Französin Annie Ernaux erhält den Literaturnobelpreis
Sie weiss nur noch nichts davon
Mehr als 230 Literaten standen bei der Schwedischen Akademie auf der Kandidatenliste. Nach dem überraschenden Preis für den tansanischen Schriftsteller Abdulrazak Gurnah im Vorjahr steht nun fest, wer den diesjährigen Nobelpreis in Literatur erhält: Annie Ernaux.
Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux wird in diesem Jahr mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Das gab die für die renommierte Auszeichnung zuständige Schwedische Akademie am Donnerstag in der Altstadt von Stockholm bekannt. Sie bekomme den Preis «für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung aufdeckt», sagte der Ständige Sekretär der Akademie, Mats Malm, bei der Preisbekanntgabe. Man habe sie telefonisch noch nicht erreichen können, sagte Malm.
In Deutschland wird sie von Kritikern als Meisterin des Autofiktionalen gefeiert oder sogar als weiblicher Proust, in Anspielung an ihren berühmten Landsmann Marcel Proust (1871-1922). Ihre Bücher schaffen es regelmässig auf deutsche Bestsellerlisten. Das mag auch Didier Eribon zu verdanken sein, der sie seinem Publikum in seinem autobiografischen Sachbuch «Rückkehr nach Reims» als Heldin und literarisches Vorbild präsentierte. In seiner Heimatstadt Reims erlebte er – als Intellektueller und schwuler Mann – einst soziale Schande.
Im letzten Jahr, 20 Jahre nach dessen Veröffentlichung, erschien «Das Ereignis» von Annie Ernaux auf Deutsch. Das französische Abtreibungsbuch über eine schwangere Studentin in den sechziger Jahren – damals waren Abbrüche von Schwangerschaften noch illegal in Frankreich – ist immer noch aktuell, wie die Entwicklungen in Polen und den USA zeigen (MANNSCHAFT berichtete).
Verfilmt wurde die Geschichte von Audrey Diwan, die dafür im vergangenen Jahr den Goldenen Löwen des Filmfestivals von Venedig erhielt.
Hochmoderne, gewagte, meisterlich komponierte Literatur, die von Klassenkämpfen, den Zumutungen kultureller Differenz und der Emanzipation der Frauen erzählt.
Der Erzählstil von Ernaux ist neutral, distanziert. Sie selbst bezeichnet ihn als objektiven Stil, der die erzählten Tatsachen weder auf- noch abwertet. Als Ernaux 2019 mit dem deutsch-französischen Prix de l’Académie de Berlin ausgezeichnet wurde, lobte die Jury ihre Schriftstellerei als «hochmoderne, gewagte, meisterlich komponierte Literatur, die von Klassenkämpfen, den Zumutungen kultureller Differenz und der Emanzipation der Frauen erzählt».
Der Nobelpreis für Literatur gilt als die prestigeträchtigste literarische Auszeichnung der Welt. Auf der sogenannten Longlist für den Preis standen in diesem Jahr 233 Kandidaten – welche Namen darunter sind, wird alljährlich streng geheim gehalten.
Der Literaturnobelpreis geht wie die weiteren traditionellen Nobelpreise auf das Testament des Preisstifters und Dynamit-Erfinders Alfred Nobel (1833-1896) zurück. An dessen Todestag, dem 10. Dezember, werden die Preise in Stockholm und Oslo verliehen. Dotiert sind die Auszeichnungen in diesem Jahr erneut mit zehn Millionen schwedischen Kronen pro Kategorie. Umgerechnet entspricht das knapp 920’000 Euro.
Bereits in der ersten Wochenhälfte waren die diesjährigen, teils queeren Nobelpreisträger*innen in den Kategorien Medizin, Physik und Chemie verkündet worden (MANNSCHAFT berichtete). Deutsche waren nicht darunter, wohl aber der Schwede Svante Pääbo, der in Leipzig arbeitet. Er erhält den Medizinnobelpreis für seine Erkenntnisse zur menschlichen Evolution.
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