«Gefühlte Wahrheit ist für den Arsch»: Neue Diversity-Fortschrittsstudie
In Berlin wurde die aktuelle Studie zu «Sichtbarkeit und Vielfalt» im deutschen Fernsehen vorgestellt, die jenseits von Frauenquoten Grundsatzfragen aufwirft
«Die gefühlte Wahrheit ist für den Arsch. Was zählt, ist was auf dem Platz passiert», sagte Dunja Hayali am Dienstag in Berlin, als sie die Vorstellung der Zahlen zu «Sichtbarkeit und Vielfalt: Fortschrittsstudie zur audiovisuellen Diversität» moderierte. Und ergänzte: «Es sind ernüchternde Zahlen.»
Genauso ernüchternd könnte man das Event selbst betrachten, das die MaLisa-Stiftung von Maria und Elisabeth Furtwängler möglich gemacht hat. Aufgrund ihrer Initiative wurde die Studie durchgeführt. Und so war es auch Maria Furtwängler, die als Star der Veranstaltung das prominent durchsetzte Publikum begrüsste und darauf hinwies, dass die erste Diversity-Studie der MaLisa-Stiftung vor vier Jahren so viel Druck auf die Sender ausgeübt habe, dass sich etwas bewegt habe (MANNSCHAFT berichtete).
Als offen lesbische Frau «mit Migrationsvordergrund», wie Hayali es formulierte, hatte die Moderatorin bezüglich Diversität allen anderen auf dem Podium im RTL-Studio am Kurfürstendamm viel voraus. Denn um sie herum sassen nur weisse Erfolgsmenschen, um über die mangelnde Diversität im deutschen Fernsehen zu debattieren: ZDF-Intendant Thomas Bellut, der Geschäftsführer der Seven.One Entertainment Group Henrik Pabst, der Geschäftsführer von RTL Television Henning Tewes sowie rbb-Intendantin Patricia Schlesinger.
Sie alle hatten die Studie über ihre jeweiligen Institutionen mitgefördert, wohl wissend, dass die Zahlen kein rundum positives Licht auf sie werfen würden. Auch wenn rbb-Chefin Schlesinger sagte, sie sei «positiv überrascht», dass sich in einigen Bereich viel getan habe. Mit «einigen Bereichen» ist vor allem die Sparte «Fiktion» gemeint, wo in entsprechenden Film- und Serienangeboten die Diversität der Geschichten und Besetzungen merklich gestiegen sei.
«Sind Frauen auf deutschen Fernsehbildschirmen noch unterrepräsentiert?» Aber was heisst eigentlich Diversität? Das ist ein Begriff, der zu verschiedenen Auslegungen einlädt, genau wie das Wort «queer». Prof. Dr. Elizabeth Prommer von der Uni Rostock erklärte dem Publikum zwar, dass es bei ihrer Untersuchung auch um die Sichtbarkeit von «Migrationshintergrund, ethnischer Herkunft, LGBTQ und Behinderung» gegangen sei und darum, ob das Fernsehen diesbezüglich die Bevölkerung in Deutschland adäquat widerspiegele. Aber eigentlich kreist die Studie zentral um die Frage: «Sind Frauen auf deutschen Fernsehbildschirmen noch unterrepräsentiert?»
Das ist selbstverständlich auch ein wichtiger Diversitätsaspekt, den man aber besser unter dem Stichwort «Gendergerechtigkeit» betrachten sollte. Für die kämpft Maria Furtwängler seit Jahren, u.a. mit ihrer Forderung nach einer 50/50-Quote für Frauen im Fernsehen. Eine Forderung, die sie auch im Berliner RTL-Studio mehrfach wiederholte und die als Thema die Anschlussrunde der Diskussion ausschliesslich (!) bestimmte.
Dabei hatte ZDF-Intendant Bellut zuvor betont, dass man bei Diversity-Überlegungen inzwischen «weg von einer reinen Gleichstellung von Mann und Frau» sei, und sich zu mehr umfassender Diversität hinbewege. Für eine solche reicht es nicht, dass «homosexuelle Liebe auch auf dem Sonntagabendsendeplatz angekommen ist», selbst wenn man sich über solch eine Selbstverständlichkeit freuen könnte.
LGBTIQ-Leuchtturmprojekte Eine interessante Erkenntnis der von Hayali moderierten ersten Gesprächsrunde war, dass auf viele LGBTIQ-Leuchtturmprojekte hingewiesen wurde, etwa auf «Queen of Drags» oder «Prince Charming», auf die sommerliche Filmreihe «rbb QUEER» und anderes mehr. Alle schienen sich einig, dass solche Sendeformate «inzwischen völlig normal» geworden seien. Es seien also gar keine «Leuchttürme» mehr, sondern TV-Alltag.
