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HIV im Jahr 2020: Die Bevölkerung braucht dringend ein Update

Diskriminierung von Positiven und Erkrankten ist noch immer weit verbreitet

Aids-Hilfe Schweiz
Bild: Marilyn Manser

Abgemagerte Körper, Lungenentzündungen, Hautkrebs: Trotz Prävention und medizinischen Fortschritts sind diese dramatischen Bilder der 80er Jahre noch nicht aus allen Köpfen verschwunden. Darum braucht die Gesellschaft dringend ein Update in Sachen HIV, wie Caroline Suter, stellvertretende Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe Schweiz, erklärt.

Trotz wirksamer Therapie erleben HIV-Positive beruflich wie privat Diskriminierungen: von sexueller Ablehnung über das Gesundheitswesen bis hin zum Ausschluss bei Privatversicherungen. Hundert Diskriminierungsmeldungen gehen jährlich bei der Aids-Hilfe Schweiz ein. Doch die Dunkelziffer liegt laut der Organisation um ein Zehnfaches höher. Es wird Zeit, aufzuklären und Diskriminierungen zu stoppen. Wie? Das hat die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen (AHSGA) bei Caroline Suter nachgefragt.

AHSGA: Dank medizinischer Fortschritte sind HIV-positive Menschen bei einer wirksamen Therapie nicht mehr ansteckend und können ein ganz normales Leben führen. Welche Entwicklungen beobachten Sie bezüglich Stigmatisierung und Diskriminierung von HIV-positiven Menschen?
Caroline Suter: Die HIV-Therapie ist eine grosse Erleichterung für HIV-Betroffene: Dank der Therapie stecken sie niemanden mehr an. Das ist zwar bereits seit 2008 bekannt, aber wenige Menschen wissen das – sogar im medizinischen Umfeld. Zudem hat die Therapie im strafrechtlichen Bereich zu Änderungen geführt: Wer unter der Nachweisgrenze ist, braucht niemanden mehr über die eigene HIV-Infektion zu informieren – auch beim Sex nicht: Denn unter der Nachweisgrenze ist eine HIV-positive Person nicht mehr ansteckend.

Trotz dieser positiven Veränderungen sind Diskriminierungen nach wie vor an der Tagesordnung. Warum?
Dies liegt an den Bildern aus den 80ern, als eine HIV-Diagnose einem Todesurteil gleichkam. Und diese Bilder halten sich hartnäckig in den Köpfen. Darum ist es wichtig, die Allgemeinbevölkerung weiterhin zu sensibilisieren und aufzuklären.


Sie leiten die Rechtsberatung der Aids-Hilfe Schweiz und bieten HIV-Betroffenen Rechtshilfe im Falle von Diskriminierungen. Welcher Art von Diskriminierungen begegnen Sie dabei?
Das reicht von einem Versicherungsausschluss bis hin zu Zahnarztpraxen, die HIV-positiven Menschen nur Randtermine geben, weil sie nach der Behandlung die Instrumente besonders gut desinfizieren müssen.

Reicht denn eine medizinisch korrekte Desinfektion nicht, um alle Keime und Viren abzutöten?
Klar, diese Begründung lässt sich durch nichts rechtfertigen. Allgemein haben gerade Diskriminierungen im Gesundheitswesen zugenommen: Dem medizinischen Personal fehlen die Kenntnisse zum Thema #undetectable …

Undetectable?
… dass HIV-Patient*innen unter der Nachweisgrenze nicht ansteckend sind. Denn eine wirksame HIV-Therapie senkt die Virenlast im Blut so stark, dass sich HI-Viren nicht mehr entdecken bzw. nachweisen lassen. Deswegen der Begriff #undetectable – nicht nachweisbar. Weil dieses Wissen fehlt, gibt es immer noch Zahnarztpraxen, die auf ihren Fragebogen nachfragen, ob jemand HIV-positiv ist. Dies wiederum ist aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht erlaubt.


Mit welchen weiteren Diskriminierungsformen haben HIV-Betroffene zu kämpfen?
Da gibt es viele Beispiele: Spitäler, die Zimmer mit Punkten versehen, in denen sich HIV-Patient*innen befinden. Oder Ärzte, Dentalhygieniker*innen und Physiotherapeut*innen, die im Laufe einer Behandlung erfahren, dass jemand HIV-positiv ist und die Behandlung dann abbrechen. Oder Einzeltaggeldversicherungen, die selbstständig Erwerbenden einen Versicherungsschutz verwehren, weil diese HIV-positiv sind.

