Das Unsagbare aufarbeiten – Missbrauch unter Klosterbrüdern
Es soll auch sexuelle Übergriffe auf zwei Mädchen in der Schweiz gegeben haben
Machtmissbrauch, Klima der Angst, Scham: In einer Gemeinschaft von Klosterbrüdern soll eine Führungsperson viele Jahre andere Brüder sexuell missbraucht haben. Nach dessen Tod geht die Bruderschaft nun ungewöhnlich offen mit dem Thema um.
Von Angelika Resenhoeft, dpa
Es ist die dunkle Seite der Bruderschaftsgeschichte, die jahrelang hinter Klostermauern im Spessart verborgen blieb: Rund fünf Jahre nach dem Tod eines Mitgründers bezichtigt die ökumenische Kommunität der Christusträger Bruderschaft den ehemaligen Prior des sexuellen Missbrauchs. Er habe sich von 1963 bis 1995 an mindestens acht Brüdern vergangen, darunter mindestens einem, der noch nicht volljährig war. «Das gehört nun zum Erbe unserer Gemeinschaft», erzählt Bruder Christian Hauter am Sitz der Bruderschaft im unterfränkischen Triefenstein am Main (Landkreis Main-Spessart). «Wir müssen dazu stehen, was andere verkehrt gemacht haben.»
In ungewöhnlich offener Art setzen sich die Christusträger mit dem wohl dunkelsten Kapitel ihrer Gemeinschaft auseinander – und zwar öffentlich. Hinter ihnen liegt eine lange Zeit des Verdrängens, des Schweigens: «Wir waren viele Jahre blind für die Schattenseiten unseres ersten Priors, wir haben viel zu lange gebraucht, bis wir ihn als Hochstapler gerade in geistlichen Angelegenheiten durchschaut haben», schreibt der derzeitige Leitungskreis der Bruderschaft in einem offenen Brief an rund 6000 Freunde und Weggefährten.
«Wir haben gedacht, es ist so richtig mit dem strengen Gehorsam», erklärt der 61-jährige Hauter, der einige Jahre unter mit dem damaligen Prior arbeitete. «Ich bin ein sozial sensibler Mensch, habe aber das Leid der anderen nicht wahrgenommen.»
Schwarz auf weiss ist im Internet dieses Leid nun nachzulesen – zu Tage gefördert von einer durch die Bruderschaft beauftragten Expertenkommission. Auf 99 Seiten geht es um ein ausgeklügeltes Missbrauchssystem: Machtmissbrauch, geistlicher Missbrauch und sexueller Missbrauch waren demnach in der in Hessen gegründeten Gemeinschaft miteinander verwoben.
Kurz vor oder nach Abendmahl, Seelsorge oder Beichte soll der frühere Prior seine Triebe an Mitbrüdern ausgelebt haben, die ihm hörig waren. «Damals waren wir Brüder es nicht gewohnt, untereinander oder gar öffentlich über Probleme zu sprechen.» Durch seinen autoritären Führungsstil habe der damalige Prior ein Klima der Angst geschaffen.
Für Kirchenrechtler Thomas Schüller von der Universität Münster sind die Vorgänge bei den Christusträgern kein Einzelfall: «Es zeigt, dass katholisch wie evangelisch in besonderen profilierten geistlichen Gemeinschaften mit Führungsgestalten die hohe Gefahr des geistlichen und sexuellen Missbrauchs besteht.» Dass man nun die Öffentlichkeit derart offensiv suche, sei allerdings «positiv zu würdigen».
Im Kloster Triefenstein hat die Bruderschaft seit 1986 ihre Heimat. Sie ist eine ordensähnliche, ökumenische Kommunität innerhalb der evangelischen Kirche, aber nicht Teil der Landeskirche. Derzeit leben nach eigenen Angaben zwölf Brüder sowie weitere Christusträger in dem Kloster. Das Haus steht auch Auswärtigen offen, etwa für Seminare oder Freizeiten. Bis zu 8000 Übernachtungen sind es jährlich.
