jedoch so viele psychologische Traumata vorhanden, dass es für viele Geflüchtete viel länger dauert, nach all den Jahren der Verfolgung irgendwo anzukommen», sagt David. Doch es gibt auch viele Erfolgsgeschichten. Stolz erzählt er von einer Frau, die jetzt als Kindergärtnerin arbeitet und von Leuten, die heute in Kanada studierten.

«In Tschetschenien sind Familien sehr eng gestrickt. Wer das Land verlässt, ist auf sich alleine gestellt»

Besteht Hoffnung? Eine Person aus Tschetschenien zu retten ist für David und sein Team eine komplizierte Operation, die mit vielen Hürden, bürokratischem Aufwand und auch mit einigen Gefahren verbunden ist. Manchmal scheitert das Ganze nicht an den Behörden oder der Familie, sondern an der geflüchteten Person selbst. Kurz vor Silvester entschied sich eine queere Person freiwillig nach Tschetschenien zurückzukehren. Die ganze Arbeit der NC SOS Crisis Group war umsonst. «In Tschetschenien sind Familien sehr eng gestrickt. Wer das Land verlässt, ist auf sich alleine gestellt», sagt David. «Diese Person konnte nicht ohne ihre Familie sein. Das hat mich unglaublich demotiviert.»

Für den Westen scheint die Situation in Tschetschenien ausweglos zu sein, doch David stellt einen Fortschritt fest. Früher hätten schwule Männer fast ausschliesslich ein Doppelleben geführt, eine Frau geheiratet und im Ausland ihre Affären gehabt. Heute sehen sie – unter anderem auch durch Kontakte mit Personen, die ins Ausland geflüchtet sind –, dass ein anderes Leben möglich ist. «Sie wollen offen zu ihrer Sexualität stehen und mit einem Partner zusammenleben», sagt David.

Eine weitere Motivation seien die Gerichtsprozesse. 2021 konnte die NC SOS Crisis Group drei Klagen gegen die tschetschenischen Behörden einreichen, 2017 gab es noch gar keine. Das Ziel der Organisation ist es, die widerrechtlichen Festnahmen und fabrizierten Anschuldigungen zu beweisen. Gemäss David versucht das russische Justizsystem, die NC SOS Crisis Group mit Schikanen auszuschalten, indem es ihnen etwa bürokratische Hürden in den Weg legt, gekaufte Zeug*innen vorsprechen lässt oder Gerichtstermine frühmorgens auf einen Feiertag ansetzt. «Ich weiss, dass diese Klagen nichts bringen», sagt David. «Dass wir aber in Russland Gerichtsprozesse gegen tschetschenische Behörden am Laufen haben, ist nicht zu unterschätzen.» Die NC SOS Crisis Group hofft, dadurch eine legale Basis zu schaffen, um die Verantwortlichen vielleicht doch eines Tages zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn nicht in Russland, dann vielleicht im Ausland, wenn sie Verwandte oder Bekannte besuchen.

Die Brüder Magamadow und Isaew Der jüngste Schuldspruch beweist, dass die tschetschenischen Behörden immer noch am längeren Hebel sitzen. Am 22. Februar 2022 verurteilte ein Gericht in Atschchoi-Martan die beiden Brüder Salekh Magamadow, 21, und Ismail Isaew, 19, zu achteinhalb beziehungsweise sechs Jahren Gefängnis und Straflager (MANNSCHAFT berichtete). Salekh ist trans, Ismail schwul.

Salekh Magamadow (links) und Ismail Isaew wurden im Februar 2022 zu mehreren Jahren Straflager verurteilt. (Foto: Amnesty International)
Salekh Magamadow (links) und Ismail Isaew wurden im Februar 2022 zu mehreren Jahren Straflager verurteilt. (Foto: Amnesty International)

2019 hatten tschetschenische Behörden beim damals 16-jährigen Ismail schwule Anime-Comics auf dem Smartphone gefunden und ihn verhaftet. Nachdem seine Mutter sich für ihn eingesetzt und ein Schmiergeld von 300 000 Rubel (damals rund 3600 Euro) bezahlt hatte, liessen sie ihn wieder frei. Ismail flüchtete nach St. Petersburg, wo er mit seinem Bruder einen Telegram-Kanal eröffnete, auf denen sie sich als Atheisten bezeichneten und den tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow und die Behörden kritisierten.

