Gianni Jovanovic: Die «deutsche Geschichte» eines schwulen Rom
Der Aktivist und Comedian hat gerade seine Autobiografie «Ich bin ein Kind der kleinen Mehrheit» veröffentlicht
Es dauerte, bis er zu sich stehen konnte: Rom. Schwul. Glücklich. Gianni Jovanovics Lebensgeschichte ist von Zwangsheirat, Homophobie und offenem Rassismus geprägt. Jetzt hat er zusammen mit der Journalistin Oyindamola Alashe ein Buch über sich geschrieben und MANNSCHAFT im Interview Näheres darüber erzählt.
«Ich bin ein Kind der kleinen Mehrheit» heisst die Veröffentlichung und ist beim renommierten Aufbau Verlag erschienen. Gleich auf der ersten Seite liest man: «In der Community der Sinti*zze und Rom*nja bin ich eine Stimme von vielen, und ich kann nicht 16 Millionen Menschen repräsentieren.» Aber: Er könne «laut» sein, meint Jovanovic. «Meine Sprache kommt aus dem Herzen und aus dem Bauch, sie ist explizit. So schildere ich, was ich erlebt habe. Meine Beschreibungen können irritieren, verstören und wehtun.» Mit MANNSCHAFT sprach Gianni Jovanovic darüber, mit welchen exotisierenden Bildern von Männlichkeit er lange konfrontiert war. Und dass er seinen jetzigen Ehemann in einem Darkroom kennengelernt hat – oder vielleicht doch nicht.
Hallo Gianni, du hast gerade ein Buch mit dem Titel «Ich, ein Kind der kleinen Mehrheit» geschrieben, das deine Geschichte als schwules Kind einer Roma-Familie nachzeichnet, geboren in Rüsselsheim. Was hat dich bewogen, gerade jetzt dieses Buch zu veröffentlichen? Themen für ein Buch hatte ich schon früher, aber ich bin kein Schreiber. Ich beschäftige mich schon lange mit den Ungerechtigkeiten, die Rom*nja bis heute erleben. Da ich selbst auch noch schwul bin, überschneiden sich verschiedene Diskriminierungsformen. Diese Intersektionalität ist Teil meiner Identität.
Ausserdem gab es im vergangenen Jahr verschiedene Ereignisse, die gezeigt haben, wie viel Vorurteile und Ablehnung gegen Rom*nja und Sinti*zze es gibt. Deshalb war das öffentliche Interesse an meiner aktivistischen Arbeit gross, und einige Verlage haben sich bei mir gemeldet. Mit meiner besten Freundin, der Journalistin Oyindamola Alashe, hatte ich genau die Richtige an meiner Seite: Ich konnte erzählen, sie hat ein Buch daraus gemacht.
Wie passt das Buch zu aktuellen Debatten, die wir in Deutschland und innerhalb der LGBTIQ-Community führen? In dem Buch spreche ich viele Themen an, die grundsätzlich relevant sind: Familie, Liebe, Bildung, Männlichkeitsbilder und auch Rassismus. All das betrifft natürlich auch die LGBTIQ-Community. Schliesslich ist sie ein Querschnitt unserer Gesellschaft. Gerade beim Thema Rassismus sehe ich viel Handlungsbedarf in der queeren Community. Viele Menschen erleben insbesondere sexualisierten Rassismus. Machen wir uns nichts vor: Viele Gruppen ahmen oft nach, was sie aus der Mehrheitsgesellschaft kennen. Im Klartext bedeutet das, wer schwul, lesbisch, bi oder trans ist, kann trotzdem rassistisch sein.
Gibt’s schon etwas Vergleichbares von jemand anderem, das dich inspiriert hat? Na ja, ich will meine Geschichte nicht mit anderen vergleichen. Aber natürlich gibt es Menschen, deren Leben und Aktivismus mich sehr inspirieren. Enorm wichtig ist in meinen Augen die politische Arbeit von BIPoC-Transmenschen in den 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahren. Menschen wie Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera haben für unsere Rechte wirklich geblutet und sind gestorben (MANNSCHAFT berichtete über beide). Aber auch queere Aktivist*innen wie der Rom David Tišer machen unglaublich tolle Arbeit.
