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Der Fetisch als Lebensgefühl

Einheimische und neugierige Auswärtige mischen sich an der Folsom unter die Leder- und Fetischszene. (Foto: Bastian Baumann)

Der Uber-Fahrer stoppt zwei Blocks zu früh. Vorher wurde unter Freunden noch gewitzelt, wie er wohl auf seine Gäste auf dem Rücksitz reagieren wird. Auffallend viele Menschen sitzen in Leder­outfits, knappen Hosen oder ganz nackt, mit Hundemasken, Peitschen oder Jocks auf den Rücksitzen des amerikanischen Fahrdienstes. Die Uber-Fahrer in San Francisco transportieren am Wochenende des 24. September eine freizügigere Klientel als üblich – es ist «Folsom Street Fair».

«God is great» klebt an der Windschutzscheibe von Sintayhu, dem Fahrer. Die schwulen Passagiere im Fetisch­outfit scheinen ihn trotzdem nicht zu stören. Nun spucken die Autos ihre Gäste aus. Die Menschenmassen versperren den Autos bereits den Weg. Es ist zwölf Uhr mittags, die kalifonische Sonne brennt in den Häuserschluchten, der Indian Summer zeigt stolz, warum der Herbst die schönste Zeit an der US-amerikanischen Westküste ist.

250 000 US-Dollar in Spenden gesammelt
Die Rufe der geldsammelnden Dragqueens sind von Weitem zu hören und lotsen die Menschen zum Eingang. Wie viele LGBT-Events funktioniert auch die Folsom Street Fair nach dem Spendenprinzip. Wer den Eintritt spendet, kriegt im Gegenzug einen Aufkleber, mit dem er oder sie das Bier einen Dollar günstiger kaufen kann. Niemand traut sich, nichts zu geben – mit eindringenden Blicken schütteln die Dragqueens die Spendendose. Sämtliche Einnahmen werden an anerkannte wohltätige Einrichtungen wie zum Beispiel die Aids-Hilfe gespendet. Die Veranstaltung erwirtschaftet jährlich rund 250 000 US-Dollar für diese Zwecke.

An der Folsom gelten andere Gesetze
Seit 1984 gibt es das Strassenfest, und es ist der jährliche Höhepunkt der US-amerikanischen Leder- und Fetischszene. Man trifft sich nicht etwa im durch und durch schwullesbischen Castro-Viertel, dem Bezirk, in dem auch der berühmte Harvey Milk im Jahr 1975 einen Fotoladen eröffnete. Viele Stadtteile San Franciscos sind queer-friendly und die Folsom findet im «South of Market»-Bezirk auf der Folsom Street zwischen der 7. und der 12. Strasse statt, in einem ehemaligen Industrie­viertel mit schönen alten Holzhäusern.


Hätte man einen Spachtel, man könnte die in der Luft liegende Freiheit, Geilheit und Offenheit förmlich abkratzen.

San Francisco hat erst kürzlich ein neues Gesetz gegen Nacktheit in den Strassen eingeführt, mindestens das beste Stück muss verdeckt sein. Einige Männer laufen nun einfach mit einer übergestülpten Socke durch die Stadt. Die Folsom ist allerdings eine Ausnahme, hier gelten andere Gesetze. Hier darf jede und jeder so sein, wie er oder sie möchte. Das Festival ist der Ort, an dem alles ausprobiert werden darf. Alle sich so anziehen und ausleben dürfen, ohne dass andere darüber urteilen oder im schlimmsten Fall die Polizei gerufen wird.

Gegenseitiges Einverständnis wird grossgeschrieben
Der Nachmittag ist noch verschlafen, die Strassen werden von den Ständen unzähliger LGBT-Organisationen gesäumt. Wer mag, kann sich kostenlos auf HIV testen lassen. Vor den Bierzelten sind die Warteschlangen aber wesentlich länger.

Peitschen schlagen auf die roten Rücken ein. In Reih und Glied stehen Prellböcke, darauf angeschnallt sind Männer und Frauen jeglichen Alters. Wer mag, darf sich fünf Minuten lang schlagen lassen. Wer fotografiert, wird mit Pappschildern freundlich zu einer «Picture Donation», einer «Bildspende», aufgefordert. Das Festival lebt von Menschen, die gesehen werden wollen, von Entdecker_innen und von Leuten, die mit Filmkameras und Handy die Szenen festhalten. Auf Porno­seiten sind ein paar Tage danach immer wieder Filmchen davon zu sehen. Der Moderator der Peitschenanlage motiviert auch Neulinge, sich an den Prellbock zu stellen. Die Atmosphäre ist familiär und heiter.