Der Mitgründer und seit der Gründung 1961 erste Prior der Kommunität war 1996 abgesetzt worden, nachdem seine mutmasslichen Übergriffe bekannt wurden. An die Öffentlichkeit ging die Bruderschaft aber nicht. «Schon damals hätten wir die Polizei und eine unabhängige Beratungsstelle einschalten sollen. Beides ist nicht geschehen. Heute wissen wir, das war ein Fehler», gibt die Leitung unumwunden in dem Brief zu. 2018 starb der Verdächtige. Die Staatsanwaltschaft Würzburg ermittelt daher heute nicht gegen ihn, wie ein Sprecher erklärt.
Insgesamt sollen mindestens vier Brüder Täter gewesen sein, wie die externe Kommission namens «Spurgruppe» herausgefunden hat. «Uns wurde sowohl von sexuellen Übergriffen innerhalb der Bruderschaft als auch gegenüber anderen Personen berichtet», heisst es in dem Bericht, der im Sommer der Bruderschaft vorgelegt wurde. «In der Mehrzahl handelte es sich, soweit uns bekannt ist, um homosexuelle Handlungen zwischen Männern.» Eines der Opfer soll damals noch minderjährig gewesen sein. Zudem soll es 1987 und 1991 sexuelle Übergriffe auf zwei Mädchen in der Schweiz gegeben haben, die nicht zur Gemeinschaft gehörten.
Ob mögliche Taten der anderen drei Verdächtigen mittlerweile verjährt sind, untersucht ebenfalls die Staatsanwaltschaft. «Ich gehe aber davon aus», sagt ein Behördensprecher kürzlich.
Diese drei Verdächtigen gehören nicht mehr zur Bruderschaft, einige der mutmaßlichen Opfer dagegen weiterhin. In zwei Fällen war nach Angaben der Gemeinschaft die Staatsanwaltschaft früher bereits tätig, stellte aber die Verfahren ein.
Im Frühjahr 2021 sei beschlossen worden, das Thema aufzuarbeiten, erzählt Hauter. Die «Spurgruppe» (zwei Therapeuten, eine Juristin und ein Theologe) habe mit 15 direkt oder indirekt Betroffenen gesprochen und Unterlagen ausgewertet. Demnach sollen sich viele Übergriffe am früheren Sitz der Gemeinschaft im hessischen Bensheim-Auerbach und an anderen Orten, wo es Niederlassungen gibt, zugetragen haben.
Im Oktober nun informierte die Bruderschaft die Öffentlichkeit. «Wir haben sehr lange gebraucht, öffentlich zu sprechen», erzählt Hauter, «Worte für das Unsagbare zu finden und es geistlich einzuordnen.»
Seit 2010 gebe es eine Ombudsstelle, an die sich Opfer und indirekt Betroffene wenden könnten. «Außerdem gab sich die Bruderschaft eine Präventionsordnung und formulierte eine Selbstverpflichtung, die alle Brüder unterschrieben haben», erklärt Hauter. Darin sei geregelt, dass sämtliche Fälle von Grenzverletzung und sexualisierter Gewalt im Rahmen der Arbeit der Christusträger von der Leitung sehr ernst genommen würden. Unabhängige Fachleute würden dann hinzugezogen, je nach Schwere auch Polizei und Staatsanwaltschaft. Inwieweit die Opfer entschädigt werden können, soll individuell geklärt werden.
Kirchenrechtler Schüller sieht in dem begonnenen Aufarbeitungsprozess erst einen Anfang. Es bleibe abzuwarten, ob die Bruderschaft bereit sein werde, Opfer wirklich sachgerecht zu entschädigen, «das heisst nicht nur Almosen zu verteilen». «Es steht dieser Gemeinschaft also noch ein langer Weg bevor, bevor man ihr irgendwann wieder als vertrauenswürdige christliche Gemeinschaft wird vertrauen können.»
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