Warum ist das noch so? Schliesslich haben HIV-positive Menschen heutzutage eine ganz normale Lebenserwartung.
Genau. Es gibt für Privatversicherungen heute keinen Grund mehr, HIV-positive Menschen von Leistungen auszuschliessen, die in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren HIV-positiv diagnostiziert wurden. Denn die heutige Therapie ermöglicht ein Leben ohne Einschränkungen. Im Gegenteil: HIV-positive Menschen sind medizinisch besser begleitet als HIV-negative Menschen, woraus sich schlussfolgern lässt, dass HIV-Positive nicht häufiger krank sind als HIV-Negative.

Halten solche Ausschlüsse oder Vorbehalte überhaupt dem Gesetz stand?
Eigentlich nicht. Allerdings ist es schwierig, eine Aufnahme in eine Privatversicherung rechtlich zu erstreiten. Denn private oder Zusatzversicherungen haben als fakultative Versicherungen schlicht das Recht, Personen abzulehnen.

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In welchen Bereichen beobachten Sie Verbesserungen, was das HIV-Stigma angeht?
Im Arbeitsumfeld müssen sich die Betroffenen nicht mehr outen. Früher war das wegen der Medikamenteneinnahme unter Umständen nötig, weil diese zu einer bestimmten Tageszeit zu erfolgen hatte. Auch beim Reisen hat sich in den letzten zehn Jahren einiges verbessert: Viele Länder haben ihre Einreisebeschränkungen aufgehoben. Jedoch gibt es immer noch 48 Länder, die eine Einreise- bzw. Aufenthaltsbeschränkung kennen.

Wie sehen solche Reisebeschränkungen aus?
Es gibt Abstufungen – von Beschränkungen bei Arbeitsvisa oder längeren Aufenthalten wie in Australien bis hin zum totalen Einreiseverbot: Wer zum Beispiel beruflich in die Vereinigten Arabischen Emirate einreisen möchte, kann dies nur mit einem negativen HIV-Test tun und muss diesen bei einem längeren Aufenthalt jährlich wiederholen.

Was passiert, wenn ein HIV-Test in einem restriktiveren Land positiv ausfällt?
Wir hatten einmal einen solchen Fall in Dubai: Die betroffene Person wurde nach dem positiven Testresultat direkt vom Arbeitsplatz abgeführt, kam für neun Monate ins Gefängnis und verlor dabei alles, inklusive Wohnung. Darum raten wir HIV-Betroffenen, sich vor einer Reise auf der Plattform hivtravel.org zu informieren. Dort sind alle Länder und Restriktionsarten aufgeführt, und man kann sich über das Kontaktformular die aktuellen Informationen zum jeweiligen Land holen.

Haben solche drastischen Restriktionen auch etwas mit der Schuldfrage zu tun? Oft sehen sich HIV-Positive mit dem Vorwurf konfrontiert, an ihrem Schicksal selbst schuld zu sein.
Mit Sicherheit. Die Schuldfrage ist immer noch da – auch in der Schweiz. Das Strafrecht hat dies bis vor wenigen Jahren stark untermauert: So war es für HIV-Positive strafbar, ungeschützten Sex mit jemandem zu haben; unabhängig davon, ob sie unter der Nachweisgrenze waren oder nicht und ob sie ihren Status offengelegt haben oder nicht.

Seit einigen Jahren anerkennen die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte, dass HIV-positive Menschen unter der Nachweisgrenze nicht ansteckend und somit nicht strafbar sind, auch wenn sie Sex ohne Kondom praktizieren und ihre*n Partner*in nicht über die HIV-Infektion informieren.

Seit 2016 hat sich die Strafbarkeit durch Revision des Epidemiengesetzes zusätzlich abgeschwächt: Informiert eine HIV-positive Person mit nachweisbarer Viruslast ihre*n Sexualpartner*in vor dem ungeschützten Sex, macht sie sich nicht mehr strafbar. Allerdings ist die strafrechtliche Situation immer noch fraglich: Letztlich liegen die persönlichen Schutzstrategien in der individuellen Verantwortung. Strafrechtlich dagegen liegt diese Verantwortung ausschliesslich bei HIV-positiven Menschen.

