Argentinien unter Milei: «Er reisst unsere Gesellschaft auseinander»
Eine trans Aktivistin über die aktuelle politische Lage
Argentiniens Präsident Javier Milei schaffte in den ersten 24 Stunden seiner Amtszeit das Ministerium für Vielfalt ab. Wie geht es der LGBTIQ-Gemeinschaft 3 Monate nach seinem Antritt? Ein Interview mit trans Aktivistin Alba Rueda.
Alba, warum war das Ministerium für Frauen, Geschlecht und Vielfalt wichtig? Es war sehr wertvoll, ein solches Ministerium ganz vorne in der nationalen Politik zu haben, das die Themen Geschlechtsidentität und Diversität einbringt. Viele kulturelle Veränderungen beginnen mit einer Agenda der Politik. Das Ministerium für Frauen, Geschlecht und Vielfalt war den anderen Ministerien ebenbürtig und machte LGBTIQ sichtbar.
Ein Beispiel: Während der Corona-Pandemie haben viele trans Personen keine Unterstützung durch Lebensmittel erhalten. Die meisten Provinzen haben nie einen Service für trans Personen angeboten. Das Ministerium für Frauen, Geschlecht und Vielfalt hat sich in dieser Zeit stark ausgetauscht mit dem Ministerium für Soziale Entwicklung, mit der Zivilbevölkerung und sozialen Organisationen. Die Organisationen kartierten die Trans-Gemeinschaft für uns, und zum ersten Mal hatte der Staat eine Reaktionspolitik. Wir konnten ein Register mit 8’000 trans Personen schaffen, die dann Unterstützung anfragen konnten. Ein solches Register gab es zuvor nicht.
Der neue Präsident Milei schaffte das Ministerium ab mit folgender Begründung : «Ich glaube an die Gleichheit vor dem Gesetz. Hier geht es nicht um Rechte, es geht um Privilegien.» Gibt es diese Gleichheit, von der Milei spricht? Nein, es gibt sie nicht und es gab sie nie. Nicht in Argentinien und in keinem Land. Gleichheit wird nicht unter dem Kennzeichen «legal» geschaffen. Sie wird geschaffen, indem man Lebensbedingungen verbessert. Milei redet von einer formellen Gleichheit. Aber diese Formalien sind in einer Gesellschaft geschrieben, die zutiefst ungleich ist. Ein gutes Beispiel sind trans Personen. Es gibt kein Gesetz, das es ihnen verbietet, einer formellen Beschäftigung nachzugehen. Aber alle Bevölkerungsstudien Argentiniens zeigen, dass sie nicht denselben Zugang zu Arbeit haben. Zwischen 80 und 90 Prozent von ihnen mussten schon einmal Sex gegen Geld anbieten, um sich Essen kaufen zu können. Das ist nicht Teil der Transidentität. Das ist strukturelle Benachteiligung, die der Staat verhindern muss.
Was für Folgen könnte die Milei-Regierung für die Gleichberechtigung in Argentinien haben? Milei ist auf das Geschäftssegment fokussiert. Er lässt die Sektoren zurück, die am meisten ausgeschlossen werden: die Rentner und die LGBTIQ-Politik. Er verspricht, das Nationale Institut gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zu schliessen. So vertieft Milei den Riss und die Ungleichheit in unserem Land. Er, seine Partei «La Libertad Avanza» und das PRO-Segment, das gemeinsam mit ihm regiert, reissen unsere Gesellschaft auseinander. In den drei Monaten der Milei-Regierung gab es keine neuen Anstellungen von trans Personen in der nationalen Verwaltung. Im Gegenteil! Viele Arbeiter*innen des Staates wurden entlassen. Es gibt weniger Anstellung für trans Personen. Warum? Um einen Finanzplan einzuhalten. Doch dabei vergessen sie die Menschen, die am meisten ausgeschlossen werden.
