«Don’t Say Gay» in Grossbritannien: Film erinnert an «Section 28»
«Blue Jean» von Regisseurin Georgia Oakley thematisiert die einschneidenden Auswirkungen des einstigen Verbots
An britischen Schulen war es bis 2003 verboten, positiv über Homosexualität zu sprechen. Regisseurin Georgia Oakley drehte einen Spielfilm darüber und ist damit aktueller denn je.
«Es ist in Ordnung, wenn sich zwei Männer lieben.» «Zwei Frauen können heiraten und eine Familie gründen.» Solche Sätze, die für unser Verständnis selbstverständlich klingen, sind in manchen Schulen verboten. Zum Beispiel im US-Bundesstaat Florida (MANNSCHAFT berichtete). Seit 2022 dürfen Lehrpersonen im Unterricht nicht mehr über LGBTIQ-Identitäten oder Regenbogenfamilien sprechen, geschweige denn eine Regenbogenfahne im Klassenzimmer aufhängen. Im April dieses Jahres wurde das sogenannte «Don’t Say Gay»-Gesetz auf alle Stufen der öffentlichen Schule in Florida ausgeweitet.
Was viele nicht wissen: In Grossbritannien gab es mit der Section 28 ein ähnliches Gesetz, das die «Förderung der Homosexualität» durch lokale Behörden verbot. Es war von 1988 bis 2000 in Schottland und von 1988 bis 2003 in England und Wales in Kraft. Der Spielfilm «Blue Jean» von Regisseurin Georgia Oakley thematisiert die einschneidenden Auswirkungen dieses Verbots auf Lehrpersonen, Schulkinder und nicht zuletzt auf die gesamte LGBTIQ-Community.
Eine lange Geschichte der Kriminalisierung Auch wenn Grossbritannien heute als sehr fortschrittlich gilt, was Rechte für Schwule und Lesben angeht, ist die Präsenz von Section 28 in der jüngeren Vergangenheit des Landes keineswegs überraschend. Ganz im Gegenteil: Homosexuelle Handlungen zwischen Männern waren für einen Grossteil der britischen Geschichte kriminalisiert.
König Heinrich VIII. führte 1533 in England das erste Sodomiegesetz des modernen Europas ein, das Jahrhunderte später seinen Weg ins britische Strafgesetzbuch und somit auch in zahlreiche britische Kolonien fand, wo es zum Teil heute noch in abgewandelter Form in den Nachfolgestaaten in Kraft ist. Nach einigen hochkarätigen Verurteilungen in den Fünfzigerjahren, darunter etwa diejenige des Mathematikers Alan Turing oder des Politikers Michael Pitt-Rivers, entstand eine öffentliche Diskussion über das Verbot homosexueller Handlungen. 1967 wurde das Gesetz schliesslich ausser Kraft gesetzt.
Mit der AIDS-Epidemie gerieten homosexuelle Männer in den Achtzigerjahren wieder in den Fokus der Öffentlichkeit. Die zunehmende negative Stimmung gegenüber Homosexualität erreichte 1987 ihren Höhepunkt. Gemäss einer nationalen Umfrage gaben 75 % der britischen Bevölkerung an, dass homosexuelle Handlungen «immer oder grösstenteils falsch» seien, während nur 11 % sie für «überhaupt nicht falsch» hielten.
Zunehmend ins Visier der regierenden Konservativen unter der damaligen Premierministerin Margaret Thatcher gerieten Grossstädte wie London oder Manchester, die schwullesbische Organisationen mit öffentlichen Geldern unterstützten. Ein weiterer Dorn im Auge der Konservativen waren Labour-dominierte Stadtbezirke, die den Diskriminierungsschutz auf Gemeindeebene auf die sexuelle Orientierung ausweiteten. Für einen Aufschrei sorgte ein Artikel des Boulevardblatts The Daily Mail über das Kinderbuch «Jenny lebt mit Eric und Martin», das angeblich in einer Schulbibliothek in einem Londoner Schulkreis auflag.