Im Frühjahr 2020 wurde Ismail verhaftet und gemeinsam mit seinem Bruder Salekh in die tschetschenische Hauptstadt Grosny gebracht. David erzählt, wie Ismail an Corona erkrankt war und 39 Grad Fieber hatte. «Das war den Behörden egal. Aus Angst sich zu infizieren, zogen sie eine Maske an und leerten Desinfektionsmittel über seinen Körper, bevor sie ihn zusammenschlugen», sagt David. In den folgenden zwei Monaten mussten die beiden Brüder immer wieder Gewalt über sich ergehen lassen und täglich im Koran lesen. Nachdem die beiden im Sommer 2020 freigelassen wurden, brachte sie David in eine sichere Unterkunft in die russische Millionenmetropole Nischni Nowgorod, um die Flucht aus Russland vorzubereiten. Doch so weit kam es nicht. In Zusammenarbeit mit den tschetschenischen Behörden wurden Salekh und Ismail im Februar 2021 von der lokalen Polizei verhaftet und zurück nach Tschetschenien gebracht.

Das Gericht in Atschchoi-Martan sprach die beiden Brüder im Februar 2022 der Verschwörung zum Terrorismus schuldig: Sie sollen Terorristen mit Süssigkeiten versorgt haben. David bezeichnet die Klage als «absurd». «Die Beweise waren komplett fabriziert, selbst die Zeug*innen gaben vor Gericht zu, dass man ihnen gesagt habe, welche Aussage sie zu machen hätten», sagt er und lobt den Mut von Salekh und Ismail. «Sie sind offen schwul und regimekritisch und stehen für ihren Glauben ein.»

Mit einem Schuldspruch der beiden Brüder hatte David bereits während desInterviews mit MANNSCHAFT im Januar 2022 gerechnet. Der nächste Schritt sei die Berufung und vielleicht der Start einer Petition, um den Druck der internationalen Gemeinschaft auf Russland zu erhöhen. Letzteres dürfte im Angesicht des Kriegs in der Ukraine aussichtslos sein.

«Die Situation ist ein Desaster», schreibt David per E-Mail kurz vor Redaktionsschluss im März. Die Lage habe sich mit der Invasion der Ukraine und der Schliessung unabhängiger Medien stark verschlechtert – sowohl für Aktivist*innen als auch für die LGBTIQ-Community in ganz Russland. Wir werden von Anfragen überflutet, täglich erreichen uns neue Nachrichten. Trotz neuer Schwierigkeiten arbeiten und evakuieren wir weiter. Wir brauchen dringend Unterstützung.»

So kannst du die North Caucasus SOS Crisis Group bei ihrer Arbeit unterstützen: sksos.org/en

Ein Blick zurück

1994 Nach der Unabhängigkeitserklärung Tschetscheniens kommt es zum Krieg: Russische Truppen rücken ein und erobern die Hauptstadt Grosny.

1996 Tschetschenische Truppen erlangen wieder die Kontrolle über Grosny und Russland zieht sich zurück. Eine islamistische Gewaltherrschaft führt die Scharia ein.

1999 Russlands neuer Ministerpräsident Wladimir Putin kündigt militärische Aktionen an, um Tschetschenien wieder unter die vollständige Kontrolle der russischen Zentralregierung zu stellen. Dieser zweite Krieg dauert bis 2009.

2007 Das tschetschenische Parlament wählt Ramsan Kadyrow auf Vorschlag von Putin zum Präsidenten. Personenkult, Korruption und Menschenrechts­verletzungen zeichnen Kadyrows diktatorischen Amtsstil aus.

2017 Am 1. April berichtet die Zeitung Nowaja Gaseta über systematische Verfolgungen von über 100 schwulen Männern durch die tschetschenischen Behörden. Mindestens drei sollen gestorben sein. Menschenrechts­organisationen und westliche Regierungen fordern Russland auf, eine Untersuchung zu starten. In einem TV-Interview sagt Kadyrow, dass im Land keine LGBTIQ-Personen existierten.

2018 Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie die USA bestätigen in unabhängigen Berichten die Verhaftungswellen in Tschetschenien.

2019 Das Russian LGBT Network berichtet von einer neuen Verhaftungswelle. Die Organisation lässt sich für den Film «Welcome to Chechnya» begleiten, der ein Jahr später erscheint.

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