«Ungarn keine Demokratie mehr» – EU droht mit Kürzung von Milliarden
Die rechtspopulistische FPÖ spricht von einer «Hexenjagd»
Jährlich kassiert Ungarn Milliarden aus dem EU-Haushalt. Zugleich sieht die EU-Kommission die Gefahr von Vetternwirtschaft in dem Land. Deshalb dürfte die Behörde schon bald einmalige Vorschläge machen. EU-Abgeordnete warnen jedoch vor einem Deal mit Budapest.
Ungarn droht wegen weit verbreiteter Korruption in dem Land und anderer Verstösse gegen den Rechtsstaat die Kürzung von EU-Mitteln in Milliardenhöhe. Einen entsprechenden Vorschlag an die Mitgliedstaaten könnte die EU-Kommission von Ursula von der Leyen am Sonntag beschliessen, wie die Deutsche Presse-Agentur in Brüssel aus EU-Kreisen erfuhr. Es wäre das erste Mal, dass die Behörde wegen rechtsstaatlicher Verstösse die Kürzung von EU-Mitteln vorschlägt.
Die EU-Kommission bemängelt schon lange weit verbreitete Korruption in dem seit zwölf Jahren von Ministerpräsident Viktor Orbán regierten Land. In einem Bericht vom Juli ist die Rede von «einem Umfeld, in dem die Risiken von Klientelismus, Günstlings- und Vetternwirtschaft in der hochrangigen öffentlichen Verwaltung nicht angegangen werden». In einem anderen Dokument der Behörde werden vor allem Defizite in der öffentlichen Auftragsvergabe kritisiert. Es gebe «schwerwiegende systembedingte Unregelmässigkeiten, Mängel und Schwachstellen in den öffentlichen Vergabeverfahren». Es folgt eine lange Liste weiterer Mängel.
Monika Vana, Delegationsleiterin der österreichischen Grünen im Europaparlament, über die Bedeutung des Berichts: «Der Bericht, der die demokratische Entwicklung 2018-2022 in Ungarn untersucht hat, ist eindeutig: Ungarn ist keine Demokratie mehr, sondern ein ,hybrides Regime‘ – und fehlende Massnahmen von Seiten der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates haben dazu beigetragen. Als Europaparlament fordern wir seit Jahren, dass bei Werteverletzungen wie Rechtsstaatlichkeit EU-Gelder so rasch wie möglich eingefroren werden müssen. Viel zu lange haben Kommission und Rat die Situation schöngeredet und nicht oder nur halbherzig gehandelt – und damit eine mittlerweile alarmierende Situation für ungarische Bürger:innen geschaffen.»
Die Rechte der LGBTIQ-Community werden durch staatlich organisierte Desinformations-Kampagnen systematisch beschnitten
Der ungarische Innenminister Sandor Pinter hat diese Woche verkündet, dass ab heute, 15. September 2022, Schwangere sich die Herztöne des Embryos vor einem Schwangerschaftsabbruch anhören müssen: «Das ist eine weitere, unfassbare Schikane Viktor Orbáns gegen Frauen. Auch die Rechte der LGBTIQ-Community werden durch staatlich organisierte Desinformations-Kampagnen systematisch beschnitten (MANNSCHAFT berichtete). Die Zerschlagung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit steht ganz oben auf Orbans politischer Agenda, dafür nimmt er Menschenrechtsverletzungen, die Einschränkung der Grundrechte und systematische Diskriminierung in Kauf», kommentiert Vana.
Die Situation in Ungarn hat sich seit 2018, als das Europaparlament das Verfahren nach Artikel 7 ausgelöst hat, trotz mehrerer Anhörungen im Rat verschlechtert. „Das Europaparlament fordert in dem Bericht, dass der Rat alle neuen Entwicklungen berücksichtigt und an Ungarn gerichtete Empfehlungen annimmt. Die Europäische Kommission darf EU-Gelder erst dann genehmigen, wenn die Regierung alle länderspezifischen Empfehlungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit in vollem Umfang erfüllt und alle einschlägigen Urteile des Europäischen Gerichtshofs umgesetzt hat – darüber hinaus muss bei missbräuchlicher Verwendung von EU-Geldern rasch sanktioniert werden», so Vana abschliessend.
Als «Schande» bezeichnete dagegen der FPÖ-Delegationsleiter im Europäischen Parlament, Harald Vilimsky, die Annahme des Berichts über angebliche Verstösse gegen die Rechtsstaatlichkeit. «Die allgemeine Situation der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn wird in diesem Bericht angeprangert, ohne jedoch konkrete Verstösse zu belegen», kritisierte Vilimsky. Seiner Ansicht nach handle es sich vielmehr um ein Politikum, insbesondere nachdem Ministerpräsident Viktor Orbán durch demokratische Wahlen wiedergewählt wurde. «Die politische Hexenjagd, die in Brüssel mittlerweile alles verurteilt, was nicht ihrem ideologischen Weltbild entspricht, geht weiter», meinte der Europaabgeordnete.
Als «unfassbaren Affront gegenüber der ungarischen Bevölkerung und illegitime Einmischung in interne Angelegenheiten eines souveränen Staates» bezeichnete der FPÖ-Abgeordnete Christian Hafenecker die Entschliessung des Europäischen Parlaments.
Es besteht noch immer die Möglichkeit für einen Kompromiss mit Budapest. Im Europaparlament, das Ungarn in einem Beschluss vom Donnerstag absprach, noch eine vollwertige Demokratie zu sein, wird deshalb befürchtet, dass das Geld letztlich doch fliessen wird. Dabei betonte Kommissionschefin von der Leyen noch am Mittwoch, entschieden gegen Korruption vorgehen zu wollen. Dabei erwähnte sie auch den Rechtsstaatsmechanismus, der den Missbrauch von Geld aus dem EU-Haushalt verhindern soll. Ungarn ist bislang das einzige Land, gegen das ein Verfahren nach dem Mechanismus läuft.
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