Wie Kurt wieder auf die Beine kam

Von einer «unglücklichen Verkettung von Umständen» und viel Lebensfreude

Im März 2022 jährte sich der folgenschwere Unfall in den Gassen Zürichs zum 20. Mal. (Bild: Cesare Macri)
Im März 2022 jährte sich der folgenschwere Unfall in den Gassen Zürichs zum 20. Mal. (Bild: Cesare Macri)

Vor 20 Jahren verlor Kurt von Allmen wegen eines fatalen Fehlers der Stadtpolizei Zürich sein linkes Bein. Doch wiederkehrende Phantomschmerzen und Ablehnung aus der LGBTIQ-Community lassen sein herzliches Lachen nicht verstummen.

Das besonders Tragische an Kurts Geschichte ist, dass sie bis auf das Ende eigentlich gar nichts mit ihm zu tun hat. Es ist der 14. März 2002, kurz vor zwei Uhr morgens: An der Marktgasse in Zürich wird in ein Elektronikfachgeschäft eingebrochen. Das hat überhaupt nichts mit Kurt zu tun. Die Stadtpolizei Zürich erhält den Alarm und rast los. Auch das hat nichts mit Kurt zu tun. Ein Polizeiwagen ohne Blaulicht fährt in der Nähe des Tatortes umher und macht Kurt plötzlich zur unfreiwilligen Hauptfigur dieser Geschichte. Was nun passiert, würde Kurt später eine «unglückliche Verkettung von Umständen», seine Anwälte aber «versuchte Tötung» nennen.

Das Schicksal akzeptiert Kurt hat in einem Club gefeiert und joggt nun alleine über die Strasse «Untere Zäune». Aus Jux hat er entschieden, dass er noch vor seinem Freund, der auf einem anderen Weg mit dem Rad nach Hause fährt, bei der gemeinsamen Wohnung ankommen will. Im Gegensatz zum gesuchten Mann aus der Marktgasse ist er ganz in Weiss gekleidet. Dennoch hält ihn die Polizei für den Einbrecher. Die drei Polizisten im Wagen könnten aussteigen, ihn zur Rede stellen. Der Mann auf dem Fahrersitz entscheidet sich jedoch für ein unverhältnismässiges Manöver und steuert einfach auf Kurt zu. Der weicht vergeblich zunächst nach links, dann nach rechts aus. Aufzeichnungen würden später ergeben, dass der Wagen nicht nur ungebremst in ihn hineingefahren ist, sondern unmittelbar vor dem Zusammenstoss sogar noch beschleunigt hatte. Kurt wird zwischen Polizeiauto und Hauswand eingeklemmt und verliert dabei sein linkes Bein.

«Vom Jammern wächst das Bein ja auch nicht nach.»

Kurt von Allmen

Man könnte leicht sagen, dass in jener Nacht sein Leben zerstört wurde. Aber diese Wortwahl würde nicht zu Kurt passen. Zu dramatisch. Er nahm sein Schicksal noch auf der Unfallstelle an und akzeptierte es mit einer Leichtigkeit und Zuversicht, die Freund*innen und Ärzt*innen gleichermassen verblüffte. Das liege wohl auch daran, dass er aufgrund der unnatürlichen Positionierung des Beines sofort selber gewusst habe, dass er es verlieren würde, vermutet Kurt.

Fünf Tage nach dem Unfall konnte man ihn auf Tele Züri bereits lachend in seinem Spitalbett sehen. Der regionale Privatsender berichtete wiederholt über seine Geschichte und machte ihn zu einer stadtbekannten Berühmtheit. Noch viele Jahre später sei er an öffentlichen Orten wie im McDonald’s von fremden Menschen erkannt worden. Durch seine Medienpräsenz habe er eine überwältigende Anteilnahme erfahren, die ihn durch diese Zeit getragen habe.

Warten auf das Loch In Therapie war er nie – jedenfalls nicht länger als fünf Minuten. Bald nach dem Unfall schickte man ihn zu einem Psychologen, der allerdings schnell merkte: Hier gibt es nichts zu therapieren. «Vom Jammern wächst das Bein ja auch nicht nach», findet Kurt. Damit ist er eine Inspiration für Menschen, die sich mit viel kleineren Herausforderungen schwertun. Er wisse von Leuten, die über ihn sagten: «Wenn der mit diesem Schicksal so gut klarkommt, dann schaffe ich das mit meinem verhältnismässig kleinen Problem doch auch!»

Ein Arzt fragte ihn sogar, ob er nicht mit einem Patienten, dem es nach dem Verlust seines Beines durch einen Motorradunfall sehr schlecht ging, sprechen könnte. «Wenn ich auf diese Weise positive Impulse weitergeben kann, ist das natürlich wunderbar», so Kart.

Nach nur einem halben Jahr ging Kurt bereits wieder zurück in seinen Job bei der Zürich Versicherung, wo er noch heute arbeitet. Er sagte sich damals: «Es ist kacke, es ist scheisse, aber weshalb sollte ich meine Energie verschwenden? Ich investiere sie lieber in meine Zukunft, damit ich schnell wieder auf die Beine komme.»