Trotzdem beklagte Prof. Prommer, dass die Geschlechterverteilung im deutschen Fernsehen 34 zu 66 Prozent sei, also 34 Prozent Frauen vs. 66 Prozent Männer. Im Fiktion-Bereich seien es «nur» 45 zu 55 Prozent, aber bei non-fiktionaler Unterhaltung wie Quiz- und Unterhaltungssendungen sei der Prozentsatz laut Studie 13 zu 87 Prozent, bei Comedy-Sendung 23 zu 77 Prozent, bei Kochshows 46 zu 54 Prozent; bei Informationssendungen läge man bei 33 Prozent Frauen vs. 67 Prozent Männer.
Dem stehen im LGBTIQ-Segment folgende Zahlen gegenüber: 70,4 Prozent aller Charaktere im fiktionalen Bereich seien heterosexuell, 0,9 Prozent homosexuell und 1,3 Prozent bi. Bei 27,4 Prozent sei die sexuelle Orientierung «nicht erkennbar». Zum Vergleich: laut repräsentativer Studie bezeichnen sich in Deutschland 11 Prozent aller Menschen als «nicht heterosexuell». Man könnte also sagen, dass da von Abbildung des Alltags nicht viel bei den Sendern angekommen sei, auch wenn rbb-Intendantin Schlesinger mehrfach auf den «Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen» hinwies, solch einen Alltag auf dem Bildschirm zu zeigen. Und auch wenn sie Diversity gern um weitere Kategorien erweitern würde, etwa um «soziale Klasse». (Weswegen rbb vermutlich jüngst den schwulen Arbeiterklasseautoren Douglas Stuart zu einer Lesung eingeladen hatte, MANNSCHAFT berichtete.)
Nachrichtensprecher*innen im Rollstuhl? Raul Krauthausen, Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit, sagte in einem Publikumsbeitrag, dass er sich bei dieser ganzen Diskussion um Diversität wundere, warum es noch keine Selbstverständlichkeit sei, dass ein*e Nachrichtensprecher*in im Rollstuhl bei der Tagesschau oder einer anderen News-Sendung zu sehen sei. Oder eine Person of Color. Er forderte «mehr Mainstream für Minderheiten». Ein Journalist vom Tagesspiegel merkte an, die Sender seien «feige», wenn es um die Umsetzung von wirklicher Diversität gehe.
Daraufhin regte sich deutlicher Widerspruch, auch von Moderatorin Dunja Hayali. Aber sie äusserte auch ihre Verwunderung darüber, dass die neue MaLisa-Studie nur Sendungen ab 14 Uhr analysiert habe. Hayali moderiert bekanntlich seit 15 Jahren das Morgenmagazin beim ZDF und setzt sich dort stark für Diversität vor und hinter der Kamera ein. Offensichtlich wurde das nicht mitberücksichtigt. Und das ist – eigentlich eine Unmöglichkeit. (MANNSCHAFT berichtete über Hayali als Top 50 Diversity Driver 2021.)
Viele Menschen schauen heute sowieso nicht mehr lineares Fernsehen, sondern wählen Sendungen über die Mediatheken aus. Entsprechend sollte die Uhrzeit einer Sendung keine Rolle spielen. Oder?
Konkurrent Netflix Was in der Diversitätsdiskussion am Dienstag ebenfalls keine Rolle spielte, war ein Verweis auf Streamingdienste wie Netflix. Nur die Geschäftsführerin vom Medienboard Berlin-Brandenburg, Kirsten Niehuus, sagte in einem Nebensatz, dass sich «durch die Streamer» viel verändert habe in den letzten Jahren. Denn ganz sicher hat die Diversity-Offensive von Netflix mehr Druck auf die deutschen Sender ausgeübt als die MaLisa-Studie aus dem Jahr 2017.
Prof. Prommer vom Institut für Medienforschung der Universität Rostock sagte dazu zu MANNSCHAFT: «Wir haben eine Extrastudie zu den Streamingdiensten gemacht, die auch schon auf der Seite der MaLisa-Stiftung abrufbar ist. Ja, Streamingdienste sind diverser, aber nicht so divers, wie sie es im Marketing vorgeben. Streamingdienste sind wahnsinnig gut im Vermarkten ihrer eigenen Diversität. Gerade wenn es um unterschiedliche sexuelle Identitäten und Gender-Identitäten geht – man denke an ‹Transparent› oder ‹Sex Education›. Aber wenn ich mir die Vielfalt in den einzelnen Titeln anschaue, da haperts noch.»
