Wer am lautesten klagt, kriegt die meiste Aufmerksamkeit?

Gendergrenzen fallen zu lassen, sollte nicht heissen, die Grenzen der gegenseitigen Achtung zu verlassen, findet unsere Autorin

Foto: Zdenek Machacek/Unsplash
Foto: Zdenek Machacek/Unsplash

Unsere Autorin sorgt sich um die Diskussionskultur in der LGBTIQ-Community. In ihrem Kommentar* erklärt sie ihren Wunsch nach einem respektvolleren Umgang und eine Absage an Mobbing und verbale Gewalt. Gewinnen könne man nur, wenn sich alle angstfrei und kontrovers auseinander- und wieder zusammensetzen können.

Wollte ich eine Überschrift für das vergangenen Jahres 2021 suchen, käme mir nur in den Sinn: «Wer am lautesten klagt, bekommt die meiste Aufmerksamkeit.» Ob Pandemie, Genderdiskussion oder andere politische Themen – es scheint in der modernen Mediengesellschaft wie in einer grossen Familie zuzugehen, in der das lauteste und umtriebigste Familienmitglied alle Aufmerksamkeit absorbiert.

Dabei geht es in den vielen Kanälen der (un)sozialen Medien längst nicht mehr um Fakten, sondern für alle anderen einzig und allein darum, diese Unruhestiftenden zufrieden zu stellen und zu beruhigen. Sie zwingen allein durch ihre Vehemenz und Lautstärke alle anderen zu einer Reaktion auf ihr Verhalten. Doch jede Bemühung, sie zu besänftigen scheint wirkungslos zu bleiben, weil diese Personen einzig und allein von der permanenten Aufmerksamkeit leben und weniger von Argumenten. Es geht ihnen darum, möglichst eindringlich und scharf die Argumente oder Mythen zu verbreiten, die wieder neue Aufmerksamkeit erregen. Immer wieder versuchen kompetente oder schlicht friedliebende Personen mit Fakten dagegenzuhalten, doch das führt meist zu noch lauteren Klagen, noch emotionaler gefärbten Opferinszenierungen und gar zu negativen Uminterpretationen der Besänftigungsversuche und oftmals finden die, die es gut gemeint haben, sich in der Ecke der Feind*innen wieder. Erschrocken über dieses Missverständnis versuchen sich die so angegriffenen mit Argumenten zur Wehr zu setzen – oftmals bis zur Erschöpfung. Das macht sie nur angreifbarer, die Unruhestiftenden aber nur stärker.

Diese Taktik finden wir inzwischen in vielen Bereichen der Mediengesellschaft wieder. Ob Impfung, Geschlechterdiskussion oder andere politische Themen – laute Stimmen mischen sich in jede Diskussion mit ihrer eigenen Agenda ein, übertönen alles, sind nie zufrieden zu stellen, nie zu überzeugen. Sie bringen ihr Thema unter emotionsgeladenen Getöse in den Vordergrund, bis sich entweder die Mehrheit und/oder andere, leisere Betroffene zurückziehen. Diese Tendenzen sehe ich in der queeren Szene ebenso.

Fakt ist, in Deutschland leben mehr als 83 Millionen Menschen. Etwas mehr als 42 Millionen davon sind Frauen. Das sind mehr als 50 Prozent der Bevölkerung. Rund 85 Prozent der Gesamtbevölkerung bezeichnet sich als heterosexuell, rund 7 Prozent als homosexuell, 5 Prozent als bisexuell und 4 Prozent geben entweder keine Angaben oder finden sich in diesen sexuellen Ausrichtungen nicht wieder (Die Zahlen schwanken immer ein bisschen je nach Statistikerhebenden und ihren Motiven). Etwas mehr als 7 Prozent rechnen sich selbst aktiv dem LGBTIQ-Spektrum zu. Das sind die Fakten, wenn es um Sexualität und Identität geht.

