Vorschnell abgestempelt: Eine Lehre vom Wochenendausflug
Anastasia Biefang über Vorurteile in Sachsen-Anhalt
Kurz vorm Feldzug der queer-feministischen Gerechtigkeit: Wie eine übereilte Reaktion auf eine Zeitungsüberschrift eigene Vorurteile offenbarte. Ein Kommentar* von Anastasia Biefang.
Es ereignete sich an einem Wochenendausflug aufs Land nach Sachsen-Anhalt. Beschauliche Landschaften, ein abgelegener Ort inmitten von Wiesen und Wäldern und ein wunderschön umgestalteter Hof für entspannende Wochenendaufenthalte.
Genau das Richtige für mich und ein paar meiner queeren Freund*innen, die gerade nach der «intensiven» Berliner Pride-Saison einfach mal der Stadt entfliehen wollten. Wir hingen im grossen Garten des Hofes ab, führten seit Stunden tiefe und schöne Gespräche miteinander. Endlich hatten wir dafür Zeit. Zeit zum «Deeptalk», Zeit zur Reflexion.
Misogyn, toxische Männlichkeit, frauenverachtend, Stereotypisierung von Geschlecht
«Sportliche Puppe kündet von der»: Das waren die ersten Worte der Überschrift auf der Titelseite des lokalen Wochenspiegels in Sachsen-Anhalt. Es waren nur ein paar Worte, aber sie reichten aus. Die letzten Worte der Überschrift hatten wir gar nicht mehr gelesen. Wir waren bereits in Rage. Misogyn, toxische Männlichkeit, frauenverachtend, Stereotypisierung von Geschlecht. Das waren unsere ersten Reaktionen auf diese «unsägliche» Überschrift.
Aber was, so sinnierten wir weiter, ist hier auf dem Land schon anders zu erwarten? Im tiefen Osten der Republik, abseits des freiheitlichen und fortschrittlichen Berlins. Wir erzürnten uns an der Überschrift, sahen uns in unseren Ansichten bestätigt und waren gefühlt kurz davor? die lokale Redaktion zu belagern oder gleich in Schutt und Asche niederzubrennen. Wir fühlten uns elitär und gerecht in unserem Urteil.
Dann aber klappte die Zeitung auf und gab den Blick auf das Titelbild frei. Und wir verstummten. Es war eine Puppe zu sehen, eine Schaufensterpuppe sportlich gekleidet in einem Kampfsportanzug. Nicht mehr, nicht weniger. Die Überschrift war pure Sachlichkeit und beschrieb ganz korrekt das Bild.
Und wir, die sich bis eben noch ereifert hatten und den Feldzug der queer-feministischen Gerechtigkeit schon lostreten wollten, sahen uns kleinlaut und getroffen an. Unsere Stimmen verstummten. In dem Moment wussten wir alle sofort, dass wir nur von unseren Vorstellungen im Kopf geleitet worden waren, von unseren eigenen Vorurteilen. Wir gaben der Zeitung – im weitesten Sinne – nicht die Zeit, in Ruhe zu Ende zu kommunizieren. Wir haben sie nicht aussprechen lassen, sondern hatten unser kollektives Urteil bereits gefällt.
Die Erfahrung machte uns demütig, zumindest für den Moment. Sie war auch zugleich Mahnung, sich nicht nur des eigenen Standpunktes zu vergegenwärtigen, sondern auch die eigenen Urteilsmechanismen zu hinterfragen. Die flüchtig gelesene Überschrift in Verbindung mit dem Ort, an dem wir waren, hatte unser Bild gefestigt und schnell ein Urteil fällen lassen. Es gab keinen Raum für eine «Aussprache». Wir grätschten gleich emotional und wertend rein, vorschnell und falsch.
Wir sprachen noch lange an diesem Tag über diese Erfahrung. Sie stimmte uns nachdenklich. Denn im Grunde ist das die Erfahrung, die wir als queere Menschen und Aktivist*innen in der Öffentlichkeit auch machen. Wir wollen angehört werden und wir wollen ausreden. Wir wollen nicht abgestempelt werden aufgrund von Vorurteilen, sondern wir wollen wahrgenommen werden in unserer Gesamtheit. Und das fordern wir auch ein. Vergessen wir nicht, dies auch anderen zu gewähren. Wir sind nicht unfehlbar.
Die trans Perspektive
Anastasia Biefang war die erste trans Kommandeurin der deutschen Bundeswehr und Protagonistin des Films «Ich bin Anastasia». Sie wohnt in Berlin.
[email protected] Illustration: Sascha Düvel
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