Frauen führen ihre «Sklavenmänner» am Halsband durch die Menge. Die Strassen füllen sich gegen Nachmittag, die Sonne scheint, die Menschen trinken mehr, die Stimmung wird elektrisierter, die Flirts nehmen zu und die Komplimente werden offensiver vorgetragen. Viele tragen den Sticker «Ask first» – fürs Fotografieren oder Anfassen bedarf es einer Erlaubnis. Andere lassen sich von der Menge berühren oder an den Zaun fesseln. Einige onanieren alleine oder in der Gruppe am Strassenrand.

Bei den anschliessenden Partys ist zuerst einmal Anstehen angesagt. (Foto: Bastian Baumann)

Die Spielwiese für den «Dog Play», das erotisch-sexuelle Rollenspiel, bei dem mindestens ein Partner die Rolle eines Tieres – in diesem Fall eines Hundes – einnimmt, ist gut gefüllt. Am Stand daneben verkauft ein Hipster Glitzer für Bärte. Wer keinen Glitzer braucht oder keinen Bart hat, kann nebenan lernen, wie man richtige Fesselknoten macht. Dazwischen düsen auffällig viele nackte Männer in elektronischen Rollstühlen durch die Menge, viele Besucher_innen tragen ein Ledergeschirr oder ihr Lackoutfit.

In kleinen Grüppchen sind immer wieder kichernde Tourist_innen auszumachen. Betrunkene britische Heterojungs und asiatische Besucherinnen fühlen sich sichtlich in gleichem Masse zu den Männern und Frauen in den Strassen hingezogen und amüsiert. Es ist doch genau diese Mischung aus Menschen, die sich vorurteilsfrei begegnen, die den Geist des Festivals ausmacht. Hier wird niemand ausgelacht oder schräg angeschaut.

Machen, worauf man Lust hat
Der Schweizer Marco, 28, ehemaliger Flight Attendant, reist extra fürs Wochenende an: «Für die guten Partys, für die Menschen, für die Stadt selber, einfach mal, damit man ein ganzes Wochenende so sein kann, wie man will, ohne dabei ein schlechtes Gewissen haben zu müssen.» Der Reiz liege darin, dass man sich völlig gehen lassen könne, machen könne, worauf man Lust habe und «alles in einem Umfeld, das gleich tickt», sagt der hübsche Hipster.

Die Veranstaltung ist das weltweit grösste Fest der Lederszene. Sie ist die drittgrösste öffentliche Veranstaltung in Kalifornien und die grösste Messe für BDSM-Ausstattung und -Kultur weltweit. Mittlerweile sind fast eine halbe Million Menschen in den Strassen unterwegs. Wem die Menge zu viel wird, entflieht nach Möglichkeit zu einer Privatparty in den Häusern entlang der Strasse. Nur wer eine Einladung hat und das betreffende Codewort kennt, erhält Zutritt zu den exklusiven Orten. Gäste mögen sich in Kinofilmen wähnen: die alten Häuser sind wunderschön renoviert, hohe Räume mit altem Parkettboden, vereinzelt mit eigenem kleinen Garten oder Dachterrasse. Ein Privat-DJ spielt Musik im Wohnzimmer, in der Küche wird günstiges Bier verkauft. Und in den Schlafzimmern wird hemmungs­loser Sex zelebriert. Und weil die Toilette in der Wohnung nicht für alle reicht, darf auch in die Wanne gepinkelt werden. «Sex positive space», nennen das die Hausbewohner. Hätte man einen Spachtel, man könnte die in der Luft liegende Freiheit, Geilheit und Offenheit förmlich abkratzen.