Kehren wir zur Überschrift «Wer am lautesten klagt, bekommt die meiste Aufmerksamkeit» zurück, so stellen wir fest, dass die Medienaufmerksamkeit sich immer weniger um die Probleme der Mehrheit von Frauen (hier ohne Stern, in bestimmten Kreisen auch cis genannt) – immerhin mehr als die Hälfte der Bevölkerung – kümmert. Dabei ist gerade im letzten Jahr der Pandemie die Belastung dieser Frauen deutlich gestiegen. Ihr Anteil an den Pflegeberufen ist überdurchschnittlich. Andere «systemrelevante Berufe“ wie Putzkräfte, Angestellte im Einzelhandel, in Arztpraxen, im Bereich Krankengymnastik und Hauspflege, als Lehrkräfte oder Erziehende sind überdurchschnittlich von Frauen besetzt und unterdurchschnittlich bezahlt.

Frauen kümmern sich immer noch häufiger um die Erziehung der Kinder – kümmern sich also gerade jetzt um Homeschooling, haben Kleinkinder zuhause. Sie sind in den meisten Haushalten nach wie vor für die Hausarbeit und das Kochen zuständig, auch wenn die Männer (hier auch ohne Stern, da mehrheitlich cis) im Homeoffice arbeiten. Frauen und Kinder sind überdurchschnittlich von Gewalt betroffen, was die übervollen Frauenhäuser beweisen. Aber all das findet wenig Erwähnung in der Öffentlichkeit. Auch die Schwierigkeiten von Schwulen und Lesben bleiben weitgehend auf der Strecke, denn viele Lesben und Schwule haben immer noch wenig Bezüge zur Ursprungsfamilie und leben häufig getrennt und vereinzelt von ihren Freund*innen-Netzwerken und vom Szeneleben, dass in Zeiten von Corona zum Erliegen gekommen ist.

Viele Lesben und Schwule arbeiten entweder in der Pflege, in der Gastronomie, im Dienstleistungsgewerbe oder als Künstler*innen. Über ihre spezielle Situation erfahre ich wenig bis nichts. Die Definition von Gender und die freie Wählbarkeit desselben ist dagegen ein dominant/laut diskutiertes Thema. Ich bezweifle nicht eine Sekunde, dass es nötig ist, auch hier Akzeptanz zu schaffen und Ausgrenzung aufzuheben. Es braucht dazu einen nachhaltigen und lautstarken Kampf. Aber stimmen noch die Proportionen? Mit einer seltsamen Vehemenz wird das Thema auch von der Politik und der Mainstream-Gesellschaft vertreten, geraten Feminist*innen, die sich um die spezifischen Themen der stillen Mehrheit Frauen kümmern, unter Verdacht, generell trans-exklusiv zu sein.

Dabei hat gerade der Feminismus und die LGBTIQ-Bewegung der Neuzeit die Geschlechterrollen und die Wahrnehmung der sozialen Gender-Rollen schon lange auf der Agenda. Die Genderforschung sollte ursprünglich frischen Wind in die Diskussion bringen, Gender als gelebtes/wahrgenommenes soziales Geschlecht sollte dekonstruiert werden, gleichgeschlechtliche Liebe von ihrem Stigma befreit werden. Es war meiner Ansicht nach nie das Ziel, danach zu suchen, in welche vorgefertigte Identitäts-Schublade Mensch passt, der passend gemacht werden soll (und für die, die in keine der beiden vorhandenen Kisten passen, eine dritte, nonbinäre Kiste zu erfinden). Vielmehr sollten menschliche Verhaltensweisen und Fähigkeiten keinem Geschlecht/Gender mehr zugeordnet werden.

Männer, die gern kochen, Ballett tanzen oder sich schminken, sollten ebenso selbstverständlich sein wie Frauen, die Flugzeuge konstruieren, Fussball spielen oder Anzüge tragen. Damit sollte vor allem auch erreicht werden, dass auch homosexuelle und bisexuelle Personen, die sich wenig in den herkömmlichen Geschlechterrollen wiederfinden, von Ausgrenzung befreit werden können. Diese Entkoppelung von Aufgaben und Geschlechterwahrnehmung ist leider weniger passiert. Vielmehr wird jetzt von einem „Gender» gesprochen, das vom «biologischen» abweichen kann. Soweit, so gut. Auch das wurde immer schon von der LGBTIQ-Szene anerkannt und politisch unterstützt.