Dein Buch ist neben deinen Kindern, Enkelkindern und deinem Ehemann auch all deinen «Geschwistern» gewidmet, «die in einer weissen, heteronormativen Gesellschaft in Deutschland und auf der ganzen Welt leiden, bluten, sterben und überleben». Was meinst du damit? Dass wir alle in einer Welt leben, die von weissen, cis Hetero-Männer geprägt und dominiert wird. Für schwarze Menschen, People of Colour, queere Menschen, Frauen und viele andere bringt das viel Leid und auch Gefahren mit sich. Sie werden unterdrückt, bedroht und im schlimmsten Fall sogar umgebracht. Mit ihnen fühle ich mich geschwisterlich verbunden. Sie und ich empowern uns gegenseitig.
Du schreibst auch, dass du kein «Opfer» sein willst. Geht das überhaupt, kann man sich aussuchen, kein Opfer zu sein? Klar, meine Geschichte ist für viele das Paradebeispiel für eine Opferrolle. Ich habe in Bruchbuden gelebt, war Sonderschüler, wurde verprügelt und als Teenie verheiratet. Aber ich habe mich entschieden, Widerstand zu leisten. Ich bin durch und durch ein Aktivist. Alles was ich tue, mache ich für meine zwei Kinder und drei Enkel.
Und was denkst du vom Vorwurf derjenigen, die bestimmte Ausformungen des Queer-Aktivismus als «Opferolympiade» bezeichnen? Wir sind eine plurale Gesellschaft. Da muss man auch viele Geschichten, Perspektiven und auch Traumata hören und respektieren. Die Vielstimmigkeit ist manchmal herausfordernd, aber sicherlich kein sportlicher Wettbewerb. Es geht nicht darum herauszufinden, wer schlechter ist oder wer mehr gelitten hat. Es geht darum, empathisch mit anderen zu sein. (MANNSCHAFT berichtete über LGBTIQ mit körperlichen und geistigen Einschränkungen, die von der Generation Grindr ausgegrenzt werden.)
Du sagst, deine Geschichte sei eine «deutsche Geschichte». Trotzdem wird sie für viele Leser*innen in Deutschland neu sein und wenig vertraut. Woran liegt es, dass viele so wenig über die Community der Sinti*zze und Rom*nja wissen? Es ist nicht so, als wäre die deutsche Geschichte von Sinti*zze und Rom*nja ein Geheimnis. Aber wer sich ernsthaft damit beschäftigt, wird zwangsläufig anerkennen müssen, dass Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja seit über 600 Jahren ein etabliertes System ist. Das würde natürlich bedeuten, dass man in Deutschland auch über Wiedergutmachung und Reparationen sprechen müsste. Das tut aber kaum jemand. Stattdessen pflegen die meisten weiter ihre Vorurteile.
Und warum ist so wenig darüber bekannt, wie es ist, als LGBTIQ in der Roma-Community gross zu werden? Das hat einen einfachen Grund: Es gibt so gut wie keine Räume, in denen sich queere Sinti*zze und Rom*nja sicher genug fühlen, offen mit ihrer Identität umzugehen. Sie erleben ja schon genug Diskriminierung wegen ihrer Herkunft. Aber es tut sich etwas. Wie überall gibt es auch unter Sinti*zze und Rom*nja jede Menge queere Menschen – und sie werden immer sichtbarer.
Gibt’s oder gab es irgendwo Repräsentation einer Geschichte wie deiner, in Filmen, TV-Serien, Radiofeatures etc.? Natürlich gibt es Rom*nja und Sinti*zze, die in all den Bereichen grossartige Arbeit machen und damit auch ihre Communitys repräsentieren. Normalerweise ist die Darstellung in den Medien aber oft festgefahren. Sinti*zze und Rom*nja sind immer «die Anderen». In Filmen, Serien aber auch in der Literatur und Mode werden alle möglichen Stereotype vermittelt. Daher kommt der heissblütige, auf einem Hengst reitende, Feuer machende, dominante, gut bestückte Rom… Diese exotisierenden Bilder haben die Menschen nach wie vor verinnerlicht.
Der heissblütige, auf einem Hengst reitende, Feuer machende, dominante, gut bestückte Rom… Diese exotisierenden Bilder haben die Menschen nach wie vor verinnerlicht
Wie schwierig war es für dich zu merken, dass du schwul bist? Das war eine Katastrophe für mich! Natürlich war mir schon früh klar, dass ich schwul bin. Aber ich wusste ja auch, was meine Familie von mir erwartet. Ich bin mit 14 verheiratet worden und mit 17 war ich schon zweifacher Vater. Ich konnte also sehr lange nicht zu meiner Sexualität stehen.
