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Kein «Tatort» mehr ohne LGBTIQ? Jetzt ist Stuttgart dran

Das vermeintliche Opfer in diesem Film ist bisexuell

Tatort
Bild: SWR / Benoît Linder

Eine mörderische Firmenfeier, eine schwäbische Sharon Stone und ein Videobeweis, der eindeutig ist. Und dann doch wieder nicht. Der neue Stuttgarter «Tatort» kommt auf den ersten Blick etwas altbacken daher. Aber was beweist er schon, der erste Blick? Von Martin Oversohl, dpa

Auffallend ist Gauls Hommage an den Erotik-Thriller «Basic Instinct» (1992): das bisexuelle vermeintliche Opfer in engem weissen Rolli beim Verhör und der Eispickel als Tatwaffe, der zerschlagene Eisklumpen als Getränkekühler und der ermittelnde Kommissar im Gefühlstaumel.

Aber von Anfang an (Achtung, Spoiler!): Das ist wirklich nicht der Tag des Stuttgarter «Tatort»-Duos. Bei Thorsten Lannert streikt mal wieder der teppichbraune Liebhaber-Porsche. Aber nicht nur das Alter seines Oldtimers macht sich bemerkbar, auch der Rücken des ARD-Kommissars schmerzt und sticht. Derweil ärgert sich Ermittler-Kollege Sebastian Bootz über seine zunehmend distanzierteren Scheidungskinder, tritt auch noch in einen schmierigen Hundehaufen. Und dann liegt da auch noch unschön diese für «Tatort»-Krimis ja obligatorische Leiche langgestreckt mitten in einem Meer aus Scherben.

Tatort
Sebastian Bootz (li) und Richy Müller ermitteln (Bild: SWR / Benoît Linder)

Die Weihnachtsfeier in einem Versicherungskonzern mit Karaoke, Bar und faden Bürowitzen hatte tödliche Folge für einen Mitarbeiter, der über eine Balustrade in die Tiefe des Foyers stürzte. Ein Unglück? Oder ein Verbrechen? War’s der Chef persönlich? Oder die Konkurrentin um die begehrte Stelle, die einst nicht nur eine feste Partnerin, sondern auch eine Beziehung mit dem späteren Opfer gehabt haben soll? Das gilt es für Lannert und Bootz im neuen Tatort «Videobeweis» und in ziemlich langen 90 Minuten herauszufinden.


Der Titel der Folge ist Programm im neuen Krimi-Kapitel der württembergischen Kommissare: Denn Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) stossen trotz des fehlenden Opfer-Handys auf ein verwackeltes Video, das der spätere Toten an seinem letzten Abend aufgenommen hat. Es zeigt seine Kollegin und Konkurrentin (mal eiskalt, mal zerbrechlich: Ursina Lardi) mit dem Vorgesetzten (Oliver Wnuk) beim Sex im Büro des Firmenchefs.

Sieht man eigentlich immer nur das, was man sehen will?

Das Video, das in diesem «Tatort» in gefühlter Dauerschleife gezeigt wird, lässt eigentlich keine Fragen offen. Und wirft doch so viele Fragen auf. Denn die Szene kann man auch ganz unterschiedlich interpretieren, wenn man mit anderen Augen auf das verwackelte Filmchen schaut? Ist das, was man sieht, einvernehmlich? Oder eine Vergewaltigung durch einen Familienvater? Sieht man eigentlich immer nur das, was man sehen will? Mit dem Männerblick Lannerts? Oder aus der weiblichen Perspektive der jungen Auszubildenden im Ermittler-Büro? Und wie weit darf man bei der Ambivalenz überhaupt gehen, ohne das mutmassliche Opfer zu diskreditieren?

Fest steht für Lannert und Bootz und natürlich auch für den virtuellen Zeugen am Bildschirm: Einer von beiden, die selbstbewusste Mitarbeiterin im Karriere-Aufwind oder der fassungslose Chef, muss den Mord begangen haben. Denn beide, die Femme Fatale und der zunehmend irrlichternde Firmenboss, hätten ihr Motiv. Und während der eine immer schwerer belastet wird und seine Beziehung zu seiner Anwältin darüber zerbricht, versucht die andere zunehmend, als Leidtragende zu überzeugen.


Die Frage der Glaubwürdigkeit des mutmasslichen Opfers einer möglichen Vergewaltigung kann einen überaus spannenden und filmfüllenden Konflikt bieten, voll von Emotion, Aufklärung und Brisanz. Was glaubt man, was sieht man, und sollte man immer dem trauen, was man wahrnimmt? Aber der Stuttgarter «Tatort» kann sich nicht so recht entscheiden, ob er die Ermittler zum Fahndungserfolg im Mordfall führen oder den Konflikt mit gebührender Tiefe behandeln soll.

So pendelt er etwas unentschieden hin und her, streut noch ein wenig Lannert-Liebeskummer und Gassigang hinein und bietet wenig inspirierende Dialoge («Ist das jetzt Gerechtigkeit?» «Tja, zumindest ist es die Wahrheit.») in mal mehr, meist weniger gelungenem schwäbischem Akzent. Ausgefallen dagegen die Idee, mögliche Versionen der mörderischen Momente jener Firmenfeier-Nacht nicht nur zu beschreiben, sondern in gespielten Szenen zu zeigen. Regie führte Rudi Gaul, der mit Katharina Adler auch das Drehbuch schrieb.

«Tatort: Videobeweis» läuft im Ersten am 1. Januar 2022 um 20.15 Uhr.

Der letzte «Tatort» aus Dortmund kam bei vielen LGBTIQ nicht gut an; das Lesbenbild, das der Krimi zeichnete, erschien mehr als fragwürdig (MANNSCHAFT berichtete) Auch beim «Tatort» danach gab es noch viele lesbische Klischees (MANNSCHAFT berichtete). Die Öffentlich-Rechtlichen und die Privaten in Deutschland übten kürzlich Selbstkritik: Ihr Programm ist nicht divers genug (MANNSCHAFT berichtete).


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