Um aber zu beweisen, dass es diese subjektiv zum zugewiesenen Geschlecht gegenläufige Genderwahrnehmung gibt, werden als Beweis Sätze angeführt wie: «Ich wusste, dass ich ein Mädchen bin, weil ich gern mit Barbie gespielt habe und gern Röckchen trug.» Oder: «Ich wusste, dass ich ein Junge bin, weil ich schon immer mit den Jungs gespielt habe und mich für Autos interessiere.» Das sind sehr irritierende Äusserungen für gleichgeschlechtlich liebende Tunten und Butches.

Um zu beweisen, dass diese Genderwahrnehmung Realität ist, werden häufig auch Klischees ausgelebt, konservative Geschlechterrollen überkompensieren. Da posiert Mensch gern im rosa Wolljäckchen mit Eierlikörglas oder als Muskelmasse im Feinripphemd. Aber verifiziert sich Geschlecht wirklich allein über eine solche Performances? Ist die Biologie der Genitalien am Ende wirklich irrelevant? Es kommt auf die Perspektive an. Biologische Geschlechterwahrnehmung, soweit stimmen Genderforschende und Feministinnen überein, legt nach der Geburt die Sichtweise auf das Kind fest. Vom ersten Blick an auf die Vulva oder den Penis werden die Kinder unterschiedlich behandelt.

Wissenschaftlich erwiesen ist sogar, dass viele Mütter wesentlich strenger mit Mädchen umgehen, sie weniger füttern. Unbewusst ziehen die Mütter aus ihren negativen Erfahrungen mit dem Patriarchat den Schluss, dass das Mädchen mehr aushalten muss. Jungen werden immer noch in der sozialen Erziehung von den Eltern häufig zu Konkurrenz- und Leistungsspielen ermuntert. Sie lernen buchstäblich zu dominieren. Mädchen werden mehr gehalten, sich kompromissbereit und ausgleichend zu verhalten, sich an die sozialen, unbezahlten Arbeiten zu gewöhnen, die sie spielerisch in ihren Puppenküchen erlernen sollen. Sie lernen, zurückzustecken, Fehler bei sich zu suchen. Die individuellen Fähigkeiten werden demnach häufig schon früh von der Zuordnung der Geschlechter gefördert oder ausgebremst. Und diese ersten Erfahrungen prägen das Individuum stärker als die queere Forschung es vielleicht wahrhaben will. Je später also der gesellschaftliche Wechsel in das wahrgenommene Geschlecht vollzogen wird, desto prägender sind auch häufig die sozialen Einflüsse und Erfahrungen der Geschlechtererziehung.

Gehe ich also mit meinem ursprünglichen feministischen Anspruch an die Gender-Diskussion heran, Eigenschaften und Verhalten von sozial zugewiesenem Geschlecht konsequent zu trennen, so nehme ich erschreckende Phänomene im queeren Umfeld wahr. Achte ich nur auf sprachliche Dominanz, Konkurrenzverhalten und Gewalt in der Sprache, so wird es mir mulmig. Viele Angriffe, die gerade aus der genderqueeren Szene geführt werden, sind von Verachtung, Belehrung und Sprechverboten, sprich Dominanzgebaren geprägt – übrigens betrieben von allen Genderausprägungen und sexuellen Orientierungen. Die Aufhebung der Geschlechterzuordnung scheint alles zu legitimieren.

Gendergrenzen fallen zu lassen, sollte nicht heissen, die Grenzen des Respekts und der gegenseitigen Achtung zu verlassen. Vor allem Feminist*innen mit unbequemen Fragen zur Diskrepanz zwischen der queeren Theorie und der patriarchalen Praxis werden mit Hasskampagnen, Rufmord und Berufsverboten überzogen. Vergewaltigungsandrohungen und andere verbale Drohungen, Eindringen in die Privatsphäre, Drohungen gegen Angehörige und physische Gewalt auf Demos und sogar Bücherverbrennungen und Saalerstürmungen mit Baseball-Schlägern haben Einzug in die Szene gehalten. Das erscheint mir, neben der eher als toxisch männlich bekannten Vorgehensweise, auch diktatorischem Vorgehen zu ähneln.

