«Wenn du nicht tot bist, nachdem du vom Gebäude geworfen wurdest, wirst du von der Bevölkerung gesteinigt.»

Als schwule Männer in Syrien vermehrt zur Zielscheibe von Extremistengruppen werden, beschliesst Subhi Nahas die Flucht. Über den Libanon und die Türkei kommt er in die USA. Und spricht vor dem UNO-Sicherheitsrat in einer ersten Anhörung zum Thema Terror gegen LGBT-Menschen.

In der Redaktion der Mannschaft haben schon lange alle Feierabend gemacht, als Subhi Nahas scheu lächelnd den Skype-Anruf entgegennimmt. In San Francisco ist es jetzt neun Uhr morgens und er ist soeben in den Büros von ORAM angekommen. Hier arbeitet der 28-jährige Syrer, seit er von den USA in ihrem Neuansiedlungsprogramm aufgenommen wurde. ORAM steht für «Organization for Refuge, Asylum & Migration» und setzt sich als weltweit einzige Organisation ausdrücklich für LGBT-Menschen auf der Flucht ein.

Bescheiden erzählt Subhi von seinem grossen Auftritt vor dem UNO-Sicherheitsrat Ende August. Die Anhörung wurde von LGBT-Organisationen weltweit als historischen Schritt bejubelt, war es doch das erste Mal, dass sich der Sicherheitsrat den Themen LGBT-Rechte und Terror gegen LGBT-Menschen annahm.

«In der 70-jährigen Geschichte der UNO war es höchste Zeit, dass das Schicksal von LGBT-Menschen, die weltweit um ihr Leben fürchten, ins Rampenlicht gerückt wird», sagte US-Botschafterin zur UNO Samantha Powers am Tag der Anhörung vor den versammelten Medien.

Emanzipation durchs Internet Der Zeitpunkt der Anhörung zeigt die Dringlichkeit der Situation. Nur Tage zuvor hatte sich der Islamische Staat IS zur Hinrichtung von 30 Menschen bekannt, die der Sodomie angeklagt worden waren.

«Bei den Hinrichtungen jubeln Hunderte Stadtbewohner, einschliesslich der Kinder, als wäre man an einer Hochzeit», erzählt Subhi. «Und wenn du nicht tot bist, nachdem du vom Gebäude geworfen wurdest, wirst du von der Bevölkerung gesteinigt. Das wäre auch mein Schicksal gewesen.»

Die Ansprache vor dem UNO-Sicherheitsrat war für Subhi eine stärkende Erfahrung. Obwohl die Teilnahme für die Mitgliedstaaten nicht obligatorisch war, wohnten unter anderem auch Russland, Nigeria und Jordanien der Anhörung bei. Die Vertreter von Tschad und Angola erschienen jedoch nicht.

Subhi ist zierlich gebaut und spricht leise, jedoch mit bestimmter Stimme und einem gepflegten Englisch. Er wächst in der kleinen Stadt Idlib in einer «respektvollen, aber konservativen» Familie nahe der türkisch-syrischen Grenze auf. Als Kind unterscheidet er sich von den anderen. Man hänselt ihn, will nicht mit ihm spielen. Dass er anders ist, billigen die Eltern nicht und schicken den 15-jährigen Sohn zum Psychologen. Dieser nutzt das Vertrauen des jungen Mannes aus und outet ihn bei seinen Eltern. Er rät ihnen einen strengen Umgang, um seine Sexualität in den Griff zu bekommen.

Dass Homosexualität eine perverse Krankheit ist, glaubt Subhi nicht. Das Internet eröffnet ihm eine neue Welt. Er erfährt, dass es andere Menschen gibt, die so denken und fühlen wie er, und dass sie in gewissen Ländern Rechte geniessen. In seiner Freizeit engagiert sich Subhi für ein arabisches Schwulenmagazin.

In einen Wald verschleppt Homosexualität war in Syrien nie ein Thema, auch vor Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 nicht. Sexuelle Handlungen unter gleichgeschlechtlichen Menschen waren illegal und unter keinen Umständen zu billigen. Die Polizei konnte Menschen aus irgendwelchen Gründen verhaften, belästigen oder angreifen. Dabei spielte es keine Rolle, wie man sich kleidete, wie man sprach oder wie man sich bewegte. Auch nicht, ob man überhaupt schwul war.

Nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs lanciert die Regierung eine Anti-LGBT-Kampagne im Fernsehen. Parks und Cafés, die als beliebte Treffpunkte der Community gelten, werden geräumt. Einige Personen werden verhaftet und gefoltert, andere verschwinden spurlos.

Als 2012 die al-Nusra-Front, ein Ableger der al-Qaida, die Kontrolle über Idlib gewinnt, verschlimmern sich die Umstände für LGBT-Menschen. Die Islamistengruppe statuiert ein Exempel an einem schwulen Mann und verkündet, die Stadt «von Sodomiten zu reinigen». Die Streifzüge nehmen zu, wer während der Folter seine Sünden gesteht, wird umgebracht.

Mittlerweile studiert Subhi englische Übersetzung an der lokalen Universität. Eines morgens, als er sich auf dem Weg zu den Vorlesungen befindet, wird er an einem Checkpoint aufgegriffen. Zusammen mit anderen Studenten wird Subhi zu einem abgelegenen Haus in einem Waldstück gefahren.

«Man sah sofort, dass andere Leute schon dort gewesen waren. Überall waren Blut und Flecken zu sehen. Es war furchteinflössend», erzählt Subhi. Den Extremisten fällt auf, dass Subhi sich von den anderen unterscheidet. Während sie die anderen freilassen, behalten sie ihn zurück und befragen ihn weiter. Sie wollen wissen, weshalb er anders spricht und läuft. Während dreissig Minuten beschimpfen und schlagen sie ihn.

