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Deutscher Buchpreis für «Blutbuch» mit nicht-binärer Erzählfigur

Gewonnen hat Kim de l’Horizon aus der Schweiz

Blutbuch
Kim de l'Horizon freut sich im Kaisersaal des Frankfurter Römers über die Auszeichnung mit dem Deutschen Buchpreises (Foto: Arne Dedert/dpa)

Der Siegertitel verweigert sich der Geschlechter-Dialektik: Wie schreibt man über Menschen, die weder Mann noch Frau sind? In «Blutbuch» sucht Kim de l’Horizon nach einer neuen Form und Sprache.

Von Sandra Trauner, dpa

Mit Schminke, Schmuck und Schnauzbart nimmt Kim de l’Horizon den Deutschen Buchpreis entgegen. Ein Rock aus Pailletten, ein Top wie aus Rasen und ein durchsichtiges Oberteil vervollständigen das auffällige Outfit. Kim de l’Horizon versteht sich als non-binäre Person, sieht sich weder eindeutig als Mann noch als Frau, beziehungsweise als beides zugleich.

Der Roman «Blutbuch» wurde am Montagabend in Frankfurt von der Jury zum besten deutschsprachigen Roman des Jahres gekürt. Die Ehrung ist mit 25’000 Euro dotiert. Als der Name im vollbesetzten Kaisersaal genannt wird, springt Kim de l’Horizon auf, rennt ins Publikum und umarmt Freund*innen. Auf der Bühne kommt zuerst nur ein «Wow!». Eine Rede habe man nicht vorbereitet. Dann folgt unter Tränen ein Dank an die Mutter und a cappella ein englischsprachiges Lied.


Schliesslich zückt Kim de l’Horizon einen Haarschneider und rasiert sich den Kopf – als Zeichen der Solidarität mit den Frauen im Iran. Die Jury habe den Text auch ausgewählt, «um ein Zeichen zu setzen gegen den Hass, für die Liebe, für den Kampf aller Menschen, die wegen ihres Körpers unterdrückt werden».


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Die Jury war nach eigenen Worten «provoziert und begeistert» von dem Roman. «Mit einer enormen kreativen Energie sucht die non-binäre Erzählfigur in Kim de l’Horizons Roman «Blutbuch» nach einer eigenen Sprache», hiess es in der Begründung. «Welche Narrative gibt es für einen Körper, der sich den herkömmlichen Vorstellungen von Geschlecht entzieht?» Die Romanform sei in steter Bewegung, die Sprache entfalte «eine Dringlichkeit und literarische Innovationskraft, von der sich die Jury provozieren und begeistern liess».


Kim de l’Horizon lässt die eigene Biografie bewusst im Vagen: Im Klappentext des bei DuMont erschienenen Romans heisst es: «geboren 2666», Kim de l’Horizon studiere Hexerei, Transdisziplinarität und texte kollektiv. Laut Börsenverein wurde de l’Horizon 1992 bei Bern geboren, studierte Germanistik, Film- und Theaterwissenschaften in Zürich sowie Literarisches Schreiben in Biel. Dem Roman-Debüt, das zuvor bereits mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung ausgezeichnet wurde, gingen zehn Jahre Schreibarbeit voraus.

Es ist ein überraschender Sieg: ein Buch, an dem nichts Mainstream ist. Das 300 Seiten starke Werk ist ein wilder Ritt durch Themen und Stile. Gedanklicher Ausgangspunkt ist eine Blutbuche. Sie steht im Garten der Grossmutter, die im Laufe der Erzählung dement wird. Ein Teil des Buches besteht aus akribisch recherchiertem Material über diesen Baum, ein anderer Teil aus erfundenen Biografien aller weiblichen Vorfahren der Grossmutter bis zurück ins Mittelalter.


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Der Roman ist aber auch ein sensibel beobachtetes Familiendrama: die Schweizer «Grossmeer» ist ein ewig monologisierender Drachen. Die unglückliche Mutter verwandelt sich in Belastungsphasen in eine «Eishexe», die das Kind mit ihrer Kälte zu Tode ängstigt. Der Vater spielt keine Rolle – oder maximal als abschreckendes Beispiel, ein Mann, der «Hmrgrmpf» sagt, nur eben «nicht mit Buchstaben gesagt. Sondern mit Gliedmassen.»

Darin verwoben ist die Geschichte der Identitätsfindung der Erzählfigur. Aus dem «flüssigen» Kind wird zuerst ein schwuler Jugendlicher und dann eine Person, die so wenig definiert ist, dass die Sprache dafür erst erfunden werden muss: «Dieses Schauermärchen von bloss zwei Geschlechtern, (…) die genau das Gegenteil von einander seien, das erzähle ich nicht weiter.»

Kim de l’Horizon schreibt «jemensch» und «niemensch» statt jemand und niemand, «mensch» statt man, aber den Lesefluss stört das erstaunlich wenig. Eine einheitliche Gestalt hat der Roman ohnehin nicht: mal zart, mal derb, mal theoriebeladen, mal psychologisch, mal popliterarisch. Um es mit Kim de l’Horizons eigenen Worten zu sagen: ein «naugty text, der einfach nicht staight sein will», der sich «wegdreht, wegquengelt, wegqueert».

Erstmals seit 2010 geht der Buchpreis 2022 wieder in die Schweiz.

Eine mutige Entscheidung der Jury, die sich zwischen sechs sehr unterschiedlichen Finalist*innen entscheiden musste: Neben Kim de l’Horizon standen Fatma Aydemir («Dschinns»), Kristine Bilkau («Nebenan»), Daniela Dröscher («Lügen über meine Mutter»), Jan Faktor («Trottel») und Eckhart Nickel («Spitzweg») auf der Shortlist. Sie erhalten jeweils 2500 Euro. Erstmals seit 2010, als Melinda Nadj Abonji mit dem Roman «Tauben fliegen auf» siegte, geht der Buchpreis 2022 wieder in die Schweiz.

Der Deutsche Buchpreis möchte die Aufmerksamkeit «auf die Vielschichtigkeit der deutschsprachigen Literatur lenken», sagte Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, bei der Preisverleihung. Auch der Siegertitel sei «eine Einladung, die Grenzen der eigenen Wahrnehmung zu erweitern. Bestenfalls holen wir uns damit gegenseitig aus unseren Filterblasen heraus, bewegen uns und andere zum Nach-, Um- und Weiterdenken.»


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