Burlesque und Baströckchen – 50 Jahre «Pulverfass Cabaret»

Drag-Stars wie Olivia Jones haben dort ihre ersten Schritte getan

Travestie-Künstlerin Suzan Furtado (2.v.r) steht auf der Bühne der Travestie-Show „Urban Jungle“ im Pulverfass Cabaret auf der Reeperbahn  (Bild: Marcus Brandt)
Travestie-Künstlerin Suzan Furtado (2.v.r) steht auf der Bühne der Travestie-Show „Urban Jungle“ im Pulverfass Cabaret auf der Reeperbahn (Bild: Marcus Brandt)

Ein Denkmal Hamburger Unterhaltungsgeschichte feiert Geburtstag: Das «Pulverfass Cabaret» an der Reeperbahn wird 50. Das ist nur möglich, weil zwei junge Hamburger das Theater gekauft haben – und mit modernem Konzept wieder viel Publikum anziehen.

Von: Ulrike Cordes, dpa

Die «Mutter aller Spinnen» stammt aus Venezuela, trägt üppig silbrig schimmerndes Gewebe um den Hals und ein schwarzes Abendkleid, das fast nur aus Schlitzen besteht. Zu der schönen Dame gesellt sich im verrucht wirkenden Spinnen-Korsett ein Herr und schwingt seinen muskulösen Körper lianengleich und hochakrobatisch um eine Poledance-Stange.

Performance-Künstler Quentin Dee spielt auf der Bühne der Travestie-Show «Urban Jungle» im Pulverfass Cabaret auf der Reeperbahn (Bild: Marcus Brandt)
Performance-Künstler Quentin Dee spielt auf der Bühne der Travestie-Show «Urban Jungle» im Pulverfass Cabaret auf der Reeperbahn (Bild: Marcus Brandt)

Später verwandelt sich auf der Bühne noch eine bezaubernde Regenbogen-Queen in einen Schmetterling. Und ein Stammestanz waschechter Brasilianer*innen erinnert zu Techno-Beats an den Karneval in deren Heimat. Die Akteur*innen reissen ihr Publikum auch dank farbenprächtiger Federhauben und Baströckchen mit.

Es sind nur einige der hochkarätigen internationalen Acts aus der Show «Urban Jungle» an Hamburgs Reeperbahn im «Pulverfass Cabaret», dem nach Veranstalterangaben ältesten Travestie-Theater Deutschlands.

Am 10. September will es mit einer Gala für geladene Gäste sein 50-jähriges Bestehen feiern. Durch das noch bis Ende August laufende zweistündige «Jungle»-Programm im nostalgisch plüschigen Saal mit grosser Bar im Hintergrund führt die quietschfidele Conférencière Daisy Ray. Und die vielen Besucher*innen jubeln an kleinen Tischen bei Speis und Trank.

Dabei würde es das alles beinahe gar nicht mehr geben. Denn Heinz-Diego Leers, Begründer des «Pulverfass Cabarets», der sein Etablissement 1973 noch im Stadtteil St. Georg an der Strasse Pulverteich eröffnet hatte, war zuletzt ebenso in die Jahre gekommen wie sein eher derbes Erotik-Unterhaltungskonzept. Der Kaufmann fand lange keine Nachfolger*innen. Vergangenen Januar wurde er im Beisein von Promis wie Kiez-Grösse Kalle Schwensen und TV-Stern Sylvie Meis auf dem Friedhof Ohlsdorf beigesetzt.

Melissa Alonso im Pulverfass Cabaret auf der Reeperbahn (Bild: Marcus Brandt)
Melissa Alonso im Pulverfass Cabaret auf der Reeperbahn (Bild: Marcus Brandt)

Im Corona-Sommer 2021 erwarben schliesslich der Personalentwickler Maximilian Protsch (36) und sein Lebenspartner, der Steuerberater Hendrik Kupfernagel (41), den einst kultigen Laden, der seit 2001 auf St. Pauli beheimatet ist. Drag-Stars wie Olivia Jones und Mary & Gordy hatten dort ihre ersten Schritte getan.

Wir gestalten das Ganze moderner, menschlicher und vielfältiger. Immer noch erotisch – aber keinen Zirkus mit trans Personen mehr.