Vertel, ein 29-jähriger schwarzer US-­Amerikaner, verzichtet auf Lack und Leder. Und doch ist er adrett passend zum Event gekleidet. Sein Sixpack schaut durch seine schwarze Stoffweste hervor, die Hosen kurz, ein Cap. «Ich bin hier, um meine Sexualität zu geniessen und Spass zu haben in einer sehr aufgeschlossenen Community.» Er kennt viele Leute, seine heitere Art ist ansteckend. Die Folsom ermöglicht ihm und den vielen anderen Besuchenden, sich auszudrücken und «an der frischen Luft oben ohne rumlaufen zu können und mich von einer einladenden Gemeinschaft umgeben zu fühlen. Folsom ist das, was man selber daraus macht», wie es Vettel beschreibt.

Keine Polizei, keine Strassenblockaden
Auf der Strasse erreicht das Festival seinen Höhepunkt – im wahrsten Sinne des Wortes. Blowjobs sind nun an vielen Ecken zu sehen. Auf der Hauptbühne führen Pornostars die neusten Sexpraktiven und Toys vor. Die Stimmung ist gelöst, Freunde treffen sich, es wird viel geschaut, gelacht und angefasst. Und auffallend: Es gibt genügend Toiletten und nur wenige Raucher. Die Polizei ist kaum zu sehen, auch verzichten die Behörden auf die gängigen Betonblöcke gegen womögliche Terroranschläge, wie man es von Prideveranstaltungen in Europa gewohnt ist.

Nacktheit ist während der Folsom ausnahmsweise erlaubt – auch im Café. (Foto: Bastian Baumann)

Das Testosteron legt sich wie Nebel über die Strassenschluchten. Auch in der Grindr-­Pro-Version ist der 600. Typ in der App nur 950 Meter entfernt. Und trotzdem bleiben die Leute freundlich, fragen jene, die zu viele Drogen oder Alkohol intus haben, ob sie Hilfe brauchen. Wer aus Versehen jemanden anrempelt, entschuldigt sich, häufig beginnt ein Gespräch. Und dann, wenn die Strassen pünktlich um 18 Uhr für die Folsom geschlossen und wieder für die ganze Stadt geöffnet werden, gehen die Partys erst richtig los.

Die Warteschlange zur bekannten Eagle-Bar – dem Treffpunkt für Lederbären bis hin zu Twinks in engen T-Shirts und partyharten Lesben – verlangt dem Partyvolk über eine Stunde ab. Andere Partys mit Namen wie «Bay of Pigs», «Rough», «Leather Walk» oder «Adult Arcade Deviants», umranden die Folsom Street Fair. Was die Nacht an Partys bringt, soll ein Geheimnis bleiben und jeder für sich entdecken.

Im Dolores-Park, einem der schönsten Parks in der Stadt und bekannt aus TV-Serien und Filmen, liegen die Menschen am Tag nach der Folsom wie Fliegen im Rasen und lassen sich den Kater von der Sonne wegschmelzen. Die meisten mit einem Lächeln im Gesicht.

Tipps und Tricks
• Komm mit einer offenen Einstellung und offenen Augen: die Strassen werden gefüllt sein mit Menschen unterschiedlichster Couleur und mit den aussergewöhnlichsten Fetischen.

• Lass Tiere (die echten) und Kinder zuhause: Es ist zu laut und zu voll für Tiere. Und dieses Strassenfestival ist nichts für Kinder.

• Bereite dich vor, Dinge zu sehen, die du noch nie gesehen hast.

• Frag stets um Erlaubnis, bevor du jemanden berührst oder fotografierst. Nicht alle wollen sich einen Tag später auf Facebook sehen.

• Trink genug Wasser (deine Flasche kannst du überall für einen Dollar auffüllen lassen). Sonnencreme nicht vergessen.

• Nimm nur das Nötigste mit: einen kleinen Turnbeutel für Handy, Wasserflasche, Portemonnaie, Kondome …

• Genügend Bargeld mitnehmen. Die Bierstände akzeptieren meistens keine Kreditkarten.

• Lach andere Menschen nicht aus.

• Bereite dich auf ein Gedränge und auf einen aktiven Tag vor. Trag bequeme Schuhe.

• Mach etwas oder zieh etwas an, wozu du dich noch nie getraut hast. Folsom ist der Ort dafür.

• Überplane nicht. Tickets für die Partys sind zwar relativ früh ausverkauft, gönn dir aber auch genügend Zeit, um auf Entdeckungstour zu gehen.


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