Auf Dating-Portalen erfahren HIV-Positive zusätzlich eine sexuelle Zurückweisung, auch wenn sie unter der Nachweisgrenze sind. Stecken dahinter Unwissen oder Ängste?
Unwissen nicht unbedingt, wenn HIV-Positive ihrem Gegenüber ihren Status offenlegen und den Begriff #undetectable erklären. Viel eher sind es die dramatischen Bilder der 80er Jahre, als Aids sichtbare Spuren auf dem Körper der Erkrankten hinterliess. Oder aber das Vertrauen in die Wissenschaft fehlt. Auf jeden Fall kommen die Leute immer noch nicht klar damit. Hilfreich kann sein, wenn eine HIV-positive Person ihre*n Partner*in zu einer Fachperson der Infektiologie mitnimmt, um über Vorbehalte und Ängste zu sprechen.

Was gilt es, auf den Dating-Portalen sonst noch zu beachten?
Ein grosses Problem auf Dating-Portalen, aber auch in den sozialen Medien, sind die Datenschutzverletzungen. Diese nehmen zu – gerade auch in diesem Jahr. Vermutlich liegt das an der isolierten Situation wegen der Pandemie. Jedenfalls lassen sich sensible Daten wie der HIV-Status über solche Netzwerke nicht nur leicht verbreiten, sondern rechtlich auch gar nicht mehr kontrollieren. Die Verbreitung muss nicht einmal bösartig erfolgen. Vielen Menschen ist jedoch nicht bewusst, dass der HIV-Status nur mit der Einwilligung der betroffenen Person kommuniziert werden darf.

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Wenn sich heute jemand als HIV-positiv in seinem beruflichen oder privaten Umfeld outen möchte, aber Angst hat, Freunde oder Job zu verlieren: Was raten Sie in einer solchen Situation?
Jede Person muss das selbst entscheiden, ob sie sich outet. Grundsätzlich wäre ein Outing ein guter Schritt, weil mehr Sichtbarkeit auch zu mehr Akzeptanz und weniger Diskriminierungen führt. Es gilt, auf ein paar Sachen zu achten – besonders auf die rechtliche Komponente: Weisen Sie Ihr Gegenüber darauf hin, dass der HIV-Status eine besonders schützenswerte Information ist und ohne Ihr Einverständnis nicht weitergegeben werden darf.

Welche Folgen haben Diskriminierungen auf HIV-positive Menschen?
Es sind dies vor allem psychische Folgen, die wir nicht unterschätzen dürfen: Oft ziehen sich HIV-Betroffene wegen des Stigmas zurück. Dieser Rückzug führt zu Depressionen oder zu anderen psychischen Erkrankungen. Natürlich kommt es immer auch darauf an, wie gut jemand im eigenen Umfeld eingebettet ist.

Des Weiteren behindern Diskriminierungen auch die Prävention und den Therapieerfolg. Erstens, weil sich HIV-Betroffene entmutigt fühlen und ihre Medikamente nicht mehr regelmässig einnehmen. Dies wiederum verursacht Resistenzen und Komplikationen. Zweitens, weil das HIV-Stigma andere Menschen davon abhält, sich regelmässig testen zu lassen: Sie verdrängen stattdessen lieber eine mögliche Infektion und stecken unter Umständen weitere Menschen an. Dabei wäre es wichtig, sich testen zu lassen, um im Falle einer Infektion schnell mit einer Therapie zu beginnen.

Wie sehen Sie die HIV-bezogene Stigmatisierung in zehn oder zwanzig Jahren?
Mein Wunsch ist es, dass es bis dahin gar keine Diskriminierungen mehr gibt. Ich arbeite nun seit neunzehn Jahren bei der Aids-Hilfe im Rechtsdienst. Schon damals hoffte ich darauf, wurde aber eines Besseren belehrt. Dennoch bin ich überzeugt, dass wir in zehn Jahren an einem anderen Punkt sein werden: Irgendwann wird die Botschaft in den Köpfen ankommen, dass es keinen Grund mehr gibt, Angst vor HIV zu haben. Auch Versicherungen werden einsehen, dass es für HIV-Positive keinen Ausschlussgrund mehr gibt. Ebenso werden weitere Länder ihre Reisebeschränkungen aufheben, damit HIV-positive Menschen wieder frei und sorglos reisen dürfen.


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