Seinen Humor und sein ansteckendes, herzliches Lachen hat der heute 52-jährige Zürcher nicht verloren. Wer mit Kurt spricht, bekommt sofort bessere Laune. Viele sagten ihm, er müsse aufpassen, denn früher oder später würde er doch noch in ein emotionales Loch fallen. Auch darüber kann Kurt nur lachen: «Ich warte jetzt seit zwanzig Jahren auf dieses Loch und es kommt einfach nicht!»

Kurt ist aber kein Verdränger, der seine gute Laune unentwegt wie eine Maske trägt und die schmerzhaften Seiten seiner Existenz überspielt. Er scheut sich überhaupt nicht davor, über die schlimmsten Folgen des Unfalls zu sprechen. Aber er jammert dabei nicht, er nennt bloss Fakten: Jede Treppe, jede Unebenheit auf seinem Weg müsse er weit im Voraus antizipieren. Die Fortbewegung mit Prothese sei anstrengend. Das mache ihn nicht traurig, aber manchmal etwas wütend.

Kurt von Allmen: «Vom Jammern wächst das Bein ja auch nicht nach.» (Bild: Cesare Macri)
Kurt von Allmen: «Vom Jammern wächst das Bein ja auch nicht nach.» (Bild: Cesare Macri)

Schläge von Starkstromkabeln Und dann sind da noch die Schmerzen. Höllische Schmerzen, die vor zwei Jahren ihren grässlichen Höhepunkt erreicht haben. Binnen 30 Stunden kamen sie in Abständen von etwa 60 Sekunden. Wie Schläge von einem Starkstromkabel fühle sich das an, wobei sein Körper durchgeschüttelt werde, als erlebte er einen epileptischen Anfall. Mittlerweile wurde zumindest für diese heftige Form der Schmerzen ein Mittel gefunden. Dank regelmässigen Infusionen blieben solche Anfälle in jüngster Vergangenheit aus.

Bei traumatisch bedingten Amputationen seien die Phantomschmerzen meist schlimmer als bei geplanten, chirurgischen Abtrennungen. Beim Unfall selbst habe er nichts gespürt. «Aber mein Gehirn hat diesen Schmerz sehr wohl registriert und für immer abgespeichert», erklärt Kurt. Erst wenn sich sein Gehirn vielleicht einst aufgrund von Demenz nicht mehr an den Schmerz beim Aufprall erinnert, könnten die Schmerzattacken ausbleiben.

Der Polizist wurde befördert Entwickelt man als Opfer nicht einen Hass auf die Menschen, die für solches Leid verantwortlich sind? Kurt nicht – obwohl die Polizei ihm allen Grund dazu gegeben hätte. Nach dem Unfall dauerte es eine Woche, bis die Stadtpolizei Zürich festgestellt hatte, dass Kurt in der Tat nicht der Einbrecher von der Marktgasse war. Dank DNA-Spuren am Tatort konnte einen Monat später bei einer Personenkontrolle der richtige Mann verhaftet werden. Die Polizei bot Kurt ein Treffen mit ihm an. «Was für eine absurde Idee – weshalb sollte ich den kennenlernen wollen?», sagt Kurt. Ausserdem verhöhnte der Anwalt des Polizisten, Eric Vultier, das Opfer beim Prozess. Kurt hätte doch einfach stehenbleiben sollen, dann wäre nichts passiert.

Was Kurt aber am meisten entsetzte: Der betroffene Polizist wurde noch während des laufenden Verfahrens befördert. Ein Schlag ins Gesicht, sei das gewesen. «Man klopfte ihm quasi auf die Schultern für das, was er getan hatte. Absolut pietätlos.»

Dennoch hat Kurt heute kein schlechtes Verhältnis zu den uniformierten Gesetzeshüter*innen. «Die haben einen undankbaren Scheissjob und es sind auch nur Menschen und keine Maschinen», sagt er. Er frage sich einzig, ob alle von ihnen dieser schwierigen Aufgabe stets gewachsen seien. «Können wirklich alle in jeder Situation objektiv und sachlich bleiben, ohne impulsiv zu reagieren?»

Kurt kaschiert seine Prothese nur, wenn er in Drag als Beverly Stardust auftritt. (BIld: zvg)
Kurt kaschiert seine Prothese nur, wenn er in Drag als Beverly Stardust auftritt. (BIld: zvg)

Eine spezielle Freundschaft Kurt hat einiges über diesen Job gelernt, weil er mal mit einem Polizisten befreundet war – und zwar mit dem Unfallverursacher der verhängnisvollen Nacht vor 20 Jahren. Einige Menschen in seinem Umfeld hatten den Verdacht, der Polizist würde nur aus «taktischen Gründen» den Kontakt zu ihm suchen. Vielleicht sah die Stadtpolizei so eine Möglichkeit, Kurts juristische Massnahmen etwas abzuschwächen? «Es kann sein, dass es Impulse in die Richtung gab von ganz oben», sagt Kurt. Er glaube jedoch, dass diese Freundschaft echt gewesen sei. Den damals 30-jährigen Mann habe er als sensibel und einfühlsam erlebt.

