«Zum Paradies»: Hanya Yanagiharas neue schwule Saga
Nach dem Sensationserfolg von «Ein wenig Leben» liegt der neue Roman der Starautorin vor
Mit ihrem Roman «A Little Life» («Ein wenig Leben») hat die US-Autorin Hanya Yanagihara nicht nur einen Weltbestseller erschaffen, sondern auch eine der intensivsten schwulen Liebesgeschichten aller Zeiten zwischen zweien ihrer Hauptcharaktere. Nun ist «To Paradise» raus. Und diesmal sind alle Figuren schwul, von Anfang bis Ende. Und niemand scheint das bemerkenswert zu finden.
Im Roman «Ein wenig Leben» verwob Yanagihara die Lebensgeschichten verschiedener Freunde, die sich in der Universität kennengelernt hatten. Dabei intensiviert sie die zwischen Jude, der als Kind schwer sexuell missbraucht wurde, und dem attraktiven Willem. Einer wird Anwalt, der andere Hollywood-Actionheld. Und beide gehen eine ungewöhnliche Beziehung ein, die von einer solchen Tiefe und Liebe ist, dass es wenige andere LGBTIQ-Bücher gibt, die da auch nur annähernd herankommen.
Bis die «Happy Years» von Jude und Willem allerdings beginnen, muss man sich bei «Ein wenig Leben» durch sehr sehr sehr viele Seiten kämpfen. Bei «Zum Paradies» geht es dagegen gleich auf Seite 1 mit schwulen Figuren und Thematiken los. Und mit schwuler Liebe. Und das hört dann 800 Seiten lang nicht mehr auf.
Der neue Roman besteht aus drei Teilen, die jeweils hundert Jahre auseinanderliegen und im Kern von einem Haus am Washington Square in Manhattan handeln – es werden drei Generationen von schwulem Leben beschrieben, im Jahr 1893, 1993 und 2003.
Der interessante Trick, mit dem Yanagihara gleich zu Beginn punktet, ist: Sie erzählt eine Geschichte aus dem «Gilded Age» New Yorks, die sich wie ein Henry-James-Roman liest. Aber es ist im Grunde eine Fantasy-Geschichte, denn obwohl sich alles «realistisch» anfühlt, ist es das nicht. New York ist hier ein eigenes Land, ein «freier Staat», abgetrennt vom restlichen Amerika. Und in diesem freien Staat ist es eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit, dass gleichgeschlechtliche Ehen geschlossen werden. Diese gleichgeschlechtlichen Paare adoptieren Kinder und hinterlassen diesen dann ihr Vermögen. D. h. praktisch, dass die reichen Sprösslinge der «Founding Families» bestmöglich unter die Haube gebracht werden müssen, damit das Geld nicht in falsche Hände gerät.
Alternative Queer History Diese queere Fantasy-Welt mitzuerleben ist teils faszinierend – auf die gleiche Weise, wie das Color-blind-casting bei «Bridgerton» neue Sichtweisen auf Geschichte zulässt –, als Gedankenexperiment ungemein attraktiv. So als erschüfe hier jemand eine alternative Queer History, die’s so nie gab, die es aber hätte geben können.
Man erlebt die Geschichte des schüchternen David, der bei seinem schwerreichen Grossvater am Washington Square lebt und sich in einen armen Glücksritter Edward verliebt. Der ist möglicherweise nur hinter seinem Geld her. Und David muss sich entscheiden, ob er aus seinem goldenen Käfig ausbricht oder ob er sich auf das Risiko einlässt, von einem Mann ausgenutzt zu werden und mit ihm nach Westen zu ziehen – nach Kalifornien und möglicherweise weiter nach Hawaii.
Yanagihara zeigt, dass die «freie» LGBTIQ-Welt von 1893 gar nicht so frei ist
Yanagihara zeigt, fast nebenbei, dass die «freie» LGBTIQ-Welt von 1893 gar nicht so frei ist, denn obwohl es die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare als «Norm» gibt (Hetero-Ehen sind verpönt), heisst das noch lange nicht, dass es keine Einschränkungen gibt. So hat der Grossvater beispielsweise seit Jahrzehnten einen Liebhaber, der aber nicht aus der «richtigen» sozialen Klasse kommt. Und deshalb nicht offizieller Teil des Familienlebens sein darf.
In diesen ersten Romanteil findet man als Leser*in sofort hinein. Und fragt sich, wie er mit dem zweiten Teil zusammenhängen könnte, der dann im New York der AIDS-Epidemie spielt. Die Figuren haben teils die gleichen Vor- und Nachnamen, was immer wieder dazu einlädt zu überlegen, ob es sich im Nachkommen der Charaktere aus Teil 1 handelt – Nachkommen, die diesmal aus Hawaii nach New York zurückgekommen sein könnten.
Separatistische Bestrebungen der Hawaiianer*innen Dieser zweite Teil des Buchs ist nicht so eindeutig im Fantasy-Bereich angesiedelt, weil die beschriebenen LGBTIQ-Freiheiten durchaus der Realität der 1990er-Jahre entsprechen. Nur zwischen den Zeilen deutet sich in den separatistischen Bestrebungen der Hawaiianer*innen, sich von den USA zu lösen, immer wieder an, dass das alles gleichfalls in einer erfundenen Welt spielen könnte.