Das Buch gilt als eines der ersten Kinderbücher zum Thema Homosexualität und erzählt mit schwarz-weissen Bildern vom Alltag der fünfjährigen Jenny, die mit ihrem Vater und dessen Freund zusammenlebt. Was am Artikel nicht stimmte: Das Buch stand ausschliesslich Lehrpersonen zur Verfügung und durfte nur älteren Kindern mit Zustimmung der Eltern gezeigt werden. Eine Beschwerde beim Presserat nützte nichts.
Die Kontroverse war entfacht und wurde zur Treiberin in der Debatte rund um Section 28. 1987 machten die Konservativen Jugendbücher wie «Young, Gay and Proud» zum Wahlkampfthema und behaupteten, die Labour Party wolle das Buch zur Schullektüre machen. Selbst vehemente Proteste – darunter von einer Gruppe Lesben, die sich von der Publikumstribüne ins Parlament abseilte – konnten das Gesetz nicht aufhalten. Am 24. Mai 1988 verabschiedete das britische Parlament Section 28 im Rahmen des Local Government Acts.
Die Community geht auf die Barrikaden Section 28 untersagte es Gemeinden, Schulen und Kommunalbehörden, Homosexualität «absichtlich zu fördern oder Material mit der Absicht der Förderung von Homosexualität zu veröffentlichen» oder «die Akzeptanz von Homosexualität als vorgetäuschte familiäre Beziehung zu lehren». Das neue Gesetz hatte nicht nur einen Einfluss auf Schulen, sondern auch auf schwullesbische Organisationen, die sich auflösen oder ihre Aktivitäten einschränken mussten. Für Behörden auf Gemeindeebene war es plötzlich nicht mehr möglich, Ratsuchende an entsprechende Beratungsstellen zu verweisen oder Regelungen gegen Diskriminierung zu erarbeiten. Öffentliche Gelder für Beratungs- und Hilfsprojekte sowie Kunst- und Kulturangebote durften nicht mehr gesprochen werden.
Das Verbot hatte eine massive Mobilisierung der queeren Community zur Folge. Ein Zusammenschluss von prominenten Comiczeichner*innen sammelte über 17’000 Pfund mit dem Verkauf einer Anthologie. Boy George und die Band Chumbawamba schrieben Songs dagegen und selbst einige religiöse Vertreter*innen, darunter der Bischof Richard Harries, positionierten sich gegen das Gesetz. 14 Aktivist*innen gründeten als direkte Reaktion auf Section 28 die Organisation Stonewall, die sich auf Lobbying und politische Arbeit spezialisierte. Unter ihnen war auch Schauspieler Ian McKellen, der sich aufgrund des neuen Gesetzes öffentlich outete.
Trotz Sieg der Labour-Party bei den Wahlen 1997 scheiterte ein erster Aufhebungsversuch 2000 in England und Wales. Deutlich mehr Erfolg hatte er im schottischen Parlament, wo er eine überwiegende Mehrheit erhielt. Ein erneuter Anlauf für England und Wales glückte schliesslich 2003.
Die Organisation Stonewall führte ihre politische Arbeit fort und gilt heute als die grösste LGBTIQ-Organisation Europas. Zu den Erfolgen ihrer politischen Arbeit zählt unter anderem die Anerkennung von Hassverbrechen, die Einführung der eingetragenen Partnerschaft und eines Antidiskriminierungsgesetzes im Arbeits- und Zivilrecht. Zudem unterstütze Stonewall finanziell diverse Gerichtsverfahren, unter anderem gegen das Verbot schwuler Soldaten im britischen Militär.
Zehn Jahre lang drehte Georgia Oakley verschiedene Kurzfilme, bevor ihr erster Spielfilm «Blue Jean» 2022 bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig Weltpremiere feierte. Das Drama, wofür die Engländerin auch selbst das Drehbuch schrieb, wurde mit vier British Independent Film Awards ausgezeichnet und für den BAFTA nominiert. Sie lebt mit ihrer Ehefrau und Tochter in England und auf Mallorca.
«Blue Jean» startet am 5. Oktober in Deutschland im Kino. Ein Kinostart in der Schweiz und Österreich steht noch nicht fest.
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