In den 80er und 90er Jahren waren es gerade die lesbischen, bisexuellen, transidentischen und schwulen Zusammenhänge, die sich mehr oder weniger erfolgreich von dieser toxischen Männlichkeit befreit haben. Diskussionen über die Unterschiede im schwulen, bisexuellen, transidentischen und lesbischen Leben wurden in der Sache hart, aber in der Praxis solidarisch gegenüber der Mainstream-Gesellschaft geführt. Vielleicht empfinde ich deshalb die aktuellen gewaltbereiten und unsolidarischen Verhaltensweisen als besonders bedrohlich. Dabei werden immer neue sprachliche Varianten gesucht, um das Wort Frau inklusiv zu gestalten – ein im Ansatz richtiger Anspruch. Wortschöpfungen wie FLINTA* sollen Frauen mit allen Minderheiten jenseits von „Cis-Mann» zusammenbringen. Dass dabei über die Hälfte der Bevölkerung ihre Sichtbarkeit verliert und auch schwule Männer in ihrer spezifischen Situation unsichtbar werden, scheint den Fordernden nicht einmal mehr aufzufallen.

Paradoxerweise bleibt Mann als Alleinstellungsmerkmal immer noch unangefochten bestehen. Dabei haben gerade die Begriffe Mann und Frau eine sehr unterschiedliche soziale und politische Geschichte. Frauen waren de facto Jahrhunderte lang nicht sichtbar und rechtlos. Sie verloren ihren eigenen Nachnamen, wenn sie heirateten, waren erst Besitz des Vaters und dann des Ehemannes. Ihre sozialen, wissenschaftlichen und historischen Leistungen werden oft in den Geschichtsbüchern verschwiegen. Als Frauen brauchen wir sprachliche Autonomie, um zu verdeutlichen, dass wir die grösste Gruppe in der Gesellschaft sind und dennoch wie eine Minderheit behandelt werden.

Andere Minderheiten bekommen aber aktuell ihre Sichtbarkeit über die Unsichtbarmachung von Frauen. Inkludieren wir alle Geschlechter und sexuellen Orientierungen bis auf die cis-männliche Identität in diese Weiblichkeit, werden Frauen wieder ihrer Autonomie beraubt und zu Kümmernden für alle anderen Menschen, die von der Dominanz der Männer an den Rand gedrängt werden.

Wollen wir allen Minderheiten gerecht werden, ohne die Frauen wieder aus der sprachlichen Realität zu löschen, müssen wir alle Gruppen eigenständig titulieren. Das gilt auch für die Minderheit der transidentischen/transgender Frauen. Ihren oft langen Weg bis zu ihrer endgültigen Identität, ihre persönlichen Erfahrungen und Verletzungen und auch ihre unterschiedliche Sozialisation kann und darf nicht verschwiegen werden. Ihre Biografie hinterlässt auch bei ihnen Spuren – ebenso wie es die Biografien bei anderen Frauen, die intersektionell diskriminiert werden wie z. B. schwarze Frauen, behinderte Frauen, jüdische Frauen und Frauen aus anderen Ländern. Eine Egalisierung um jeden Preis wird keiner Gruppierung gerecht.

Die Probleme, Bedrohungen und vor allem Unterschiede der Gesamtheit der Frauen darf nicht unter dem Schirm einer Minderheitenwahrnehmung verschwinden. Frauenleben sind geprägt von struktureller Benachteiligung, permanenter geschlechtsspezifischer Gewaltandrohung, von Dominanzgehabe und Demütigung durch Männer. Im Jahr 2021 haben laut „One Billion Rising“ 218 Männer ( Ehemänner, (Ex)partner, Väter, Söhne, Brüder, Nachbarn…) bereits 104 Frauen und 23 Kinder (davon 16 Mädchen, 6 Jungen und 1 Baby) (Stand 19.9.21) getötet. Die Dunkelziffer ist dabei noch nicht eingerechnet. Dies zu erwähnen darf nicht unter den Tisch fallen. Die hohe Suizidgefahr und auch Bedrohungen bei trans Frauen ebenso wenig. Sich mit jeweils einem der Probleme und ihren Ursachen temporär zu beschäftigen, heisst nicht automatisch, die Probleme der anderen Seite kategorisch auszuschliessen.

