Trans Identität, Brust-OP, Sportsucht – Die 1920er im Museum
Grosse Ausstellung in der Bundeskunsthalle
Die 1920er Jahre dienen schon lange als Spiegel der Gegenwart. Eine Ausstellung in der Bundeskunsthalle dokumentiert jetzt Parallelen, die bisher noch nicht so im Fokus standen.
Von Christoph Driessen, dpa
Eine grosse Ausstellung in der Bundeskunsthalle in Bonn lässt das legendäre Jahrzehnt jetzt wiederaufleben. Gerade für Deutsche zaubern die «Goldenen 20er Jahre» sofort ein ganzes Panorama von Bildern vors Auge: Varieté-Shows und verruchte Nachtclubs, Weltstadtflair und Avantgardekunst, Marlene Dietrich und «Der Zauberberg». Die Schau in Bonn – Titel: «1920er! Im Kaleidoskop der Moderne» – will jedoch bewusst nicht auf der «Babylon Berlin»-Welle mitschwimmen, sondern richtet den Blick auch auf andere Metropolen. «20er Jahre ist nicht nur Berlin», sagt Kuratorin Agnieszka Lulinska.
«Es gibt wirklich überall Parallelen», erzählt sie der Deutschen Presse-Agentur. Beispiel: Pandemie. Von 1918 bis 1920 wütete die Spanische Grippe und kostete bis zu 50 Millionen Menschen das Leben. Zu den Opfern gehörte das Maler-Genie Egon Schiele. Edvard Munch («Der Schrei») überlebte, doch ein Selbstporträt von 1919 zeigt ihn vorzeitig gealtert.
Eine weitere verblüffende Gemeinsamkeit ist eine bis dahin nie da gewesene Fixierung auf das Äussere und auf körperliche Fitness. Viele sahen die Selbstoptimierung wohl als den einzigen Weg, sich in der anonymen Massengesellschaft noch als Individuum zu behaupten. Auf dem Weg zum Idealkörper verfielen manche einer regelrechten Sportsucht.
Auch der «Boob Job» – die kosmetische Brustoperation – war schon verbreitet. Entwickelt hatten sich die Schönheits-OPs aus der Behandlung von schwer entstellten Weltkriegsveteranen. Nachdem die Mediziner damit durch waren, erschlossen sie sich einen neuen Markt und boten ästhetische Chirurgie für die besser Verdienenden an. «Nase, Ohren, Brüste, Po – alles wurde gemacht», so Lulinska. Bewegliche Prothesen für eingebüsste Hände und Füsse, Arme und Beine Tausender Kriegsinvaliden weckte ein Interesse an Maschinenmenschen, das sich auf Kunst und Film übertrug. Der Gedanke dahinter: Beides verschmilzt für eine bessere Welt.
Die vielleicht grössten Veränderungen brachten die 20er Jahre aber für die Frauen. «Es ist wirklich das Jahrzehnt der Frau», schwärmt Lulinska. «Die Frau raucht, die Frau fährt Auto, die Frau boxt.» Das «working girl» wurde zur Adressatin von Auto- und Zigarettenwerbung und provozierte die Männerwelt mit androgynem Chic. Eine Revolution leitete der in Paris erfundene Kurzhaarschnitt ein, der in Deutschland als «Bubikopf» bekannt wurde. Lulinska: «Es gibt eine Gerichtsakte aus Paris, da klagt ein Mann gegen seine Frau, weil sie sich die Haare abgeschnitten hat. Das ist nicht mehr die, die er geheiratet hat. Und das Gericht hat ihm recht gegeben.»
Zumindest in den Grossstädten entwickelten damals viele Menschen auch eine freiere Einstellung zur Sexualität. In Berlin wurde mit dem weltweit ersten Institut für Sexualwissenschaft eine Anlaufstelle für Menschen aller Geschlechter etabliert. Trans Pionierin Einar Wegener unterzog sich sogar geschlechtsangleichenden Operationen und erhielt von den dänischen Behörden einen neuen Pass auf den Namen «Lili Elbe». Sie starb in Dresden, nachdem die vierte Operation zu Komplikationen geführt hatte. Ihr Leben wurde in Hollywood verfilmt (MANNSCHAFT berichtete).
Eine grosse Rolle spielten auch Drogen. «Kokain ist die Droge der Zeit», so Lulinska. Im Krieg hatten Drogen die Soldaten vor der Schlacht stimuliert und sie das Elend der Schützengräben kurzzeitig vergessen lassen. Die Überlebenden nahmen die Rauschmittel mit ins Zivilleben.
All das wurde von einer überbordenden Bilderflut begleitet. Denn das Aufkommen der Kleinbildkamera begründete die Omnipräsenz der Fotografie in der Öffentlichkeit. Die vielen neuen Techniken begeisterten aber nicht nur – viele Menschen fühlten sich davon auch verunsichert. Auf der Suche nach einfachen Antworten wandten sie sich politischen Extremen zu – es war der Anfang vom Ende der «Goldenen 20er Jahre».
Zu den ausgestellten Werken gehören auch Aufnahmen der lesbischen Fotografin Claude Cahun und das Gemälde «Fussall» des russischen Malers Alexander Deineka. Die Ausstellung «1920er! Im Kaleidoskop der Moderne» öffnet an diesem Samstag und bleibt bis zum 30. Juli geöffnet.
Viva la Vulva: Es war einmal ein Vagina Museum – das immer wieder ein neues Zuhause suchen musste. Beobachterinnen halten das für sinnbildlich für Sexualität und Feminismus in der Welt der Museen. Dabei mangelt es nicht an Bedarf (MANNSCHAFT berichtete).
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