Jung, frei, queer: Offene Gesellschaft auf der Suche nach der Zukunft
Als hochrangige Bundeswehr-Kommandeurin bekam sie wegen ihres Tinder-Profils einen Verweis: Anastasia Biefang klagte sich durch die Instanzen und bleibt zuletzt auch am Bundesverfassungsgericht ohne Erfolg (MANNSCHAFT berichtete). Dazu ein Gastbeitrag* von Sven Bäring.
Bäring ist seit 2019 Vorsitzender des Vereins QueerBW, der Interessenvertretung der lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans-, inter- und andersgeschlechtlichen Angehörigen der Bundeswehr. Biefang ist seine Stellvertreterin.
Ich erinnere mich sehr gut an den September 2022. Drei Jahre nachdem Anastasia für ihre Privatleben von ihrem Vorgesetzten verurteilt wurde, warteten wir auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts.
2019 hatte die damalige Kommandeurin ein Profil bei Tinder. «Ana, 45, Spontan, lustvoll, trans*, offene Beziehung auf der Suche nach Sex. All genders welcome» war die Kurzbeschreibung. Ihr Vorgesetzter sah das Ansehen der Bundeswehr beschädigt. Im Laufe der Verfahren fielen Phrasen, wie «Eindruck, dass die Soldatin wahllosen Geschlechtsverkehr habe und sich selbst , aber auch ihre Partner, zu reinen Sexobjekten reduziere».
Die moralische Integrität einer Führungskraft, die zu dieser Zeit schon 28 Jahre im Dienst der Bundeswehr treu gedient hatte, wurde in Frage gestellt. Drei Zeilen und der Wunsch nach einem zwanglosen Sexleben wiegen offenbar genauso viele Einsätze, diverse Ehrenzeichen und exzellente Beurteilungen auf.
Zurück ins Jahr 2022: Die Enttäuschung war riesig. Zwar zerlegte das Bundesverwaltungsgericht auf fast 20 Seiten das gesamte bisherige Verfahren, die fehlende Rechteabwägung und Urteilsfindung, aber unterm Strich bleibt’s dabei: Der Verweis – das mildeste Mittel des Disziplinarrechts – besteht. Ana wurde für ein privates Tinderprofil verurteilt.
Ich stellte damals in Frage, ob die Bundeswehr für mich persönlich ein Arbeitgeber für den Rest meines Lebens sein kann. Ich bin Soldat mit viel Herzblut, aber will ich jemals in eine Situation kommen, in der ich weiss: Aber der nächsten Beförderung darf ich nicht mehr Ich sein.
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts begleitet unsere Arbeit bei QueerBw – der Interessenvertretung queerer Angehöriger der Bundeswehr – noch immer. Erst letzten Monat meldete sich ein Bewerber bei uns. Er sei auf die mediale Berichterstattung um das Urteil aufmerksam gekommen. Er hat bald einen Termin im Karrierecenter für eine mögliche Einstellung. Nun fragt er sich: Will die Bundeswehr mich überhaupt? Er ist bisexuell, in einer festen Beziehung. Aber es ist eben eine offene Beziehung. Geht das? Die Bundeswehr hat sich doch so bemüht öffentlich Anastasia zu verurteilen.
In meinen Augen hat die Bundeswehr mit diesem Urteil die Öffentlichkeitsarbeit von mehreren Jahren zerstört. Sie hätte immer wieder im Verfahren einlenken können. Das tat sie nicht. Selbst wenn die Einsicht da war, war der Stolz grösser.
Und die Einsicht war offensichtlich da. Nach dem Urteil passte die Bundeswehr die Vorschriftenlage an. Nun gibt es sogar Anwendungbeispiele darin. Das zweite Beispiel ist: «Bataillonskommandeur Z veröffentlicht im Internet eine Kontaktanzeige unter anderem mit dem Wunsch nach Ausübung von Geschlechtsverkehr, dabei erfolgt keinerlei Hinweis auf die Zugehörigkeit der Bundeswehr».
Die Bewertung lautet, dass dies kein Dienstvergehen sei. Die Erkenntnis, dass man dieses Verhalten nicht verurteilen wollen, hätte vielleicht gereicht, damit eine verdiente Soldat*in nicht verurteilt worden wäre.
Noch am Tag des Urteils klingelt mein Telefon. Es melden sich Anwälte, die gerne vor das Bundesverfassungsgericht ziehen wollen. Andere melden sich per E-Mail. Anastasia fasst den Entschluss, dass sie das Urteil nicht akzeptieren. «Wir gehen nach Karlsruhe.»
Die Erwartungshaltung war klar. «Karlsruhe» wird das Recht auf Selbstbestimmung und Freiheit schützen. Drei Jahre haben wir seitdem gewartet. Am Mittwoch erklärte das Bundesverfassungsgericht, es habe die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, weil der Verweis bereits getilgt wurde. Disziplinarmassnahmen werden nach drei Jahren «getilgt». Sie dürfen dann nicht mehr genutzt werden.
Umgangssprachlich könnte man sagen, dass sie ausradiert werden. Aber wir alle kennen dieses Stück Papier, auf dem eine Notiz wegradiert wurde. Leicht gräulich – man könnte beschmutzt sagen, und wer sich Mühe gibt, wird weiterhin lesen können, was da mal stand. Eine getilgte Disziplinarmassnahme ist ähnlich. Auf der «Akte Biefang» – mittlerweile 31 Jahre Dienst, Einsätze, Ehrenzeichen – ist dieser radierte Fleck. Es ging als nur bedingt um den Verweis an sich, sondern viel mehr um den Umgang der Bundeswehr mit einer Offizier*in, die vielleicht nicht ganz in das klassische Bild einer Soldat*in passt. Der Eingriff der Bundeswehr in das Privatleben eines Menschen.
Das Bundesverfassungsgericht hat heute die Hintertür genommen. Es ist der Entscheidung entflohen.
Aber hat Ana jetzt verloren? Der erste Reflex sagt ja. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht in unserem Sinne entschieden. Wer Anastasia kennt, weiss, dass es ihr eben aber nicht um den Verweis geht. Ihr geht es um die nächste Person, die gleiches durchleben müsste.
Die Vorschrift ist angepasst. Zukünftig können Soldat*innen nicht aufgrund ihres privaten Datingprofils von ihrem Arbeitgeber gemassregelt werden. Das ist der Sieg, den wir gesucht haben. Die Bundeswehr ist wieder einen Schritt Richtung zukunft gegangen.
Ana, du hast gewonnen!
*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
Wer seine trans Identität offen leben will, soll das US-Militär verlassen - so gebietet es Präsident Donald Trump. Eine Richterin hält dieses Vorgehen für verfassungswidrig und findet deutliche Worte (MANNSCHAFT berichtete).
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