Kehren wir zur Jahresüberschrift zurück. Während Etats für Frauen*projekte gestrichen werden, manche Projekte von Frauen* und Lesben unter dem Verdacht, transfeindlich zu sein, in ihrer Existenz bedroht werden, Feminist*innen, die spezifische Frauenthemen öffentlich ansprechen, als TERF und/oder rechts mundtot gemacht werden, scheint die Politik sich wenig für die zunehmend prekäre Situation von Frauen zu interessieren. Ich bin ohne Abstriche für ein menschenwürdigeres Anerkennungsverfahren für Menschen mit Gender Dysphoria (das sollte aber auch für alle anderen Anerkennungsverfahren von abweichenden Lebensbedingungen gelten).

Als Frau und Feministin kann ich aber nicht aufhören, die Probleme für Frauen* in dieser Gesellschaft aufzuzeigen, die trans Frauen mal mehr oder auch mal weniger betreffen. Dabei muss es möglich sein, dies auch manchmal ohne die spezifische Situation einer deutlich kleineren Gruppe von trans Personen zu benennen, ohne gleich um meinen gesellschaftlichen Ruf, meine physische und psychische Gesundheit oder meinen Lebensunterhalt fürchten zu müssen. Proportionen, Statistik und Wahrnehmung sind für mich relevant. Ich will unter einem Beitrag zur prekären Situation von Hebammen und gebärenden Frauen keine endlose Diskussion lesen müssen, ob ich schwangere Frauen aus Inklusionsgründen zu «Personen mit Uterus» machen soll, denn die schwangeren Frauen und die Hebammen sind in dieser Situation, WEIL sie Frauen sind und für Frauen und ihre spezifischen Bedürfnisse weniger Geld lockergemacht wird, der typische Frauenberuf Hebamme unterbezahlt ist. Eine «Person mit Uterus» wäre nur eine Gebärmaschine ohne die komplexen historischen, medizinischen und sozialen Probleme von Frauen, um nur ein Beispiel zu nennen. Ein Hinweis darauf, dass es auch trans Männer gibt, die ein Kind zur Welt gebracht haben, ändert nichts an der Gesamtsituation für die überwältigende Mehrheit der anderen Frauen.

Um zur Überschrift «Wer am lautesten klagt, bekommt die meiste Aufmerksamkeit» zurückzukehren: Eine Gleichbehandlung kann nur der bzw. die* fordern, der bzw. die auch Raum und Platz lässt, andere Probleme im Einzelnen ansprechen zu können. Immer mehr Frauen, Lesben, Bisxuelle und Schwule in eine schweigende Mehrheit zu drängen, die sich fürchtet die eigene Agenda zur Sprache zu bringen, wird die Probleme jeder einzelnen Gruppe nicht lösen, aber Wut und Frust auf die Unruhestiftenden fördern. Im schlimmsten Falle führt es dazu, dass sich die Angegriffenen generell nicht mehr mit der Situation von trans Personen auseinandersetzen wollen. Das würde aber den trans Frauen und trans Männern schaden, die sich an den lautstarken Hetzkampagnen gar nicht beteiligt haben. Gewinnen können wir alle nur, wenn wir uns alle angstfrei und kontrovers auseinander- und wieder zusammensetzen können.

Niemand gewinnt innerhalb der LGBTIQ-Communitiy, wenn wir alle Probleme und Unterschiede ständig miteinander vermischen und versuchen, uns gegenseitig niederzuschreien. Dann gibt es nur einen Gewinner – die Mainstreamgesellschaft, die sich über das Gezänk lustig machen kann. Als Lesbe teile ich nicht alle Erfahrungen einer Hetera oder einer trans Frau egal welcher sexuellen Orientierung, als Frau teile ich noch weniger Erfahrungen von Schwulen und Heteros oder trans Männern. Aber ich kann mich aufmerksam und politisch loyal verhalten. Die AIDS-Krise, die Schwule, Lesben und Bisexuelle politisch und persönlich zusammengebracht hat, ist ein Beweis für die Schlagkraft, die wir haben, wenn wir solidarisch handeln. Die Bedingungen für alle Identitäten und sexuellen Orientierungen in ihrer Unterschiedlichkeit zu verbessern, das ist ein gutes Ziel. Und das gelingt nur, wenn wir Unterschiede nicht einebnen, Sprechverbote verhindern und Mobbing bekämpfen.

Ich wünsche mir also für 2022 realistischere Diskussionen, weniger Rufmord, weniger verbale und/oder physische Gewalt. Ich wünsche mir ebenso, dass wir wieder aushalten, unterschiedlicher Meinung zu sein.

*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

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