Da hapert’s noch? Die unglaubliche Vielfalt an sexuellen Identitäten bei Netflix «reicht» bei Prof. Prommer nicht für eine positive(re) Bewertung? Prommer begründet das damit, dass «die deutschen Produktionen von Netflix bisher nicht besonders divers» waren, soll heissen: Es gäbe laut Prommer darin nur 35 Prozent Frauen und man sähe «die überwiegend weisse Mehrheitsgesellschaft». Genau wie man in asiatischen Serien hauptsächlich asiatische Menschen sähe und in amerikanischen Serien nicht so viele Schwarze und Hispanics, wie es in den USA prozentual eigentlich gäbe. Dass man aber als Netflix-Nutzer*in in Deutschland auf all diese Serien gleichzeitig zugreifen kann und ein entsprechend vielfältiges Angebot an ethnischer Diversität (und Repräsentation) bekommt, lässt Prommer aussen vor.
Netflix hat auf jeden Fall Druck auf die Sender in Deutschland ausgeübt. Denn das ist ein Player im Markt, der viel Geld hat
Prof. Prommer zu MANNSCHAFT: «Netflix hat auf jeden Fall Druck auf die Sender in Deutschland ausgeübt. Denn das ist ein Player im Markt, der viel Geld hat. Und der ganz viel Geld für Deutschland bereitstellt. Wenn ich mir anhöre, was die neue Filmchefin Katja Hofem sagt, dann wollen sie Diversität offensichtlich weiterentwickeln.» Und das werde die deutschen Sender noch stärker als bisher vor sich hertreiben.
Stereotype neu überdenken ARD-Filmintendantin Karola Wille, die in Erfurt auch fürs Programm des Kindersenders KiKa zuständig ist, erwähnte in einer zweiten Gesprächsrunde mit Moderatorin Eva Schulz, wie wichtig es sei sich zu fragen, was für Vorbilder man für Kinder schaffe und welche Auswirkungen das auf deren weitere Entwicklung habe. Da tue sich in den letzte zwei Jahren eine Menge, sagte sie, u.a. wenn’s darum gehe «Heldinnen» zu kreieren, also starke weibliche Charaktere, die eine empowernde Wirkung haben.
Auch denke man, so Wille, heute ganz anders über Stereotype nach als noch vor wenigen Jahren. Weswegen wir uns «aufmachen» sollten in «die nächste Diversitätsdimension».
Der Forderung nach mehr starken Frauen und Heldinnen entgegnete die Geschäftsführerin des Medienboard Berlin-Brandenburg, Kirsten Niehuus, dass es nicht nur um starke Frauencharaktere gehen sollte, sondern dass es selbstverständlich werden müsse, auch «langweilige» Frauen zu zeigen und solche, die «mal einen schlechten Tag» hätten, «so wie alle anderen Menschen auch». Man könnte das problemlos erweitern auf den LGBTIQ-Bereich, auf Menschen mit Behinderung, auf PoC usw. Sie alle selbstverständlich in Narrative zu integrieren, statt als Diversitäts-Besonderheit jedes Mal einzeln zu zelebrieren und zu analysieren (und zu zählen), wäre Fortschritt.
Auch Dorothee Erpenstein als Geschäftsführerin des FilmFernsehFonds Bayern sagte, man müsse über Rollenbilder in all ihrer Komplexität intensiver diskutieren: homosexuelle Paare sollten nicht nur als Problemfall gezeigt werden, sondern als Selbstverständlichkeit. Da erlebten wir gerade einen «Veränderungsprozess», so Erpenstein. In den Worten von Dunja Hayali: «Wir haben alle das gleiche Recht auf Sichtbarkeit und darauf, wahrgenommen zu werden!»
Wir haben alle das gleiche Recht auf Sichtbarkeit und darauf, wahrgenommen zu werden!
Das nicht zu tun, würde das Fernsehen um einen «riesigen narrativen Schatz» berauben, ergänzte jemand.
Minderheiten innerhalb der Minderheiten Einer der LGBTIQ-Aktivisten im Publikum war Gianni Jovanovic, Sohn einer Roma-Familie, der mit 14 Jahren von seinen Eltern verheiratet wurde, mit 16 einen Sohn bekam, mit 17 eine Tochter. Anfang 20 outete er sich als homosexuell und trennte sich von seiner Ehefrau. Er ist Gründer der Initiative «Queer Roma» und plädierte in einem Statement aus dem Publikum dafür, nicht nur über die Mann-Frau-Genderverteilung zu reden und nicht nur über die Sichtbarkeit von Menschen aus Minderheitsgruppen, sondern auch den Minderheiten innerhalb der Minderheiten selbstverständliche Sichtbarkeit zu geben und ihre Geschichten zu erzählen.