Die wird dann breit ausgemalt im dritten Teil, der eine von Pandemien und Seuchen dominierte Zukunft beschreibt. Wiederum in New York, wohin der hawaiianische Wissenschaftler Charles mit seinem Ehemann und dem gemeinsamen Sohn zieht. Dieser Romanteil springt zwischen dem Jahr 2093 als beklemmender Dystopie und den Briefen, die Charles in den Jahrzehnten davor an einen schwulen Freund in England geschrieben hat, hin und her. In diesen Briefen wird nachgezeichnet, wie die Welt allgemein und New York als «freier Staat» im Besonderen zu diesem Polizeistaat mutiert – in dem plötzlich gleichgeschlechtliche Partnerschaften nur noch toleriert werden, aber die meisten LGBTIQ sich entscheiden, lieber in heteronormativen Scheinehen zu leben.
Nach zwei Jahren Corona ist es schockierend, diese düstere Zukunftsvision zu lesen, wo eine Pandemie auf die nächste folgt und immer mehr Freiheiten, die man als selbstverständlich angesehen hat (Internet, Fernsehen, Nachrichten usw.), nach und nach weggenommen werden. Zum «Schutz» der Allgemeinheit, wie es heisst.
Eine Million Dollar fürs Manuskript Yanagihara parodiert hier wie anderswo immer wieder «linke» bzw. «woke» Ideale, sie zeigt deren zerstörerisches Potenzial. Aber sie zeigt gleichzeitig, was passiert, wenn man die Gegenseite einfach gewähren lässt.
Auf dem Cover des Buchs sieht man einen hawaiianischen Fischerjungen, 1898 von Hubert Vos in Öl auf Leinwand gemalt. Das Buch mit seinen vielen BIPoC-Charakteren ist sicher eines der Ersten, das BIPoC so viel Sichtbarkeit verschafft in der Literaturszene. Laut Medienberichten soll Yanagihara vom Verlag eine Million Dollar für ihr Manuskript bekommen haben. Und wegen des Erfolgs des Vorgängerromans kletterte «To Paradise» sofort in die Bestseller-Listen, auch im deutschsprachigen Raum.
Allerdings waren sie Reaktionen aufs Buch – mit seinen stilistisch extrem unterschiedlichen Teilen – gemischt. Die NDR-Literaturkritikerin Annemarie Stoltenberg schreibt: «Schwere Kost ist das. Absolut brillant, aber auch erstaunlich behäbig mit vielen Wiederholungen geschrieben.» Der Guardian hingegen spricht von «einem Meisterwerk für unsere Zeit».
Identitätspolitik vs. künstslerische Freiheit Einige Kritiker*innen aus der LGBTIQ-Community warfen Yanagihara vor, es stehe ihr nicht zu, LGBTIQ-Charaktere zum Zentrum ihrer Romane zu machen, wenn sie selbst nicht LGBTIQ sei – das klassische Identitätspolitikargument. Yanagihara hat darauf öffentlich geantwortet, dass sie schreiben könne, was sie wolle und worüber sie wolle. Im Sinn von Freiheit der Kunst (MANNSCHAFT berichtete über diesen Konflikt).
Sicherlich kann niemand Yanagihara vorwerfen, dass sie schwule Charaktere nicht mit dem grösstmöglichen Respekt behandelt, wenn das hier das richtige Wort ist. Das Irritierende ist eher, dass sie das teils überzeugender und besser macht als viele LGBTIQ-Autor*innen selbst.
Bei einem Gespräch mit dem Verkäufer im Berliner Buchladen Eisenherz sagte dieser kürzlich zu MANNSCHAFT, er habe den ersten Teil förmlich verschlungen vor Begeisterung, sei aber im zweiten Teil ausgestiegen, weil er nicht wusste, wohin der Roman wolle. Nach einer Pause habe er dann doch beschlossen, Teil 3 eine Chance zu geben. In diesem letzten Teil taucht dann auch erstmal eine heterosexuelle Frauenfigur auf, die Enkeltochter des hawaiianischen Wissenschaftlers Charles, die er versucht vor der neuen Welt in New York zu retten. Aber wie? Das entschlüsselt Yanagihara nach und nach. So dass man Geduld braucht, um durch die 800 Seiten zu kommen.
Im letzten Teil taucht auch erstmal eine heterosexuelle Frauenfigur auf, die Enkeltochter des hawaiianischen Wissenschaftlers Charles
Dass ein so gewichtiges Buch von einer so prominenten Autorin eine fast ausschliesslich schwule Geschichte erzählt, wird zwar von den meisten Rezensent*innen erwähnt, aber nicht als Besonderheit hervorgehoben. Und die Mehrheit der LGBTIQ-Nachrichtenportale hat das Buch gar nicht gross zur Kenntnis genommen, vielleicht weil es nicht explizit als queerer Titel vom Verlag beworben wurde?
Ist das eine neue Selbstverständlichkeit um Umgang mit LGBTIQ in der Buchbranche? Oder glaubt man die Verkaufszahlen hochzutreiben, wenn man Homosexualität als zentrales Handlungselement bei einem Millionendollarbuchdeal nicht hervorhebt, um niemanden abzuschrecken? Die Antwort darauf muss jeder selbst suchen. (MANNSCHAFT berichtete darüber, dass schwuler Sex im Literaturbetrieb nach wie vor wie ein Tabu behandelt wird.)
Nach dem fulminanten ersten Teil 1893 à la Henry James ist es dann übrigens die rückblickende Familiengeschichte-in-Briefen, die ansatzweise an die Geschichte von Jude und Willem herankommt. Mit teils ähnlich erschütternden Momenten.
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