Wie unterscheidet sich deine Coming-out-Geschichte von der, die viele andere LGBTIQ weltweit erleben? Ich glaube nicht, dass es da eine Standardgeschichte gibt. Ich war mit Anfang 20 jedenfalls ein junger Vater und Ehemann. Meine Eltern und meine Ex-Frau konnten natürlich nicht fassen, dass ich nicht der Hetero-Typ war, den sie sich wünschten, um die Familie zu versorgen. Es gab unendlich viel Streit und Terror gegen mich und den Mann an meiner Seite. Wir brauchten Jahre, aber inzwischen können wir einigermassen gut miteinander umgehen. Mit meinen Kindern und Enkeln habe ich aber eine sehr innige und liebevolle Beziehung.
Hast du als junger Mann in der Schule oder anderswo mitbekommen, was sich im Bereich LGBTIQ in Deutschland so alles tut? Hat dich das inspiriert oder eher abgeschreckt? Gab’s einen Austausch mit anderen zu Fragen, die dich beschäftigt haben, z. B. übers Internet? (lacht) Ich bin 43. Als ich jung war gab’s kein Internet. Ich habe mein erstes Männerdate über eine Chiffre-Anzeige in der Tageszeitung gefunden. Austauschen konnte ich mich lange Zeit mit niemandem. Die queere Szene habe ich durch Partys Ende der 1990er kennengelernt. Und das war der Himmel für mich!
Wie waren dann deine ersten Ausflüge in die schwule Welt – um einen Partner zu finden? Wenn du das vergleichst mit der traditionellen Partnerfindung in einer Community wie bei den Sinti*zze und Rom*nja? Es ging mir eigentlich gar nicht in erster Linie darum, einen Partner zu finden. Ich wollte frei und selbstbestimmt sein. Ich wollte die ganze Nacht tanzen und lauthals Songs von den No Angels und Destiny’s Child singen.
Wie hast du dann deinen jetzigen Ehemann getroffen? Im Darkroom. (lacht) Quatsch, ich habe ihn ganz klassisch in einer Bar kennengelernt. Wir waren auf Anhieb total verknallt. Ein Paar wurden wir aber erst später.
Und wie wichtig ist bzw. war deine Vorgeschichte für eure Beziehung? Ich war von Anfang ehrlich und habe hab‘ ihm von meiner Familie erzählt. Er war geschockt, hat sich aber nicht abhalten lassen. Bekannte von meinem Mann waren skeptischer und haben ihn vor mir gewarnt, weil ich verheiratet war und vor allem, weil ich Rom bin. Einige dachten, ich wäre kriminell und würde ihn abzocken. Wir mussten jeden Tag für unsere Liebe kämpfen. Das hat uns stark gemacht und war der Schlüssel dafür, dass wir immer noch zusammen sind. Wir sind seit 19 Jahren ein Paar und ein Mega-Team.
Bekannte von meinem Mann haben ihn vor mir gewarnt, weil ich verheiratet war und vor allem, weil ich Rom bin
Kannst du deine Erfahrungen «vom harten Weg der Identitätsfindung» an deine Kinder und Enkelkinder weitergeben? Natürlich. Meine Kinder akzeptieren mich zu 150 Prozent. Für meine Enkel ist es das Normalste der Welt, einen schwulen Opa zu haben. Sie wissen, dass es Menschen gibt, die Ressentiments haben, sind aber selbst sehr tolerant. (MANNSCHAFT fragte Leser*innen, wie tolerant die queere Community ihrer Meinung nach ist.)
Was wären die wichtigsten Lehren, falls eines der Kinder LGBTIQ sein sollte? Die Kinder in meiner Familie können sich immer auf unseren Respekt, unsere Unterstützung und Liebe verlassen. Meine Tochter hat ihrem Baby einen Unisexnamen gegeben, nur falls sich herausstellt, dass es irgendwann nicht einverstanden ist mit dem Geschlecht, dass ihm gesellschaftlich zugeschrieben wird. Ich glaube dieses Kind hat grosses Glück, denn es wächst in einem sehr diversen, sensiblen und liebevollen Umfeld auf. So hat es alle Möglichkeiten, frei gross zu werden.