Zu MANNSCHAFT sagte er: «Heute gibt es ein ausgeprägtes Bedürfnis von jungen queeren Menschen, sich zu zeigen und zu partizipieren. Deshalb würde ich dafür plädieren, einen BPoC und intersektionalen Sender zu kreieren, damit Menschen, die selbst mehrfach diskriminiert sind, ihre Themen in Film, Quizshows und Serien einbeziehen können. Und nicht nur als Token von anderen benutzt werden, um zu zeigen, wie divers man ist.»
Jovanovic glaubt, damit könne man auch «neues Publikum» anziehen. «Wir müssen verstehen, dass wir über viele Jahrzehnte einen grossen Teil von Menschen in unserem Land vernachlässigt haben, was mediale Repräsentation betrifft.» Und viele dieser vernachlässigten Menschen seien, so Jovanovic, «zu den Streamingdiensten» abgewandert, egal was Prof. Prommer zur Diversität dort sagt.
Aber: «Fakt ist, dass TV immer noch das Medium ist, wo alle, die den Anspruch haben, Medien zu gestalten, reinwollen», so Jovanovic. «Und die meisten Menschen in Deutschland gucken immer noch Fernsehen. Da ist es superwichtig, dass wir ehrlich den Wunsch haben, Räume zu schaffen, wo Menschen wie ich nicht nur eine Stimme haben – sondern machen können! Machen, kreieren, tun, do it!»
«Nichts ist so gut wie ein Thema, für das die Zeit gekommen ist!» Mit Blick auf die aktuelle Situation und mit Blick auf die Personen, die über Diversität entscheiden (und im Berliner RTL-Studio auf dem Podium sassen), merkt Jovanovic an: «Da sitzen nur weisse cis Personen, die selbst nicht zur LGBTIQ-Welt gehören und uns nicht mitdenken. Das ist das Problem: Wenn ich in einem Raum bin und keine Stimme habe, dann wird man mich nicht sehen und hören.»
Scherzend sagte er, wenn er eine Million Euro hätte, würde er selbst einen LGBTIQ-Sender gründen, um Veränderungen voranzutreiben. Woraufhin ihn Elisabeth Furtwängler nach der Diskussion ansprach und mit ihm Kontaktdaten austauschte. Wer weiss, ob die MaLisa-Stiftung sich künftig in diese Richtung stärker engagieren und übers reine Frauenquotenthema zu breiterer Diversität als Fragestellung kommen wird?
Was die Repräsentation von queeren Sinti und Roma in der neuen Diversitätswelt von ARD, ZDF, RTL und ProSieben/Sat.1 usw. betrifft, sagt Jovanovic zu MANNSCHAFT: «Ich sehe mich als Sinti und Roma immer nur in einer stigmatisierenden und diskriminierenden Form im Fernsehen. Der RTL-Geschäftsführer war ja heute hier. Den hätte ich gerne mal gefragt, was mit seinem Programm Spiegel.TV ist, das seit Jahren diese Goman-Geschichten dropped. Und ein Bild von Sinti und Roma im Einklang mit Gewalt und Kriminalität und Familienclans zeichnet. Man kann nicht auf der einen Seite sagen, man will alles schön und divers haben will, und auf der anderen Seite schippt man Scheisse! Aber das ist gewollt. Denn das ist das, was Menschen sehen möchten, die diese Sender gucken, gerade die Privaten. Die wollen nicht Dunja Hayali oder mich. Die wollen Maria Gresz, die dasitzt und ganz sauber und ernst über nicht-weisse Menschen abtrashed.»
Man kann nicht auf der einen Seite sagen, man will alles schön und divers haben will, und auf der anderen Seite schippt man Scheisse!
Wenn es nicht-heterosexuelle oder nicht-binäre nicht-weisse Menschen sind, dann ist das «Abtrashen» nach wie vor besonders krass, auch im Jahr 2021.
Kirsten Niehuus vom Medienboard Berlin-Brandenburg meinte, Veränderung komme «ganz selten ganz leise», sondern immer nur aufgrund von Druck und Protest. Und solchen Protest müsse man «aushalten», um sich weiterzuentwickeln. Denn: «Nichts ist so gut wie ein Thema, für das die Zeit gekommen ist!»
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