Es wird besser – CSD-Premiere in der Heimatprovinz!
Wenn plötzlich dort Pride gefeiert wird, wo man sie am wenigsten erwartet
Unser Autor ist vor über 30 Jahren aus der niedersächsischen Stadt Gifhorn geflohen. Einen unschwuleren Ort konnte er sich bis heute nicht vorstellen. Nun wird dort Christopher Street Day gefeiert. Warum ihn das begeistert, schreibt er in seinem Kommentar*.
Jedes Mal verschwimmt der Bildschirm vor meinen Augen, wenn ich das lese: Christopher Street Day in Gifhorn. Zwei Konzepte, die eigentlich nicht zusammen passen und die mein Hirn partout nicht zusammen bringen will.
Aber nun ist es soweit, am Samstag, um genau zu sein: Gifhorn erlebt den 1. Christopher Street Day. Wer Gifhorn nicht kennt, keine Sorge: Das geht vielen so. Vielleicht haben die einen schon mal vom Internationalen Mühlenmuseum gehört, das dort mit Exemplaren u.a. aus Griechenland und Portugal lockt; die anderen kennen Gifhorn als Autobahnabfahrt, wenn sie zwischen Berlin und Hannover unterwegs sind.
Gifhorn ist eine Kreisstadt im gleichnamigen Landkreis und liegt im ehemaligen Zonenrandgebiet, «heute im Herzen Deutschlands», wie man so sagt. Bis zur innerdeutschen Grenze – Helmstedt/Marienborn war der grösste und bedeutendste Grenzübergang während der deutschen Teilung – waren es nur gut 50 Kilometer.
Bis zu einem Leben als offen schwuler Mann war es gefühlt viel weiter, damals erschien es mir (Jahrgang 1971) unendlich weit weg. Dort, in der 43’000-Leute-Stadt wurde ich beleidigt, weil ich in der Innenstadt eine sonnengelbe Jeanshose trug. In der 5. und 6. Klasse riefen die Jungs mir «Mädchen» nach, weil ich stets nur in Gesellschaft von ebensolchen anzutreffen war. Ich wurde verprügelt, weil ich – als einziger Junge – Mitglied einer Jazztanz-Gruppe war. Anderssein, das war damals hochverdächtig.
In diesem Gifhorn bin ich geboren und aufgewachsen, jeweils ungefragt. Mit 16 entdeckte ich die schwule Szene Braunschweigs, die damals recht lebendig war (was man von der Anbindung meiner Heimatstadt mit Bus und Bahn nicht behaupten kann), mit einschlägigen Bars, einem Club und einer Coming-out-Gruppe.
Queere Wespen – Wir stechen zurück!
Ja, Grossvater erzählt von früher. Ich höre ja schon auf. Denn dieses «früher» ist vorbei. Dieses hoffnungslos heteronormative Kaff Gifhorn ist seit ein paar Jahren ein anderes. Es gibt dort seit bald vier Jahren offiziell eine queere Anlaufstelle, gegründet im Jahr 2019, ausgerechnet (und garantiert ohne jede Absicht) an meinem Geburtstag. Eine Gruppe für Jugendliche und junge Erwachsene, die sich «Queere Wespen» nennt, auch einen hübschen Slogan hat man sich verpasst: «Wir stechen zurück!».
Zu den Treffen kommen immer 10 bis 15 Leute, hat mir Dominik Ruder erzählt, der die Gruppe damals ins Leben gerufen hat. Jeden Monat gibt es ein Dutzend Gruppenangebote.
«Queers und Eltern sind froh, dass es uns gibt», sagt er mir am Telefon. Das glaube ich sofort. Froh, das bin ich auch. Wer heute in Gifhorn sein Coming-out als schwul, lesbisch, trans oder nicht-binär hat, findet vor Ort andere Queers, wird beraten, aufgebaut, wertgeschätzt. Das ist toll!
Darum: Ja, es wird besser. Auch wenn die aktuellen Umfragewerte der AfD auch mich besorgen und man noch nicht abschätzen kann, in welche Richtung Friedrich Merz seine CDU treibt. Ebenfalls aus Gifhorn kommt übrigens Stefan Marzischewski-Drewes, er ist Arzt und sitzt seit letztem Herbst der AfD-Landtagsfraktion in Hannover vor. Bei der letzten Wahl verbesserte sich die ebenso homo- wie transfeindliche Partei, die sich gegen «Gender Mainstreaming und sexuelle Vielfalt» ausspricht, auf über 10 % – mit Gummibärchen als Wahlgeschenk, die die Form roter Penisse hatten (MANNSCHAFT berichtete).
Aber die AfD ist für Queers nicht das einzige Problem: Gifhorn hat eine grosse russisch-orthodoxe Gemeinde. Kürzlich erst hat eine der Freikirchen eine Jugendliche rausgeworfen, die sich als lesbisch geoutet hatte, erzählt Ruder.
Seit 2021 gibt es das Queere Netzwerk Gifhorn, dessen Leitung Ruder innehat, der als Lehrer an einer Hauptschule im 15 Kilometer entfernten Meinersen unterrichtet. Nun also der nächste Höhepunkt: Das Queere Netzwerk lädt zum Christopher Street Day. Ja, in Gifhorn. Es ist nicht die erste Kleinstadt mit eigenem CSD. Im sächsischen Pirna, das noch ein paar tausend Einwohner*innen weniger hat, wird schon länger CSD gefeiert – der regelmässig angefeindet wird (MANNSCHAFT berichtete). Noch mal kleiner ist Wernigerode, die Stadt im Harz, wo kürzlich erstmals eine Pride stattfand, unter wirklich hässlichen Anfeindungen (MANNSCHAFT berichtete).
Es ist eine tolle Entwicklung, dass sich queere Infrastrukturen auch in der Provinz entwickeln. Wer mag, ersetzt Gifhorn einfach durch andere Städtenamen wie Eisenstadt in Österreich, wo letztes Jahr erstmals Pride gefeiert wurde und vergangenen Juni gleich nochmal – eine Stadt mit nur 15’000 Einwohner*innen (MANNSCHAFT berichtete). Den Ehrenamtlichen, die sich da wie dort für LGBTIQ einsetzen, gebührt Dank und Anerkennung. Auf Sichtbarkeit folgen immer auch Gegenreaktionen, wie es die Mitglieder der Queeren Netzwerks beim Gifhorner Schützenumzug erlebt haben, an dem sie als Verein teilgenommen haben und ausgelacht wurden.
Gifhorn lädt zum Christopher Street Day. Ich bin betrübt, dass ich nicht mitdemonstrieren kann. Hochzeitsverpflichtungen. Sonst würde ich mir sofort eine neue knallgelbe Jeanshose kaufen (die von damals passt natürlich nicht mehr) und zusammen mit den anderen Wespen zurückstechen.
* Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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