Du sprichst in einem Kapitel über die «Essenz» deiner Männlichkeit. Wie hat sich dein Blick auf Männlichkeit verändert? Das patriarchale, dominante Männlichkeitsbild, mit dem ich aufgewachsen bin, hat mir das Leben sehr schwer gemacht. Und mir wird immer klarer, wie sehr ich diese toxische Männlichkeit verinnerlicht habe. Aber ich löse immer mehr von traditionellen Rollenbildern und gesellschaftlichen Konventionen. Dass ich gar nicht die Cis-Männlichkeit in mir trage, mit der ich immer gelabelt wurde, macht mich enorm glücklich. (MANNSCHAFT berichtete über eine Ausstellung zur Krise der Männlichkeit und der Überwindung von sogenannter toxischer Männlichkeit.)
Mir ist bewusst, dass ich zu Unrecht sehr lange davon profitiert habe, als Mann durchs Leben zu gehen. Jetzt versuche ich etwas zurückzugeben – an Frauen, trans und andere Menschen, die weniger Privilegien haben als ich.
Du sprachst vorhin von deinem Leben in einer weissen Dominanzgesellschaft. Was ist mit deinem Leben als Teil einer LGBTIQ-Community? Ist die auch weiss? Das hängt sehr davon ab, wo ich bin. Es gibt sehr viele vornehmlich weisse, queere Räume. Es gibt Bars und Clubs, in denen ich als PoC keinen Zugang habe. Im Gegensatz dazu steht zum Beispiel die Ballroom Culture, die sehr viel diverser ist.
Eines der Schlagworte vieler queerer Aktivist*innen ist Intersektionalität, du hast es auch angesprochen. Zu Intersektionalität gehört auch das Alter… wie hat sich für dich die Situation als schwuler Mann mit Roma-Hintergrund mit dem Älterwerden verändert? Hey, ich bin erst 43 und wenn ich morgens in den Spiegel schaue, finde ich mich noch ganz gut gelungen. Ich habe definitiv kein Problem mit dem Alter. Allerdings erkenne ich mit zunehmendem Alter auch häufiger gesellschaftliche Missstände. Und ich halte bestimmt nicht meinen Mund, wenn mir Rassismus, Homophobie oder Transfeindlichkeit begegnen.
Ganz vorn im Buch ist eine Art Vorwort von deiner Tochter Vanessa, die beschreibt, wie wichtig Traditionen sind, weil sie Sicherheit geben, die oft fehlt. Das hat mich an den berühmten Eingangschor aus «Anatevka» bzw. «Fiddler on the Roof» erinnert, wo der jüdische Familienvater Tevje genau das gleiche sagt. Gibt’s für dich Traditionen, die du nicht missen willst? Und gibt es auch schwule Traditionen, die schwulen Männern beim Überleben helfen? Ich mag die Feste sehr, die Rom*nja feiern. Trotzdem sind nicht alle unsere Traditionen liebens- und schützenswert. Aber sie viele haben unser Überleben gesichert, wenn wir uns auf die Gesellschaft nicht verlassen konnten. Zu viele Sinti*zze und Rom*nja werden von Sozialsystemen, in den Ländern, in denen sie leben, nicht aufgefangen. Stattdessen erleben sie strukturelle Diskriminierung. Bei schwulen Männern fällt mir auf Anhieb ein, dass noch immer ein Grossteil am Arbeitsplatz seine Sexualität verheimlicht. Das ist eine traurige Tradition, um zu überleben. (MANNSCHAFT berichtete über die Situation vieler LGBTIQ am Arbeitsplatz.)
Melden sich bei dir eigentlich viele LGBTIQ aus der Community der Sinti*zze und Rom*nja? Mit was für Fragen oder Problemen kommen sie – und was sagst du ihnen? Ja, das kommt immer wieder vor. Dafür habe ich 2015 bereits die Initiative Queer Roma gegründet. Dort können sich queere Sint*zze und Rom*nja vernetzen und miteinander reden. Wenn mich Menschen kontaktieren, brauchen sie oft einfach jemanden, der sie versteht und ihnen zuhört. Sie brauchen Mut und ein Vorbild, das ihnen zeigt: Du schaffst das und bist okay so wie du bist.
Wenn dein Buch jetzt raus ist: Was erhoffst du dir als Resonanz? Und was kommt danach als nächstes? Am 22. März hat das Buch Premiere im Maxim Gorki Theater in Berlin. Danach werden Oyindamola Alashe und ich gemeinsam auf Lesereise gehen. Natürlich hoffen wir, dass die Menschen das Buch mögen und dass es sie bewegt. Mein Buch ist ja nur eine Geschichte von vielen in der Rom*nja-Community. Ich wünsche mir, dass künftig noch viel mehr Stimmen von uns gehört werden. Nur so kann sich in Zukunft etwas für Sinti*zze und Rom*nja ändern.
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