«Niemand hatte Interesse, das ‹Pulverfass Cabaret› als Institution weiterzuführen, manche wollten Shisha-Bars oder Einkaufszentren eröffnen», sagt Protsch der Deutschen Presse-Agentur im Art-déco-Empfangsbereich gleich hinter der unscheinbaren Glasfassade des früheren «Oase»-Kinos. «Doch wir fanden es schade, wenn so eine Institution nach fast 50 Jahren verschwunden wäre.»

Inhaber und Betreiber Maximilian Protsch (3.v.l) steht mit den Künstler*innen nach der Travestieshow «Urban Jungle» im Foyer im «Pulverfass Cabaret» (Bild: Marcus Brandt)
Inhaber und Betreiber Maximilian Protsch (3.v.l) steht mit den Künstler*innen nach der Travestieshow «Urban Jungle» im Foyer im «Pulverfass Cabaret» (Bild: Marcus Brandt)

Nach aufwendigen Renovierungen verwirklichen beide Betreiber mit Geschäftsführer Thomas Birkhahn (62) derzeit eine umfassende Erneuerung des künstlerischen Konzepts. «Wir gestalten das Ganze moderner, menschlicher und vielfältiger», sagt Protsch. «Immer noch erotisch – aber keinen Zirkus mit trans Personen mehr.»

Zu erleben sind Themen-Shows mit grossem Cast, Live-Gesang, Striptease und Strapaten-Nummern. Mit beeindruckenden Artist*innen – und spektakulären Kostümen, die in Brasilien eingekauft werden. Der Theater-erfahrene Birkhahn bereichert das Programm um ganze Stücke, Gastspiele, Comedy und Musicals. So zwischen 17. Oktober und 27. Dezember mit der musikalischen Revue «Glücklich in 90 Minuten» unter Regie des Schauspielers und Regisseurs Georg Münzel.

Eine Konkurrenz zum nahen Schmidt-Theater-Imperium von Corny Littmann sei das nicht, sagt Birkhahn. Man kenne und möge einander. Dazu formuliert denn auch Littmann auf Agentur-Anfrage, das «Pulverfass Cabaret» sei «eine sehr gute Ergänzung des Kulturangebots auf dem Kiez.»

Weitere wichtige Neuerung: Beim abendlichen Show-Finale ziehen die Künstler*innen nicht mehr blank, um zu beweisen, dass sie einen Männerkörper haben. «Das ist nicht mehr zeitgemäss», erklärt Protsch. Heute spiele man vielmehr mit den Reizen. «Wer war wirklich die biologische Frau und wer nicht – das Geheimnis bleibt bestehen.» Dabei gelte Transgeschlechtlichkeit gesellschaftlich inzwischen ja als normal. Auch für seine vielen Gäste zwischen Anfang 20 und Anfang 80.

Als «Provokateurin und Revoluzzerin» im «Pulverfass Cabaret» bezeichnet sich dagegen Eve Champagne – wohl der Star des Hauses. Denn Eve erkennt sich als Cis-Frau – bei der Geburt wurde ihr das weibliche Geschlecht zugeordnet und auch vom Gefühl her war sie immer Frau. Die temperamentvolle, über 1,80 Meter grosse Burlesque-Tänzerin und ihre zwischen 25 und mehr als 70 Jahre alten Bühnen-Schwestern begeistern die Fans mit zum Teil superfrechen «Pulverlesque»-Shows, bei denen sie «mehr Feminismus auf der Bühne gelten lassen» wollen.

Eve betont: «Vor mir gab es hier keine Cis-Frauen.» Sogar ihren künftigen Ehemann habe sie bei ihrer Arbeit für das «Pulverfass Cabaret» kennengelernt, fügt die selbstbewusste Brünette noch strahlend hinzu.

Auf Netflix steht eine schwule Geisterkomödie mit dem englischen Titel «Marry My Dead Body» als Stream bereit. Sie stammt aus Taiwan und behandelt auf grotesk-komische Weise das Thema Eheöffnung im Land – als Plädoyer dafür, die neuen Realitäten zu akzeptieren (MANNSCHAFT berichtete).

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