«Ich hatte Angst, dass einer – oder alle – mich vergewaltigen und dann umbringen würden», erinnert sich Subhi. Wie durch ein Wunder lassen sie ihn wieder frei. Warum, weiss er bis heute nicht.

Subhi Nahas am Tag seiner Anhörung vor dem UNO-Sicherheitsrat. (Bild: Michelle Nichols)
Subhi Nahas am Tag seiner Anhörung vor dem UNO-Sicherheitsrat. (Bild: Michelle Nichols)

Im Taxi über die Grenze Von nun an bleibt Subhi zu Hause. An die Uni zu gehen wäre ein zu grosses Risiko für ihn. Doch auch zu Hause fühlt er sich nicht sicher. Sein Vater beobachtet ihn auf Schritt und Tritt und lässt seine Wut an ihm aus. Als Subhi eines Tages spät nach Hause kommt, eskaliert die Situation. Sein Vater packt ihn am Kopf und rammt ihn in die Glaskeramik der Küchentheke.

Subhi zeigt auf die kleine Narbe am Kinn, die ihn für immer an diesen Abend erinnern wird. Die gewalttätige Auseinandersetzung mit dem Vater animiert ihn zur Flucht. Mithilfe eines Freundes im Libanon organisiert er ein Taxi, dass ihn von Idlib über die Grenze ins knapp 350 Kilometer entfernte Beirut bringen soll.

Der Taxifahrer ist eingeweiht und erhält strikte Anweisungen, die Formalitäten an der Grenze für Subhi zu erledigen. «Damit ich aufgrund meiner Art zu sprechen und zu gehen nicht wieder zur Zielscheibe werde», sagt er.

Die Flucht läuft wie geschmiert und Subhi findet Zuschlupf in einem Safe-House für LGBT-Menschen in Beirut. Während sechs Monaten versucht er Arbeit zu finden und schreibt vereinzelt wieder Texte für diverse LGBT-Magazine.

Drohungen vom IS Es ist März 2013, als sich Subhi entschliesst, in die Türkei weiterzuziehen. Er engagiert sich für diverse Organisationen, macht Übersetzungsarbeit und schreibt weiterhin für LGBT-Magazine. Er lernt die Arbeit von ORAM kennen und wird zu einem selbstbewussten Aktivist.

«Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich nicht mehr allein», erinnert sich Subhi. «Ich war umgeben von leidenschaftlichen Aktivistinnen und Aktivisten, die sich um mich und meine Freunde sorgten und uns beschützten wollten.»

Doch die gefühlte Sicherheit währt nicht lange. Subhis LGBT-Aktivismus zieht die Blicke des Islamischen Staats IS auf ihn. Ein Bekannter aus seiner Heimatstadt Idlib, der sich der Extremistengruppe anschloss, erzählt einem gemeinsamen Freund, dass er Subhi umbringen werde. Über sein Handy erhält er einen Drohanruf von einer türkischen Nummer. «Du weisst schon, wer wir sind», sagt ihm eine männliche Stimme. Er erkennt seinen Bekannten aus Idlib. Bis zu dreissig Anrufe erhält Subhi pro Tag, die er alle ignoriert. Zur selben Zeit wird er von seiner Familie in Syrien kontaktiert. Er solle doch nach Hause kommen. «Ich wusste nicht, ob sie mit dem IS kooperierten, oder ob er sie unter Druck gesetzt hat. Ich wusste nur, dass ich nicht mehr sicher war», sagt Subhi. «Ich war verängstigt, denn in der Türkei können sich IS-Anhänger frei bewegen.» Eine Freundin bringt Subhi in ein Safe-­House. Zu diesem Zeitpunkt wird er vom Hochkommissariat für Menschenrechte UNHCHR als Flüchtling anerkannt und Subhi kann auf die Aufnahme in ein Neuansiedlungsprogramm warten.

«Die Türkei wird von Tag zu Tag unsicherer für LGBT-Menschen.»  Im Juni 2015, zwei Jahre nach seiner Ankunft in der Türkei, beginnt Subhi sein neues Leben in den USA. Für ihn ist klar, dass er sich weiterhin für LGBT-Flüchtlinge engagieren will. Bei ORAM arbeitet er als Übersetzer, Grafiker und als Systemadministrator.

«In der Türkei gibt es mindestens 400 weitere syrische LGBT-Flüchtlinge, die auf eine sichere Weiterreise in einen Drittstaat warten», sagt Subhi. «Die Türkei wird von Tag zu Tag unsicherer für LGBT-Menschen.»

Subhi pflegt regelmässigen Kontakt zu seinen Freunden in der Türkei. Einige schickten ihm Fotos von Körperstellen, die während dem Polizeiangriff an der Istanbul Pride von Gummischrot getroffen wurden. Andere werden regelmässig Opfer von verbaler oder körperlicher Gewalt. Ein Aktivist wurde sogar in seiner Wohnung überfallen und vergewaltigt.

«Meine Freunde fühlen sich einsam und haben Angst vor dem, was ihnen passieren könnte. Es ist dieselbe Einsamkeit und Angst, die ich einmal gefühlt habe», sagt Subhi. Bei ORAM könne er sich dafür engagieren, dass Flüchtlinge einen sicheren Ort und eine neue Heimat finden. «Wir können nicht viel machen, um die Umstände von LGBT-Menschen in Syrien, im Irak oder anderen Ländern zu verbessen. Aber wir können denjenigen helfen, denen die Flucht gelungen ist.»

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