Vor Kurzem hat Milei die inklusive Sprache in der Nationalverwaltung verboten. Wie bewerten Sie das? Ich bewerte das als eine Verweigerung der Rechte. Nicht-binäre Personen sind in Argentinien anerkannt – durch das Gesetz zur Geschlechtsidentität und durch ein spezielles Dekret, das die Anerkennung ihrer Identität in Personalausweis und Reisepass ermöglicht. Die inklusive Sprache zu verbieten, bedeutet die Bevölkerung auf zwei Typen von Bürgern zu reduzieren – Männer und Frauen. Es bedeutet, andere Gruppen auszulassen. Das ist Diskriminierung. Milei schafft weder Freiheit noch Gerechtigkeit. Er zwingt uns in diesem Moment über den Staat eine androzentrische Ideologie auf. Jedes Mal, wenn er die Vielfalt der Personen verneint, nimmt er ihnen ihre Rechte. Er zielt darauf ab, dass der argentinische Staat weiter patriarchalisch bleibt.
Milei selbst hat eine sehr abfällige Sprache gegenüber der LGBTIQ-Gemeinschaft. Er spricht von Gender-Ideologien. Viele hören ihm zu. Führt das zu Veränderungen in der Gesellschaft? Ja, es gibt Veränderungen. Vor allem in den sozialen Medien. LGBTIQ-Personen erhalten mehr Gewaltdrohungen. Egal zu was wir uns äussern, wir werden beleidigt und unsere Meinung für ungültig gehalten. Während des Wahlkampfs gab es Angriffe auf LGBTIQ-Personen. Eine nicht-binäre Person wurde bei einem Spaziergang attackiert. Eine andere wurde in einem Bus angegriffen. Niemand hat geholfen. Das zeigt, wie das soziale Klima sich verändert. Argentinien war immer stolz, eine plurale Gesellschaft und eine Demokratie zu sein. Wegen der Wirtschaftskrise kann die Milei-Regierung eine konservative Ideologie in unsere Gesellschaft eingliedern. Das führt zu Angriffen auf Menschenrechtsverteidiger*innen.
In Argentinien ist die gleichgeschlechtliche Ehe erlaubt. Es gibt eine Arbeitsquote für trans Personen (MANNSCHAFT berichtete), es gibt ein Anti-Diskriminierungs-Gesetz und ein Gesetz zur Geschlechtsidentität. Ein Vorbild für die Welt. Wird es seine Vorreiter-Funktion unter Milei verlieren? Ja, das denke ich. Seit Milei Präsident ist, hat sich seine Politik nicht mit der Diversität beschäftigt. Ohne öffentliche Politik wird es einen Rückschritt in Sachen Menschenrechte geben. Denn wenn der Staat nicht handelt, vergrössert das die Ungleichheit. Was mich vor allem besorgt, ist, dass diese Struktur der Ungleichheit, die Milei erschafft, geleugnet wird. In den letzten 40 Jahren Demokratie hatten wir keinen Präsidenten, der die LGBTIQ-Gemeinschaft so konfrontativ und systematisch attackierte. Argentinien wird niemals Menschenrechte haben, wenn diese nicht auch die LGBTIQ-Personen einschliessen. Menschenrechte sind für alle.
Was kann jeder Einzelne tun, um die LGBTIQ-Gemeinschaft in Argentinien während Mileis Amtszeit zu stärken? Es gibt vieles, was wir tun können, doch am wichtigsten ist die Sichtbarkeit der LGBTIQ-Gemeinschaft auf Märschen und sozialen Protesten. Wir müssen unsere Stimme erheben, wir müssen unsere Ablehnung zeigen. Am internationalen Tag der Frau gab es einen Marsch von trans Frauen und Lesben. Seit Jahren waren wir nicht mehr so präsent. Wir sagen nein zu der sozialen Ungleichheit, die Milei in unser Volk bringt. Wir rufen dazu auf, in unserer Demokratie den Sinn für Menschenrechte wiederzufinden und zu stärken!
Alba Rueda (1976) ist eine trans-feministische Aktivistin. Sie war die erste offene trans Politikerin Argentiniens mit hoher Regierungsposition. Im Jahr 2021 wurde sie in die BBC 100 Women aufgenommen. Diese würdigt einflussreiche und inspirierende Frauen weltweit.
Slowenien hat als erstes osteuropäisches Land die Ehe für alle auf den Weg gebracht. Es gab eine deutliche Mehrheit im Parlament (MANNSCHAFT berichtete).
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