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Jakob Stutz: Der Volksdichter mit der «weiblichen Seele»

Der Zürcher landete wegen «homosexueller Vergehen» mehrmals im Gefängnis

Jakob Stutz
Jakob Stutz (1801–1877), Portrait von Carl Friedrich Irminger (Bild: Wikipedia/PD)

Ein Leben lang versuchte Jakob Stutz seine Homosexualität zu verdrängen, was ihm nicht gelingen wollte. Am morgigen Samstag feiert der beinahe vergessene Schweizer Volksdichter mit der selbstattestierten «weiblichen Seele» seinen 220. Geburtstag.

Als kleiner Junge wollte Jakob Stutz seinen Kinderrock einfach nicht gegen eine Hose tauschen. «Ich wollte und mochte kein Knabe sein, sondern ein Mädchen», schrieb er in seinem autobiografischen Roman «Sieben mal sieben Jahre aus meinem Leben», der 1853 erschien. In seinen Tagebüchern haderte der Zürcher Oberländer Dichter und Pädagoge mit seinem Schicksal und mit Gott, der ihm «eine Weibesseele in einen männlichen Körper» gesetzt habe. Die Zuneigung zu jungen Männern habe ihn um sein «Eheglück» gebracht.

Unter dieser «verkehrten Neigung», wie er in einem Brief schrieb, leide er schon seit Kindheit. Diese verbrachte Jakob Stutz zunächst in der Nähe von Pfäffikon im Kanton Zürich. Die Familie war gut situiert, der Vater Bauer und Textilunternehmer. Doch als die Eltern 1813 starben – seine Mutter kam bei der Geburt ihres 16. Kindes ums Leben – musste sich Jakob als Knecht verdingen.

Quelle für Sozialgeschichte
Auf Empfehlung eines Pfarrers erhielt er 1827 eine Stelle als Arbeitslehrer an der «Zürcher Blindenanstalt». Er entwickelte erfolgreich neue, modernere Unterrichtsmethoden. Dank ihm würden später in der Schweiz das Werken, Theateraufführungen und Leihbibliotheken Bestandteile des Schulalltags werden. Trotzdem wurde er 1836 entlassen. Der Vorwurf «Unzucht» tauchte ein erstes Mal auf.


Es war auch das Jahr, in dem er das Schauspiel «Der Brand von Uster» und damit den dritten Band seiner damals populären literarischen Reihe «Gemälde aus dem Volksleben» veröffentlichte. Sie stellt die früheste Quelle für die Sozialgeschichte des Zürcher Oberlandes dar. Sein Werk ist ausserdem eines der ersten Zeugnisse Schweizer Mundartliteratur überhaupt.

Der geächtete «Volksdichter»
Tatsächlich kostete seine Sexualität – oder vielmehr sein Umgang mit ihr – Jakob Stutz sein damaliges Ansehen und seinen Nachruhm. Er konnte sie nie akzeptieren und gleichzeitig nie verdrängen, stand immer im Kampf mit ihr und verlor eins ums andere Mal.

Das zweite Mal 1841, als er Lehrer an einer Privatschule für «Taubstumme und Schwerhörige» im appenzellischen Schwellbrunn war. Der damals bekannte Schriftsteller wurde des sexuellen Übergriffs auf einen Schüler angeklagt. Die genauen Umstände und den Wahrheitsgehalt der Vorwürfe lassen sich nicht mehr rekonstruieren. Fakt ist, dass Jakob Stutz zu mehreren Wochen Gefängnis verurteilt wurde und fortan in Sternenberg als Einsiedler lebte – fernab jeder Versuchung, wie er hoffte. Bald gesellten sich junge Anhänger zu ihm; die «Zürcher Oberländer Dichterschule» philosophierte über Sozialreformen und die Rolle der Literatur.


Doch 1856 lautete der Vorwurf abermals «Unzucht», diesmal setzte es eine dreijährige Verbannung aus dem Kanton Zürich. Gerichtsakten legen nahe, dass ihm junge Männer körperlichen Kontakt anboten und ihn dann erpressen wollten. Frustriert haben sie ihn angezeigt, nachdem sie bemerkt hatten, dass beim mittellosen Dichter kein Geld zu holen war.

Fast alle wandten sich nun von ihm ab. Der mittlerweile geächtete Volksdichter wanderte umher und schlug sich mal als Privatlehrer, mal als Hausknecht durch. 1867 wurde er schliesslich von seiner Nichte in Bäretswil im Zürcher Oberland aufgenommen, wo er zehn Jahre später verstarb.

Von Behörden ignoriert
Man könnte Jakob Stutz einen literarischen und pädagogischen Pionier nennen. Als solcher ist er aber nie in die Geschichte eingegangen. Unter der Überschrift «Als Dichter geachtet, als Mensch geächtet» berichtete vor genau 20 Jahren die NZZ über den verstossenen «Chronisten der Industrialisierung».

Der 200. Geburtstag des Schriftstellers wird dort eher trostlos dargestellt: «In Bäretswil ist vor einer Woche die Enthüllung eines Gedenksteins an der längst aufgehobenen Grabstätte von Jakob Stutz von den Behörden ignoriert worden wegen der homosexuellen Neigungen des Dichters und seiner diesbezüglichen Verfehlungen.»

Immerhin: Es gibt eine Jakob-Stutz-Strasse in Hittnau und einen 23 Kilometer langen Jakob-Stutz-Wanderweg. Dieser führt von seinem Geburtshaus bis zur Stätte seiner einstigen «Dichterschule».

Die Strasse und den Wanderweg findest du nebst hunderten weiteren Einträgen in unserer Auflistung von LGBTIQ-Strassennamen in Deutschland, Österreich und der Schweiz (mit MANNSCHAFT+).

MANNSCHAFT bedankt sich bei Ernst Ostertag und Schwulengeschichte.ch für die Unterstützung bei der Recherche.


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