Sie liessen ihn drei Tage in der Wüste hungern, weil er schwul ist
Wie «Konversionstherapien» in Mexiko laufen
Eine «Konversionstherapie» sollte den schwulen Ivan Tagle heterosexuell machen. Doch er wurde zum LGBTIQ-Aktivisten. Mit seinem Verein Yaaj kämpft er seit Jahren für das Verbot der schädlichen Massnahmen in Mexiko.
Ivan Tagle war 15 Jahre alt, als seine Eltern beschlossen, ihn von seiner Homosexualität zu «heilen». Sie schickten ihren Sohn auf ein Retreat. Drei Tage in einer Blechhütte in der Wüste. Er durfte nicht essen, nicht trinken, nicht schlafen. Manchmal betraten Männer die Hütte. Sie sagten, dass sie mal homosexuell waren. Nun hätten sie AIDS und müssten bald sterben. Willst du dasselbe Schicksal, Ivan Tagle? Wollte er nicht.
«Wer würde freiwillig ein Leben wählen, in dem man diskriminiert und geschlagen wird? In dem man von Zuhause weglaufen muss und aufgrund seiner Sexualität keinen Job findet?», sagt Ivan der mexikanischen Online-Zeitung Infobae. Seine Peiniger*innen ohrfeigten ihn, beleidigten ihn als Schande der Familie, drohten ihn mit der Hölle. Es gab nur einen Weg raus: Zugeben, an einer psychischen Krankheit zu leiden, und um Heilung seiner Homosexualität bitten. Und als er das nach drei Tagen und Nächten ohne Schlaf tat, da umarmten sie ihn liebevoll, «jetzt darfst du dich ausruhen.»
Folter. Exorzismen, Elektroschocks im Genitalbereich Das Retreat, auf das ihn die eigenen Eltern geschickt hatten, war eine sogenannte ECOSIG-Therapie. ECOSIG steht für «Efforts to Correct or Change Sexual Orientation and Gender Identity» (Bemühungen zur Korrektur oder Änderung der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität). Im deutschsprachigen Raum bekannt als Konversionstherapien. Sie sollen queere Menschen heterosexuell machen. Die Methoden sind Folter. Exorzismen, Elektroschocks im Genitalbereich, Vergewaltigungen. Durchgeführt von religiösen Fanatiker*innen und unseriösen Arztpraxen. Ihr Werkzeug ist die Angst, ihr Ziel, die Person vor sich zu brechen. Nach Angaben des Nationalen Instituts für Statistik und Geographie mussten sich allein in Mexiko über eine halbe Million queere Menschen einer solchen ECOSIG-Therapie unterziehen. Ivan Tagle ist einer von ihnen.
20 Jahre sind die Wüsten-Tage her. Wenn er von ihnen erzählt, dann tut er das mit einer Genauigkeit, als wäre er jene Tage schon oft im Kopf durchgegangen. Klarer Erzählstrang, klare Einordnung der Geschehnisse, doch seine Stimme ist voller Emotion, bricht gänzlich, als er von der Zeit nach ECOSIG berichtet.
Mit 17 drängten ihn seine Mitschüler*innen zum Coming-out vor seinen Eltern. Ivan war ein Aussenseiter. Auch wenn er es niemanden gesagt hatte, wussten alle, dass er schwul war. Daran hatten weder ECOSIG noch der Betreuer etwas geändert. Man kann niemanden von einer vermeintlichen Krankheit heilen, die keine ist. Die wirklichen Traumata und psychischen Erkrankungen lösten die Methoden seiner Peiniger*innen aus. Die Psychologin Lupita Torres spricht in einem Interview mit Presentes von Depressionen, Selbstmord-Tendezen und psychotischen Episoden bei ECOSIG-Überlebenden. «Doch auch der spirituelle Teil wird durch ECOSIG-Therapien geschädigt. Die Betroffenen verlieren ihren Glauben an Gott», sagt sie. Auch in der Familie komme es zu Zerwürfnissen.
Ivan weinte, als er sich vor seinen Eltern outete. «Ich sagte ihnen, dass ich versucht habe, mich zu ändern», erzählt er Infobae. Ihre Antwort: «Jetzt, wo du es uns sagst, werden wir dir helfen, dich wirklich zu ändern.» Diese Art der Unterstützung hatte er nicht erwartet, sondern Verständnis und Liebe. Vor zwei Jahren war er für sie durch die ECOSIG-Therapie gegangen – durch seine persönliche Hölle. Wie konnten sie nicht sehen, dass die Versuche, seine Sexualität zu ändern, ihn zermürbten? Bei solchen Eltern konnte er nicht bleiben. Er nahm seine Violine und riss aus.
Ivan Tagle lebte als obdachloser Strassenmusiker in Mexiko-Stadt. Traf auf andere Jugendliche – alle obdachlos und queer, alle mit eigenen ECOSIG-Erfahrungen. «Es waren dieselben Geschichten, dieselben Methoden, aber an anderen Orte. Das machte mir Angst», sagt Ivan Tagle. Er erkannte ein Muster. «Ich dachte, ich wäre der Einzige. Doch es war kein Zufall. Ich verstand, dass es Leute gab, die sich organisieren, um uns sowas anzutun. Und was machen wir dagegen?»
Es waren dieselben Geschichten, dieselben Methoden, aber an anderen Orten. Das machte mir Angst.
Mit Mitstreiter*innen gründete er die Bürgervereinigung Yaaj. Auf der Sprache der Maya bedeutet das Liebe. Sie setzen sich für die Rechte der LGBTIQ-Gemeinschaft in Mexiko ein. Ein wichtiger Streitpunkt: die Illegalisierung der ECOSIG-Therapien. Die Aktivist*innen sprachen öffentlich über ihre Erfahrungen, legten der Regierung einen Gesetzentwurf für das Verbot vor. Straftaten zu verhindern ist eine schwere Aufgabe in Mexiko, wo die Straflosigkeit laut BMZ bei 98 Prozent liegt. Yaaj richtet den Schwerpunkt deshalb nicht auf die Verurteilung der Täter*innen, sondern auf das Verbot der Orte, an denen ECOSIG durchgeführt wird. Ivans Verein setzte das Thema erstmals auf die politische Agenda.
Mexiko-Stadt reagierte zuerst. Am 24. Juli 2020 wurde ECOSIG dort verboten (MANNSCHAFT berichtete). Laut Heinrich-Böll-Stiftung folgten 13 weitere Bundesstaaten. Darunter Oaxaca, Baja California Sur und Jalisco. Ein Sieg – wenn auch ein kleiner. Denn in 18 mexikanischen Bundesstaaten blieb ECOSIG legal. Drei dieser Bundesstaaten verweigerten, sich überhaupt mit dem Thema zu befassen.
Ivan und Yaaj kämpften weiter. Am 22. März 2024 landet ihr Gesetzentwurf in der Abgeordnetenkammer des Landes. Die Politiker*innen stimmen für die Illegalisierung der ECOSIG-Therapien. Die Praktiken sollen bald bundesweit als Verbrechen eingestuft und mit bis zu sechs Jahren Gefängnis bestraft werden. Ivan Tagle ist bei der Abstimmung im Kongress anwesend. Er ist an diesem Tag 35 Jahre alt. In seiner Hand eine Fahne mit dem Aufdruck «Nada que curar» (Es gibt nichts zu heilen).
Vor Kurzem trat im CSU-geführten Bayern ein Genderverbot in Kraft. Unbekannte genderten daraufhin CDU-Einträge in Google Maps (MANNSCHAFT berichtete).
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