Ein Jahr dauerte diese spezielle Freundschaft. Die beiden besuchten sogar mal gemeinsam den Gayclub «T&M», wo Kurt vor dem Unfall gefeiert hatte. Mit der Anklageschrift endete dann ihre Freundschaft. Kurts Anwälte plädierten aufgrund der Umstände auf «versuchte Tötung» und ihr Klient unterschrieb das Dokument nach langem Zögern schliesslich. «Das nahm er mir übel. Er wollte nicht mehr mit mir befreundet sein.» An dieser Haltung hat sich bis heute nichts geändert. Der Polizist wurde letztlich wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung zu einer Geldstrafe und zwei Jahren Bewährung verurteilt. «Ein Urteil, das nicht viel mehr als ein erhobener Zeigefinger war», findet Kurt.

«Dann haben die Leute wenigstens etwas Spannendes zu sehen, wenn sie eh schon drauf starren.»

Kurt von Allmen

Ein erhobener Zeigefinger für etwas, das ihn täglich vor Herausforderungen stellt. In seiner Wohnung ist Kurt mit Krücken unterwegs, das sei einfach praktischer. Mit seiner Tagesprothese unternimmt er gar nicht erst den Versuch, ein «richtiges Bein» aus Fleisch und Blut vorzutäuschen. Die Mechanik ist sichtbar. «Dann haben die Leute wenigstens etwas Spannendes zu sehen, wenn sie eh schon drauf starren.»

Beverly darf perfekt sein Aber Kurts Beine sind auch die Beine von Beverly Stardust. Mit seiner glamourösen Kunstfigur begeistert er seit vielen Jahren das Publikum von Privat- und Firmenanlässen. Und Beverly hat natürlich zwei wunderschöne, lange Beine. «Nach dem Unfall dachte ich, dass ich meine Travestiekunst ad acta legen muss», erinnert sich Kurt. Doch auch in diesem Fall war sein Wille stärker: Nur ein Jahr später stand Beverly wieder auf der Bühne und trug eine kosmetische Prothese mit Gummihaut.

Aus Gummi scheint auch Kurts Gesicht zu sein, wenn er im Rampenlicht mit seinen Comedy-Einlagen in Fahrt kommt. «Ich kann nicht mehr so herumhüpfen wie vor dem Unfall – also arbeite ich stärker mit meiner Mimik.» Die Absätze an den High Heels mussten redimensioniert werden: fünf Zentimeter, mehr liegt nicht drin. Ansonsten ist sich Beverly treu geblieben. Beverly darf ruhig perfekt sein, Kurt indes steht zu sich und seinem physischen Makel. Er kam damit aber nicht immer gut an. Ausgerechnet aus der LGBTIQ-Community hat er phasenweise starke Ablehnung erfahren müssen, was ihn nachdenklich machte.

Kurt wünschte sich schon lange einen Partner; das oberflächliche Streben nach Schönheitsidealen und Perfektion machte ihm diese Suche nicht einfach. «Dieselben Leute, die sich Akzeptanz und Gleichberechtigung wünschen, lehnen Menschen ab, weil sie nicht ganz perfekt sind.» Das kann Kurt einfach nicht begreifen.

Gibt es denn mittlerweile diesen lang ersehnten Mann an seiner Seite? «Ja, da ist etwas im Tun», sagt er verschwörerisch. Es habe viele Jahre gedauert, aber nun sei da jemand, der ihn so akzeptiere, wie er sei. Das Ganze sei sozusagen ein «brasilianisches Wunder». Kurt muss schon wieder lachen.

«Pretty Flamingo»



Über die Geschichte von Kurt von Allmen ist gerade ein neues Buch erschienen: Der Roman «Pretty Flamingo» vermischt Fiktion mit Wirklichkeit und zeigt, wie Kurt trotz jahrelanger Streitereien mit Behörden und schmerzhaften Niederlagen nie aufgeben wollte. Gespickt mit lebhaften Anekdoten aus der Gayszene erzählt Thomy Schallenberger in seinem Debütroman ein kleines Stück Zürcher Geschichte.

«Thomy war auch derjenige, der letztes Jahr den Stein ins Rollen gebracht und mit dem Buch angefangen hat», sagt Kurt. Und weshalb ein Roman und keine Autobiografie? Das hätte sehr viel exakte Recherche erfordert und wäre auch juristisch nicht ganz einfach gewesen. Ein fiktiver Text lasse den Erzählungen mehr Spielräume. «Ohne den Anspruch, mit dem Erzählten die Wirklichkeit wiederzugeben, machen wir uns nicht angreifbar und niemand fühlt sich brüskiert.» Mehr Infos zum Buchprojekt unter: pretty-flamingo.ch.

«Pretty Flamingo – Roman nach der Geschichte des Polizeiopfers Kurt» von Thomy Schallenberger und Kurt von Allmen, erschienen 2022 bei Tredition.

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